Erster Brief
Vom 20. März 1754
Ja, mein Herr, die Nachricht ist gegründet; Herr Mylius ist zwischen den 6ten und 7ten dieses in London gestorben. Ich nehme Ihr Beileid, welches Sie mir in diesem Falle bezeugen wollen, an. Sie kennen mich zu wohl, als daß Sie mir bei diesem Verluste nicht alle die Empfindlichkeit zutrauen sollten, deren ein zur Freundschaft gemachtes Herz fähig ist. Es macht einen ganz besondern Eindruck auf mich, ihn nunmehr in einer Welt zu wissen, die etwas mehr und etwas anders als die See, von der unsrigen trennet. Die Art, mit welcher ich von ihm Abschied nahm, war eine Beurlaubung auf einige flüchtige Tage, und kein Abschied, so gewiß bildete ich mir ein, ihn wieder zu sehen. Ich spottete über die, welche ihm gar zu gern das Herz schwer gemacht hätten.
So redete ich ihn in einem kleinen Gedichte, noch wenige Tage vor seiner Abreise, an. Aber ach, die Vermutung dieser feigen Toren ist richtiger gewesen, als meine Hoffnung! Und gleichwohl war sie auf die Kenntnis seines Körpers, den ich nie einer merklichen Unbäßlichkeit unterworfen gesehen hatte, und auf das Urteil erfahrner Leute gebauet, welche eben die Reisen getan hatten, die er zu tun Willens war, und die darauf schworen, daß er das vollkommne Ansehen eines guten Seefahrers habe. Sagen Sie mir, möchte man nicht die Lust verlieren, sich auf irgend etwas schmeichelhaftes, das noch nicht gänzlich in unserer Gewalt ist, mehr Rechnung zu [527] machen? Wäre es nicht besser, wenn man auf gut stoisch in den Tag hinein lebte, und das Künftige das für uns sein ließe, was es in der Tat ist; nichts? – – Zwar die Herren, welche ihm den Tod prophezeiten, haben doch nicht recht prophezeit, obgleich dasjenige, was sie prophezeiten, eingetroffen ist. Die See und Amerika war das, wofür er sich fürchten sollte; England war es nicht. Eine Reise nur von etliche tausend Meilen sollte ihm tödlich sein; und ich kann noch immer behaupten, daß sie es ihm nicht würde gewesen sein, wenn er nichtvorher gestorben wäre – – So viel ist gewiß, er hat sie nicht tun sollen. Wenn ich von den allweisen Einrichtungen der Vorsehung weniger ehrerbietig zu reden gewohnt wäre, so würde ich keck sagen, daß ein gewisses neidisches Geschick über die deutschen Genies, welche ihrem Vaterlande Ehre machen könnten, zu herrschen scheine. Wie viele derselben fallen in ihrer Blüte dahin! Sie sterben reich an Entwürfen, und schwanger mit Gedanken, denen zu ihrer Größe nichts als die Ausführung fehlt. Sollte es aber wohl schwer sein, eine natürliche Ursache hiervon anzugeben? Wahrhaftig sie ist so klar, daß sie nur derjenige nicht sieht, der sie nicht sehen will. Nehmen Sie an, mein Herr, daß ein solches Genie, in einem gewissen Stande geboren wird, der, ich will nicht sagen, der elendeste, sondern nur zu mittelmäßig ist, als daß er noch zu der sogenannten güldnen Mittelmäßigkeit zu rechnen wäre. Und Sie wissen wohl, die Natur hat einen Wohlgefallen daran, aus eben diesem immer mehr große Geister hervor zu bringen, als aus irgend einem andern. Nun überlegen Sie, was für Schwierigkeiten dieses Genie, in einem Lande als Deutschland, wo fast alle Arten von Ermunterungen unbekannt sind, zu übersteigen habe. Bald wird es von dem Mangel der nötigsten Hülfsmittel zurück gehalten; bald von dem Neide, welcher die Verdienste auch schon in ihrer Wiege verfolgt, unterdrückt; bald in mühsamen und seiner unwürdigen Geschäften entkräftet. Ist es ein Wunder, daß es nach aufgeopferten Jugendkräften dem ersten starken Sturme unterliegt? Ist es ein Wunder, daß Armut, Ärgernis, Kränkung, Verachtung endlich über einen Körper siegen, der ohnedem schon der stärkste nicht ist, weil er kein Körper [528] eines Holzhackers werden sollte? Und glauben Sie mir, mein Herr, in diesem Falle war unser Mylius, oder es ist nie einer darinne gewesen. Er ward in einem Dorfe geboren, wo er gar bald mehr lernen wollte, als man ihn daselbst lehren konnte. Er ward von Ältern geboren, deren Vermögen es nicht zuließ, ihn aus einer andern Ursache studieren zu lassen, als daß er einmal, nach der Weise seiner Väter, von einer geschwind erlernten Brodwissenschaft leben könne. Er kam auf eine Schule, die ihn kaum zu dieser Brodwissenschaft vorbereiten konnte. Er kam auf eine Akademie, wo man beinahe nichts so zeitig lernt, als ein Schriftsteller zu werden. Er fiel einem Manne in die Hände, welcher durch Wohltaten manchen jungen Witzling zu seinem Vorfechter zu machen wußte. Er besaß eine natürliche Leichtigkeit zu reimen, und seine Umstände zwangen ihn, sich diese Leichtigkeit mehr zu Nutze zu machen, als es dem Vorsatze ein Dichter zu werden zuträglich ist. Er schrieb, und die grausame Verbindlichkeit, daß er viel schreiben mußte, raubte ihm die Zeit, die er seiner liebsten Wissenschaft, der Kenntnis der Natur, mit bessern Nutzen hätte weihen können. Er verließ endlich die Akademie, und begab sich an einen Ort, wo es ihm mit seiner Gelehrsamkeit beinahe wie denjenigen ging, die von dem, was sie einmal erworben haben, zehren müssen, ohne etwas mehrers dazu verdienen zu können. Nach einiger Zeit ward er zu einem Unternehmen für tüchtig erkannt, von welchem einige Leute sagten, daß man sich nur aus Verzweiflung dazu könne brauchen lassen. Er wollte und sollte reisen; er reisete auch, allein er reisete auf fremder Leute Gnade; und was folgt auf fremder Leute Gnade? Er starb. – – Ja, mein Herr, das ist sein Lebenslauf. Ein Lebenslauf, ohne Zweifel, in welchem das Ende das unglücklichste nicht ist. Und doch behaupte ich, daß er mehr darinne geleistet hat, als tausend andere in seinen Umständen nicht würden geleistet haben. Der Tod hat ihn früh, aber nicht so früh überrascht, daß er keinen Teil seines Namens vor ihm in Sicherheit hätte bringen können. Hiermit tröste ich mich noch; noch mehr aber mit der gewissen Überzeugung, daß er in einer vollkommen philosophischen Gleichgültigkeit wird gestorben sein. Seine Meinungen, [529] die er von dem Zustande der abgeschiedenen Seelen hatte, 1 haben es nicht anders zulassen können. Es ist wahr, er ward in einem großen Vorhaben gestört, aber nicht so, daß er es ganz und gar hätte aufgeben dürfen. Sein Eifer, die Werke der Allmacht näher kennen zu lernen, trieb ihn aus seinem Vaterlande. Und eben dieser Eifer führt seine entbundene Seele nunmehr von einem Planeten auf den andern, aus einem Weltgebäude in das andre. Er gewinnet im Verlieren, und ist vielleicht eben jetzt beschäftiget mit erleuchteten Augen zu untersuchen, ob Newton glücklich geraten, und Bradley genau gemessen habe. Eine augenblickliche Veränderung hat ihn vielleicht Männern gleich gemacht, die er hier nicht genug bewundern konnte. Er weiß ohne Zweifel schon mehr, als er jemals auf der Welt hätte begreifen können. Alles dieses hat er sich in seinem letzten Augenblicke gewiß zum voraus vorgestellt, und diese Vorstellungen haben ihn beruhiget, oder es sind keine Vorstellungen fähig, einen sterbenden Philosophen zu beruhigen – – Ich will aufhören, Sie mit diesen traurigangenehmen Ideen zu beschäftigen. Ich will aufhören, um mich ihnen desto lebhafter überlassen zu können. Es ist bereits Mitternacht, und die herrschende Stille ladet mich dazu ein. Leben Sie wohl.