XIII. Die Brille

Dem alten Freiherrn von Chrysant,
Wagts Amor, einen Streich zu spielen.
Für einen Hagestolz bekannt,
Fing, um die Sechzig, er sich wieder an zu fühlen.
Es flatterte, von Alt und Jung begafft,
Mit Reizen ganz besondrer Kraft,
Ein Bürgermädchen in der Nachbarschaft.
Dies Bürgermädchen hieß Finette.
[213]
Finette ward des Freiherrn Siegerin.
Ihr Bild stand mit ihm auf, und ging mit ihm zu Bette.
Da dacht' in seinem Sinn
Der Freiherr: »Und warum denn nur ihr Bild?
Ihr Bild, das zwar den Kopf, doch nicht die Arme füllt?
Sie selbst steh' mit mir auf, und geh' mit mir zu Bette.
Sie werde meine Frau! Es schelte, wer da schilt;
Genäd'ge Tant' und Nicht' und Schwägerin!
Finett' ist meine Frau, und - ihre Dienerin.«
Schon so gewiß? Man wird es hören.
Der Freiherr kömmt, sich zu erklären,
Ergreift das Mädchen bei der Hand,
Tut, wie ein Freiherr, ganz bekannt,
Und spricht: »Ich, Freiherr von Chrysant,
Ich habe Sie, mein Kind, zu meiner Frau ersehen.
Sie wird sich hoffentlich nicht selbst im Lichte stehen.
Ich habe Guts die Hüll' und Fülle.«
Und hierauf las er ihr, durch eine große Brille
Von einem großen Zettel ab,
Wie viel ihm Gott an Gütern gab;
Wie reich er sie beschenken wolle;
Welch großen Witwenschatz sie einmal haben solle.
Dies alles las der reiche Mann
Ihr von dem Zettel ab, und guckte durch die Brille
Bei jedem Punkte sie begierig an.
»Nun, Kind, was ist Ihr Wille?«
Mit diesen Worten schwieg der Freiherr stille,
Und nahm mit diesen Worten seine Brille -
(Denn, dacht' er, wird das Mädchen nun
So wie ein kluges Mädchen tun;
Wird mich und sie ihr schnelles Ja beglücken;
Werd' ich den ersten Kuß auf ihre Lippen drücken:
So könnt' ich, im Entzücken,
Die teure Brille leicht zerknicken!) -
Die teure Brille wohlbedächtig ab.
[214]
Finette, der dies Zeit sich zu bedenken gab,
Bedachte sich, und sprach nach reiflichem Bedenken:
»Sie sprechen, gnäd'ger Herr, vom Freien und vom Schenken:
Ach! gnäd'ger Herr, das alles wär' sehr schön!
Ich würd' in Sammt und Seide gehn -
Was gehn? Ich würde nicht mehr gehn;
Ich würde stolz mit Sechsen fahren.
Mir würden ganze Scharen
Von Dienern zu Gebote stehn.
Ach! wie gesagt, das alles wär' sehr schön,
Wenn ich - wenn ich - -«
»Ein Wenn? Ich will doch sehn,
(Hier sahe man den alten Herrn sich blähn,)
Was für ein Wenn mir kann im Wege stehn!«
»Wenn ich nur nicht verschworen hätte - -«
»Verschworen? was? Finette,
Verschworen nicht zu frein? -
O Grille, rief der Freiherr, Grille!«
Und griff nach seiner Brille,
Und nahm das Mädchen durch die Brille
Nochmals in Augenschein,
Und rief beständig: »Grille! Grille!
Verschworen nicht zu frein!«
»Behüte!« sprach Finette,
»Verschworen nur mir keinen Mann zu frein,
Der so, wie Ihre Gnaden pflegt,
Die Augen in der Tasche trägt!«

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TextGrid Repository (2012). Lessing, Gotthold Ephraim. Fabeln. Fabeln und Erzählungen (Ausgabe 1771). 13. Die Brille. 13. Die Brille. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E836-F