Heimatpfade

Wild umher, gleich im Dickicht zerstreuten
Waldblumen, sind die Gaben
Den Menschen versteckt. Es deuten,
Welchen Pfad wir zu wandeln haben,
Wo der Himmel ein Glück uns erkor,
Lichtelfen mit weißer Hand
Stillwinkend im Schatten hervor.
Das meiste Gute liegt als Pfand
Unsrer Zukunft geborgen;
[262]
Mehr, als wir nur ahnen, liegt
Da, wo mit Sorgen
Die Mutter uns gewiegt.
Nie auszuschöpfenden Reichtum hegt,
An heimlichen Plätzen hinterlegt,
Die Heimat, das Vaterhaus;
Von ihm durchs ganze Leben
Gehen die weitreichenden Fäden aus,
Die unsre Lose weben.
Doch die Himmelstöchter weilen
Nicht gern hienieden und teilen
Ihre Gaben uns aus im Flug.
Sie eilen heim und küssen mit rosigem Munde
Flüchtig nur; selten noch schlug
Ein zweites Mal die günstige Stunde.
Nur der Emsige findet
Die freundlichen mitten in fremder Welt
Und erkennt, was hold ihn bindet,
Was Wort ihm hält.
Selbst der Jugend Irrgänge leiten
Zu Höhen empor,
Wenn nur rastlos hinanzuschreiten
Der Wandrer nicht den Mut verlor.
Wer aber betört
Nach Glänzendem hascht in eitlem Beginnen
Und nicht die Warnenden hört,
Die treuen Begleiterinnen,
Der sieht sie ärmer und ärmer werden nur
Und endlich wie Nebel zerrinnen.
Dann steht er allein auf öder Flur,
Und sie sind heimgegangen,
Die tausend liebenden Blicke,
Womit die Eltern ihr Kind umfangen,
Ihr Lächeln, ihr Mühn und die dem Geschickte
[263]
Entrungnen frohen Stunden,
Die als schützende Genien so lang
Umschwebten den Lebensgang,
Sie alle sind unwiederbringlich entschwunden.
O rettet ihn, bietet ihm hilfreich die Hand!
Daß auch im Elend der Mann empfindet,
Wie Tag für Tag erstarke das Band,
Das alle Menschenseelen verbindet;
Denn gegen die offnen und stillen Gefahren,
Die schon dem frühen Morgen drohn,
Mag sich bewahren
Kaum des Glückes begünstigter Sohn.
Jedem gesteckt ist Ziel und Marke,
Allen eröffnet ist die Bahn,
Aber zu jäh stürmt der Kühne hinan,
Zu fest vertraut auf sich der Starke;
Die Waffen sinken läßt der Schwache,
Eh' noch der halbe Weg erreicht.
Und den Stolzen trifft mit sichrer Rache
Der Neid, der tückisch ihn umschleicht,
Ja selbst der, dem der Sieg beschieden,
Der zurückkehrt zur Heimatflur,
Ach, er bringt in den endlichen Frieden
Waffen, zerstückte, blutgetränkte nur!
Was Bestimmung ist,
Und warum wir erfüllen müssen,
Was ein ewig Schicksal voraus ermißt,
Was fest steht über menschlichen Entschlüssen,
Wohin wir gehn durch »Lebensflut
Und Tatensturm,« das Letzte, Tiefste ruht
Für immer verhüllt – alles Gut
[264]
Es stammt von früh her, am tiefsten ins Blut
Sind uns getaucht die ersten Erinnerungen,
Mögen sie nun großen Städtegebrauses,
Nur flüchtige Bilder dem Sinne sein,
Ob ein Giebeldach im schattigen Hain,
Ob Nachbar des Hauses
Meer war, oder ragendes Felsgestein,
Oder ein Hüttendach, wo versteckt
Vom blühenden Apfelbaum
Ein Rotkehlchen dich aufgeweckt
Aus deinem ersten Morgentraum.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lingg, Hermann von. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. 14. Freie Rhythmen. Heimatpfade. Heimatpfade. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-EF8C-2