[68] Zwei Welten

Ein langgeführtes hohes goldnes Gitter,
Mit kunstgeformten Spitzen dehnt sich weit
In grader Linie aus nach Nord und Süd.
Ein Rasen, englisch zugestutzt, begleitet
Die eine Seite. Und auf dieser Seite,
An einer Stelle, fünfzig Schritt entfernt,
Erhebt ein Hügel sich, auf dem ein kleiner,
Von Säulen, zehn, getragner Tempel prunkt.
Vor diesem Tempel, den ein dunkler Wald
Von Eichen, Buchen, Tannen hinten deckt,
Sitzt nachlässig im roten Sammetsessel,
Im Schatten des Gehölzes, die Prinzeß.
Wie jung ist sie! Den rechten Arm, von dem
Der Ärmel fiel bis auf den Ellenbogen,
Hat sie gehoben, und die Augen folgen,
Mit kindlichem Gelächter, einem Zeisig,
Den grausam ihre Hand am Seidenfaden
Vergeblich Freiheit suchend flattern läßt.
Zwei Ritter, ohne Bart, in grauem Eisen,
Mit seitwärts eingerammten Lanzen, hüten,
Gegossen wie aus Erz, das schöne Fräulein,
Daß keiner ihrem Thron zu nahe trete.
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Sie starren trotzig, unbewegten Blickes,
Aus offenem Visir. Ringsum die Stille
Des sonnenheißen Sommernachmittags,
Die nur zuweilen unterbrochen wird,
Wenn sich im leisen Wind die Kronen mischen,
Die wipfelflüsternd an den Tempel grenzen.
Vor jenem Tempel liegt ein breiter Sumpf,
Den selbst die fürchterliche Hitze nicht
Getrocknet hat. In seinem Schlick und Schlamm,
Gradüber der Prinzessin, schläft ein Drache.
Halb Krokodil, halb Schlange, neunmal wohl
So lang wie eines Elephanten Länge,
Zeigt sich an seinem Haupt, das er allein
Aus Torf und Tümpel reglos streckt, ein Horn,
Gebogen wie beim Stier; und rechts und links
Von diesem wurzeln kleine Pferdeohren;
Und schnabelartig, bis zu sechzig Metern,
Ragt vor sein Rachen, der geschlossen ist.
Rings um der Ohren Außenseite sitzen,
An jedem zwölf, die Augen. Ganz bedeckt
Das trübe schwarze Wasser seinen Leib.
Und durch das Schweigen tönt ein Tubaton.
Das Ungetüm schläft unbekümmert weiter.
Die beiden Ritter rücken nicht den Kopf.
Nur die Prinzessin wendet lebhaft sich
Dahin, woher der Schall gekommen ist.
Und höchst lebendig wird's um ihren Stuhl:
Hoffräulein, Pagen, Kammerherrn, Minister
Umgeben wimmelnd ehrfurchtsvoll den Sessel.
Ganz ferne klingt die türkische Trommel her,
Nun mischt sich schon der Beckenschlag dazwischen,
Und näher, immer näher kommt Musik.
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Die Wachtparade ist's. Ein schmucker Lieutenant
Ruft gellend durch den Höllenlärm: »Nicht euch«,
Und senkt den Degen. Hundert stramme Jungen
Marschieren stampfend der Prinzeß vorbei,
Die blanken Helme scharf zu ihr gewendet.
Und schwächer, immer schwächer hallt es her.
Das Ungetüm schlief unbekümmert weiter.
Nun folgen Gaukler, die mit Tellern spielen
– Und alles rasch im Vorwärtsziehen nur –
Und Messer auf den Lippen schweben lassen.
Kameele dann und angeschirrte Panther.
Darauf ein kecker Amazonenzug.
Ununterbrochen, eine volle Stunde
Wirbelt's so weiter: Tanz und Mummenschanz,
Der Araber Fantasia macht Schluß:
Sie sprengen blitzschnell, die Gewehre werfend,
Auf flittertandgeschmückten Berberhengsten
Mit wilden Rufen der Prinzeß vorbei.
Und eine tiefe Stille kommt gezogen.
Das Untier schläft noch immer unbekümmert.
Das Kind auf seinem roten Sammetsessel,
Verlangt nach einer Scheere und zerschneidet
Mit Emsigkeit das Band des Vögelchens,
Das zwitschernd auf zum blauen Himmel strebt.
Entlassen ist der Dienst, die Ritter nur
Bewachen nach wie vor den Marmorstuhl.
Was nun? Das süße Mädchen wirft, belustigt,
Gut zielend, Apfelsinen nach dem Drachen,
Und trifft ihn auch; doch reizt und rührt's ihn nicht.
Da plötzlich dringt ein feiner Sphärenklang,
Sanft wie Schalmei und zart wie Flötenschmeicheln,
Woher?
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Doch sind es Flöten und Schalmeien nicht.
Musik, wie nirgends noch gehört auf Erden,
Klingt irgendwo ... Unruhig wird der Krake,
Er hebt den Schnabel hoch und schnuppert
Am goldnen Gitter; und ein einzig Zucken
Des Ungeheuers wühlt den Sudel auf
Und schleudert Pfützenspritzer in die Luft.
Es kriecht hervor, und auf den Vogelfüßen,
Die, dreißig, ihm, mit Schwimmhäuten versehn,
Am Bauche haften, hebt's sich wütend jetzt
Und tobt, des Gatters Stäbe mächtig rüttelnd,
– Der ekle Boden klackt vom Leib ihm ab –
Und schnuppert, wieder, nach den Sternen nun,
Die, trotz der Helle, klar zu sehen sind.
Besuch vom Sirius naht; ihn wittert schon
Das Ungetüm, das auch vom Sirius stammt.
Das Gitter schwindet, schwand; und eine Landschaft,
Von zwanzig Monden violett beschienen,
Zeigt sich auf einer fernen, fremden Welt.
Die Monde löschen aus. Und Finsternis.
In matten ginstergelben Farben kommt
Die Dämmerung. Ein schmaler, langgestreckter,
Von schroffen Felsen eingeengter See
Ruht in der Morgenfrühe ohne Laut.
Durch seine Längenrichtung schwimmt der Krake,
Wie eine Riesenschlange, ab und zu
Den Schuppenrücken krümmend fortbewegend;
Kein Plätschern stört die ungeheure Stille.

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TextGrid Repository (2012). Liliencron, Detlev von. Gedichte. Haidegänger. Zwei Welten. Zwei Welten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-ED7F-1