Die Tanzwut
1374
Bald nach des schwarzen Todes Zeiten
Geschah's, daß eine wilde Lust
Zu Tanz und Spiel und Üppigkeiten
Durchzuckte vieler Menschen Brust.
Es kam ein Not- und Hungerjahr,
In Lüften starb der Vögel Schar.
Bald sah man Volk, das durch die Städte
Am hellen Tag im Jubel zog
Und fragte, wo man Geiger hätte,
Und tanzend durch die Straßen flog.
Schalmei und Flötenspiel ertönten
Im Kirchhof und im Kirchengang,
Die Toten in den Grüften stöhnten:
Erweckt uns schon Posaunenklang?
Der Bettler ließ sein Lagerstroh,
Vom Kloster kamen Mönch und Nonne,
Vom Krankenbett der Sieche floh,
Der Säufer von der vollen Tonne,
Und Alle sangen: »Frisch und froh
[185]Macht euch an die Sonne!
Mußtet lang im Dunkel liegen,
Demut hegen, Wehmut wiegen;
Aber heute seid ihr Leute!
Seht ihr wo verlassne Bräute,
Seht ihr wo verlorne Kinder,
Nehmt sie mit und schwingt sie so,
So und so,
Immer geschwinder, geschwinder!«
So tanzten Arm' in Arme schmiegend
In bunten Kleidern Paar an Paar,
Den kranken Leib in Sehnsucht wiegend,
Voll Anmut, schön und wunderbar.
Das Alter schien sich zu verjüngen,
Die Jugend plötzlich früh gereist,
So sprangen sie mit wilden Sprüngen,
Bis Sock' und Sohle durchgeschleift.
Die von der Wut ergriffnen Leiber,
Ach, wie sie nach dem Wasser schrie'n,
Die Männer und die jungen Weiber
Man sah sie bitten, weinen, knie'n.
Sie tanzten über Flur und Felder,
Sie sprangen über Stock und Stein,
Sie tanzten in die wilden Wälder
Und in den tiefen Rhein hinein.
Sie ras'ten fort und fort gezogen
Und eilten bis ans Meer voll Weh,
Und stürzten in die wilden Wogen,
Die Fische spritzten in die Höh'.