Auf der Marschinsel

Düke Nommsen, der Strandvogt, stand vor mir. Über 50 Jahre hatte er Regen Rinnen in sein bartloses Antlitz gefurcht, hatten die Winde versucht, das stets kurzgeschorene Haar zu packen. Über 50 Jahre war Düke Nommsen Strandvogt. Er hatte mir nur zu melden, wenn etwas ganz Besonderes vorgefallen oder gefunden war. Das geschah selten. Das gewöhnliche Strandgut sind Balken, Tonnen, Leichen, Wrackstücke: Sachen die nur den Strandhauptmann angehen.

Düke Nommsen, der Strandvogt, stand vor mir. Erregt und – stumm. Die Lippen sprachen, aber ich hörte keine Worte.

»Nun, Nommsen, was hast du, was giebt's?« Schon wollte ich anfangen, ungeduldig zu werden, als er herauspreßte: »Dat is to gräsig (grauenvoll), Herr.« Ich nahm Hut und Stock: »Hast du einen Gendarmen benachrichtigt?« Er schüttelte mit dem Kopfe, dann, während wir schon im Gehen waren, sagte er: »Dat deit ni nödig, Herr.« Düke Nommsen schien Alles um sich her vergessen zu haben. Er, [135] der sonst so ängstlich die Dehors bewahrte, der so respektvoll antwortete, ging heute, statt an meiner linken, an meiner rechten Seite. Antworten bekam ich überhaupt nicht mehr von ihm. Der alte Bursche wurde mir nachgerade unheimlich.

Wir gingen auf dem Norder Außen Deich. Es war holl Ebb' (die tiefste Ebbe.) Auf den Watten rief der Avosettsäbler sein Puith, Puith; ungeheure Schwärme von Möwen nahmen sich zuweilen, wie auf Komando, auf, um sogleich, unter großem Geschrei, wieder einzufallen. Alles ist in Bleifarbe getaucht: Die Halligen, die wie Forts aussehen, um einem hinter ihnen liegenden Kriegshafen als erste Stachel zu dienen, die Ufer im Osten, die Wolken, die Vögel, der Himmel.

Wir wandern auf dem stellenweise unergründlichen Deich nach Westen. Zu unsern Füßen im Süden liegt die große, reiche Nordseeinsel Schmeerhörn. Auf dem nächsten Binnendeich, scharf am Himmel ausgeschnitten, reiten ein Bauer und sein Sohn, hintereinander; vor ihnen liegen Mehlsäcke; man hört ordentlich die schweren Gäule schwappsen und stappsen in der Kleie, die, kniehoch, die Pferde müde macht. Nun sind sie an der Mühle angekommen. Langsam – oha – mit krummsten Knieen rutschen Vater und Sohn von den beiden Braunen. Vadder drinkt 'n suren Punsch (Thee, Schnaps, ohne Zucker), de Säen süht to. Nun klettern sie wieder auf die Pferde, ohne Mehlsäcke. Vadder vörut, de Saen achterna. Man hört wieder – man sieht es zwar nur – das Schwappsen und Stappsen der Gäule. Nu sünd se ant Hus. Beide fallen wieder schwer von den Gäulen. Vadder slöppt und de Saen smökt achtern Diek 'n Sigarrstummel.

Mit uns, über die Fennen, wo fette Schafe grasen, geht ein kräftiger Landmann, der nach seinem abseits liegenden Hof will. Er hat den langen Springstock in der Hand, und sieh!, mit der Eleganz einer Ballettänzerin schwebt er, nachdem er einen Augenblick den Grund sondirt hat, über die oft recht breiten Gräben.

[136] An unserm Außendeich steht nur vereinzelt ein Haus, von kleinen Leuten bewohnt. Als wir bei dem ersten vorbeikommen, ruft ein Hahn seinen Hennen: Gluckukukukukukuk: Paßt auf. Die Hennen, diese ewig fressenden Tiere, picken und scharren ruhig weiter. Henning sieht mit schiefem Kamm zu uns hinauf, verwickelt dabei den rechten Sporn in einen Strohhalm, sucht sich, erbost, zu befreien, kreist und fällt um. Wer hat einen umfallenden Hahn gesehen?

Auf dem Strohdache der Kathe sitzen die Stare in ihrem süßen Geplauder.

Wie still ist es. Aus den Marschen dringt kaum ein Ton, von einigen Höfen klingt das Glucksen der Kalkuttischen Hühner herüber; zuweilen Kinderlachen von einer Werft. Der Wind, natürlich Westwind, hat sich gelegt; Regenwolken ziehen langsam am Himmel.

»Dor, dor ... dor is't« ruft plötzlich Düke Nommsen, der Strandvogt. Ich hatte in die Marsch hinunter geschaut und nun wieder meinen Kopf nach Westen und Nordwesten wendend, habe ich einen sonderbaren Anblick: Auf dem Deiche, hundert Schritt vor uns, stehen etwa zwanzig Menschen mit allen Zeichen der Neugier, der Furcht, des Abwehrens, der Beratung. Sie kommen mir wie eine Gruppe Wilder vor, deren einsame Insel eben ein Fremdling, mit erstem Sprung aus dem Boote, betritt.

»Dor, dor ... dor is't« ruft wieder Nommsen und zeigt mit dem Finger auf den Strand. Etwas Schwarzes, etwas Weißes liegt dort; mehr erkenne ich noch nicht. Ich bin bei den Bauern angekommen, und sehe, daß unten, mit ausgebreiteten Armen, Ertrunkene liegen.

Keiner von den Zuschauern ist zu bereden, mit mir hinunter zu steigen. Ich gehe allein auf die Leichen zu. Ah ... ich prallte zurück: das hatte ich nicht erwartet. Dann fest drauf los:

Auf einer breiten weißen Planke lagen, neben einander zwei Menschen, gekreuzigt: Ein junges, weißes, zierlich gebautes [137] Weib und ein herkulischer Neger. Sie waren nackt; um die Hüften beider waren purpurne Tücher geschlungen. Wie seltsam das doch war, daß ich an ein Paar Totenköpfe (Schmetterlinge) denken mußte, die ich in meinen Knabenjahren einst an einem Tage gefangen und sie neben einander, ausgebreitet, gespießt hatte ...

Weiß und Purpur, Schwarz und Purpur. Ich werde ruhiger und verliere alles Grauen. Die Bauern merken es; sie wollen zu mir; ich befehle mit der Hand, daß sie oben bleiben sollen. Jetzt beuge ich mich zu den beiden. Das Brett, auf das sie geschlagen sind, ähnlich der Thür oder der Wand einer luxuriös ausgestatteten Kajüte, scheint an allen Seiten gewaltsam abgebrochen zu sein. Es ist weiß; und nun seh' ich es genau: es hat vergoldete Leistenumfassungen. Es ist entschieden ein Stück der Wanddekoration aus einer vornehm eingerichteten Kajüte.

Zuerst betrachte ich die Frau. Welch' ein junges Gesichtchen; welch liebliche Züge; nichts ist verzerrt, wie denn auch beide Leichen aussehen, als wären sie nur ganz kurze Zeit im Wasser gewesen. Die Augen stehen bei der jungen Frau halb offen; ich seh' ein tiefes Blau. Langes rötliches Haar fließt um ihr Haupt. Aber ... o ... o ... wie schändlich! diese kleinen schneeigen Hände, an denen die Nägel lang und abgerundet sind (sie haben die Form einer Haselnuß), diese kleinen lieben Hände sind mit großen, plumpen, verrosteten Schiffsnägeln durchstoßen. Das Blut hat die See abgewaschen.

Der Neger, dessen linke Fingerspitzen fast die rechten der Frau berührten, so nahe lagen sie an einander, hat eine gebogene Nase wie der schönste Römerjunge. Die Oberlippe ist emporgezogen und zeigt das Gebiß eines fletschenden Hundes. Auch seine Hände sind mit großen verrosteten Schiffsnägeln durchbohrt. Seine Gestalt ist riesengroß, eine Moriturus te salutat Figur, ein Gladiator Neros.

[138] Die Füße beider sind fest mit dicken Tauen umschnürt, und diese durch mehrere Löcher im Brett gezogen und auf der Rückseite stark verknotet.

Um aller Heiligen willen, wo kommen die beiden her? Das ist klar, daß sie nicht lange im Wasser gelegen haben. Die Flut hat sie dann an unsern Strand gespült.

Hundert Vermutungen wurden in mir wach; hundert phantastische Bilder drängten sich in mir ...

Die Sonne ging unter, so wundervoll, wie wir es nimmer auf dem Festlande, auf der Ostsee sehen. Zwischen schwammigen, dunklen Wolkenmassen schossen tausend Lichter.

Und die Flut kam und dann tritt wieder die Ebbe ein, und dann kommt wieder die Flut, und dann wieder die Ebbe, u.s. w u.s.w.

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TextGrid Repository (2012). Liliencron, Detlev von. Gedichte. Adjudantenritte. Auf der Marschinsel. Auf der Marschinsel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-EE5E-3