Gotthold Ephraim Lessing
Fabeln
[Nachlese]

Der Riese

Ein rebellischer Riese schoß seinen vergifteten Pfeil über sich in den Himmel, niemand Geringerm, als einem Gott, das Leben damit zu rauben. Der Pfeil floh in die unermessenste Ferne, in welcher ihm auch der schärfere Blick des Riesens nicht folgen konnte. Schon glaubte der Rasende sein Ziel getroffen zu haben, und fing an, ein gotteslästerliches Triumphlied zu jauchzen. Endlich aber gebrach dem Pfeile die mitgeteilte Kraft der schnellenden Senne; er fiel mit einer stets wachsenden Wucht wieder herab, und tötete seinen frevelnden Schützen.

Unsinnige Spötter der Religion, eure Zungenpfeile fallen weit unter ihrem ewigen Throne wieder zurück; und eure eigne Lästerungen sind es, die sie an euch rächen werden.

Der Falke

Des einen Glück ist in der Welt des andern Unglück. Eine alte Wahrheit, wird man sagen. Die aber, antworte ich, wichtig genug ist, daß man sie mit einer neuen Fabel erläutert.

Ein blutgieriger Falke schoß einem unschuldigen Taubenpaare nach, die sein Anblick eben in den vertrautesten Kennzeichen der Liebe gestört hatte. Schon war er ihnen so nah, daß alle Rettung unmöglich schien; schon gurrten sich die zärtlichen Freunde ihren Abschied zu. Doch schnell wirft der Falke einen Blick aus der Höhe, und wird unter sich einen Hasen gewahr. Er vergaß die Tauben; stürzte sich herab, und machte diesen zu seiner bessern Beute.

[272]

Damon und Theodor

Der schwarze Himmel drohte der Welt den fürchterlichsten Beschluß des schönsten Sommertages. Noch ruhten Damon und Theodor unter einer kühlenden Laube; zwei Freunde, die der Welt ein rares Beispiel würden gewesen sein, wenn sie die Welt zum Zeugen ihrer Freundschaft gebraucht hätten. Einer fand in des andern Umarmungen, was der Himmel nur die Tugendhaften finden läßt. Ihre Seelen vermischten sich durch die zärtlichsten Gespräche, in welchen sich Scherz und Ernst unzertrennlich verknüpften. Der Donner rollte stürmisch in der Luft, und beugte die Knie heuchlerischer Knechte. Was aber hat die Tugend zu fürchten, wenn Gott den Lasterhaften drohet? Damon und Theodor blieben geruhig – – – Doch schnell stand in dem Damon ein fürchterlicher Gedanke auf: wie wann ein solcher Schlag mir meinen Freund von der Seite risse? – – So schnell als dieser Gedanke sein Herz mit Schrecken übergoß, und die Heuterkeit aus seinen Blicken vertilgte; so schnell sah er ihn – – unerforschliches Schicksal! – – wahr gemacht. Theodor fiel tod zu seinen Füßen, und der Blitz kehrte triumphierend zurück. Rechte des Donnergottes, schrie Damon, wenn du auf mich gezielt hast, so hast du mich nur allzuwohl getroffen. Er zog sein Schwerd aus, und verschied auf seinem Freunde.

Zärtliche Seelen, werdet ihr dieser Geschichte eine heilige Träne zollen? Weinet, und empfindet in eurer lebhaften Vorstellung die Süßigkeit mit einem Freunde zu sterben.

Der Schäferstab

Schön war der Schäferstab des jungen Daphnis; von Zypressen war der schlanke Stab; der krönende Knopf, Oleaster.

Und o, was für Wunder hatte der ätolische Künstler, um [273] den Knopf geschnitzt; Daphnis gab ihm dafür drei Lämmer mit ihren säugenden Müttern, aber er war eine Herde, mehr als eine ganze Herde wert.

So wert hielt ihn auch Daphnis; werter, wie seine zwei Augen; werter, als Polyphem sein einziges Auge.

Lange Zeit schien ihm keine Hirtin so schön, als sein Stab. Aber Amor erzürnte über den eiteln Jüngling – und Daphnis sahe die lächelnde Corysia.

Nun schien ihm eine Hirtin schöner als sein Stab! Er staunte, wünschte, gestand, flehte, weinte – blieb unerhört.

Unerhört bis an den dritten Abend. Da trieb Corysia spät bei ihm vorbei; die Dämmerung machte den Hirten kühner, die Hirtin gefälliger; er verdankte der Dämmerung zwei Küsse, halb geraubte, halb gegebene Küsse! – O der Entzückung! o der tobenden Freude des Hirten!

O Zwillinge der honigsüßen Lippen meiner Corysia! o unvergeßliche Küsse! So rief Daphnis und wollte ihre Zahl mit zwei tiefen Kerben in die junge Linde schneiden, die er vor allen am heiligen Quell liebte.

Aber – fragte sich der Hirte – Warum in die Linde? Kann ich immer unter der Linde liegen, und die Kerbe im Auge haben? Da steht sie fest und eingewurzelt, bestimmt nur einen kleinen Umfang zu beschließen. – Sie kann nicht mit mir wohnen.

Aber mein Stab kann mit mir gehn – Mein schöner Stab so schöner Zeichen nicht unwürdig!

Und er schnitt – grausamer Hirt! – zwei tiefe Kerbe in den Stab, in der Form von Lippen, nahe unter dem Knopfe, wo die Hand gewöhnlich lag, und küßte und drückte den Ort, als ob es die weiche Hand der Corysia wäre, und faßte von nun an den Stab nirgends als über die Kerbe.

Nicht wenig günstig war dem Daphnis der folgende Tag, und der Stab bekam drei Lippen mehr; und den Morgen darauf sieben.

Wie freue ich mich, sprach er, dich bald vollendet zu sehen, bald voller kleiner Lippen. Corysia habe ich mit Untergang der Sonne in den Hain bestellt, die Nachtigall mit ihr zu hören – –

[274] Das hast du getan Corysia? Zu gefällige Corysia! o brich dein Wort, wenn dir dein Schäfer lieb ist –

Umsonst sie fanden sich im Haine! Und o der unzählichen Zahl von Küssen! Jeden Ton der Nachtigall begleitete ein Kuß. Mich jammert der Stab –

Gesättigt trennt sich mein Paar – – Morgen, sind wir doch wieder hier? sagte das Mädchen – und der Hirte ging und warf sich auf sein Lager von Fellen – – Er schläft, er erwacht. – Und was wird das erste sein, als seinen Stab zu kerben? – – Doch er sahe die Unmöglichkeit, sie alle zu merken – und diese Unmöglichkeit, alle Küsse zu behalten, verwundete sie – Daphnis sprach kaltsinnig, Schade, daß ich den schönen Stab so verdorben, ich will ihn nicht weiter verderben –

Der Naturalist

Ein Mann, der das Namenregister der Natur vollkommen inne hatte, jede Pflanze, und jedes dieser Pflanze eigenes Insekt zu nennen, und auf mehr als eine Art zu nennen wußte; der den ganzen Tag Steine auflas, Schmetterlingen nachlief, und seine Beute mit einer recht gelehrten Unempfindlichkeit spießte; so ein Mann, ein Naturalist – – (sie hören es gern, wenn man sie Naturforscher nennt) durchjagte den Wald, und verweilte sich endlich bei einem Ameisehaufen. Er fing an darin zu wühlen, durchsuchte ihren eingesammelten Vorrat, betrachtete ihre Eier, deren er einige unter seine Mikroskope legte, und richtete, mit einem Worte, in diesem Staate der Emsigkeit und Vorsicht, keine geringe Verwüstung an.

Unterdessen wagte es eine Ameise, ihn anzureden. Bist du nicht etwa gar, sprach sie, einer von den Faulen, die Salomo zu uns schickt, daß sie unsre Weise sehen, und von uns Fleiß und Arbeit lernen sollen?

Die alberne Ameise; einen Naturalisten für einen Faulen anzusehen.

[275]

Der Wolf und das Schaf

Der Durst trieb ein Schaf an den Fluß; eine gleiche Ursache führte auf der andern Seite einen Wolf herzu. Durch die Drennung des Wassers gesichert und durch die Sicherheit höhnisch gemacht, rief das Schaf dem Räuber hinüber: »ich mache dir doch das Wasser nicht trübe, Herr Wolf? Sieh mich recht an; habe ich dir nicht etwa vor sechs Wochen nachgeschimpft? Wenigstens wird es mein Vater gewesen sein.« Der Wolf verstand die Spötterei; er betrachtete die Breite des Flusses und knirschte mit den Zähnen. Es ist dein Glück, antwortete er, daß wir Wölfe gewohnt sind, mit euch Schafen Geduld zu haben; und ging mit stolzen Schritten weiter.

[Nachahmung der 158. Fabel des Aesop]

Ich bin zu einer unglücklichen Stunde geboren! so klagte ein junger Fuchs einem alten. Fast keiner von meinen Anschlägen will mir gelingen. – Deine Anschläge, sagte der ältere Fuchs, werden ohne Zweifel danach sein. Laß doch hören; wenn machst du deine Anschläge? – Wenn ich sie mache? Wenn anders, als wenn mich hungert – – Wenn dich hungert? fuhr der alte Fuchs fort. Ja, da haben wir es! Hunger und Überlegung sind nie beisammen. Mache sie künftig wenn du satt bist, und sie werden besser ausfallen.


Notes
Die Nachlese umfaßt Prosafabeln, die Lessing nicht in die Sammlung von 1759 aufnahm sowie Fabeln, die erst aus dem Nachlaß veröffentlicht wurden.
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TextGrid Repository (2012). Lessing, Gotthold Ephraim. Fabeln (Nachlese). Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E9A9-3