[59] Verstossen

Was mir gestern mein Freund erzählt,
Hat mich bis in den Traum gequält.
Die Welt ist so roh, ich versteh' sie nicht –
Und also lautete sein Bericht:
In der großen süddeutschen Stadt,
Die ein drollig Kindl im Wappen hat,
Hab' ich die Hochschule einst besucht,
Mit wackrem Fleiße vieles gebucht,
Daß es mir später im Leben nütze.
Doch nebenbei, meine bunte Mütze
War der Bürge, daß nicht alle Zeit
Ich hinbrachte nur in Gelehrsamkeit.
Gesang und Trunk und mancher Schmiß,
Der rechts und links mir die Backen zerriß,
Sind Zeugen, daß ich kein Duckmäuser war
In jenem lustigen, jubelnden Jahr.
Ein Mädel, wie's mit sich bringt der Brauch,
Hab' ich damals besessen auch,
Ein liebes, gutes, vergnügtes Ding,
Die voller Dargebung an mir hing.
Doch plötzlich, wer wagt unser Herz zu kennen,
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Ward sie mir lästig, ich mußte mich trennen.
Das konnte das arme Geschöpf nicht begreifen,
Daß ich so schnell sie wollt' von mir streifen.
Sie wehrte sich, das half ihr nicht viel,
Ich hielt punktfest nur auf mein Ziel.
Und endlich, ich gab ihr manch rauhes Wort,
Sagte sie traurig: Weit zieh' ich fort,
Ich kann da nimmer des Schmerzes genesen,
Wo ich so fröhlich mit dir gewesen.
Ich schenkt' ihr, was ich grad' hatt' an Geld,
Und habe sie dann auf den Bahnhof bestellt.
Durch die Glasthür konnt' ich, von ihr nicht erkannt,
Sie beobachten in ihrem Witwenstand:
Sie saß mit tief gesenktem Kinn
Und starrte teilnamlos vor sich hin.
Um sie her Gelächter, Geplapper,
Biergläsergeklirr und Tellergeklapper,
Hier vom Trost beruhigte Abschiedsthränen,
Dort munter den Goldtag der Zukunft wähnen.
Und unter all' den Menschengrimassen
Quält sie allein sich, von allen verlassen.
Nun trat ich ein, ihren Schein in Händen,
In Zürich erst wollte die Fahrt sie beenden.
Als sie mich sah, einen Augenblick
Dachte sie wohl an ein wendend Geschick,
Doch als halb verdrossen, halb unverhohlen
Meine Freude ich kundgab, schaut sie verstohlen
Noch einmal zu mir: Das war sein Lieben,
Von ihm, ach, von ihm in's Elend getrieben.
»Einsteigen nach Lindau«, und ohne zu zagen,
Führt' ich am Arm sie zum Eisenbahnwagen.
»Dein liebes Katherl,« schluchzt sie zuletzt,
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Dann hat sie sich ins Koupee gesetzt.
Ihr Taschentuch hielt sie vor's Gesicht
Und weinte bebend – ich sah es nicht
Ein Pfiff, ich stand auf dem Bahnsteig allein,
Sie fuhr in die kalte Welt hinein.
Nie wieder hab' ich von ihr gehört,
Ob sie gestorben, gerettet, bethört,
Ob ihr das Glück seinen Hellmorgen gezeigt,
Ob krächzend der Kummer die Fidel ihr geigt.
Zuweilen, die grausam ich von mir stieß,
Die undankbar ich von mir ließ,
Steht nachts sie vor mir, lächelnd, fahl –
Das Leben, äh was, macht uns alle brutal.

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TextGrid Repository (2012). Liliencron, Detlev von. Gedichte. Haidegänger. Verstossen. Verstossen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-EDB0-D