[117] Mary

In den alten Platanen flüstert der Wind
Mit müdem, nachlässigem Wehen –
Ich denke an dich, du totes Kind,
Und daß ich dich gestern gesehen.
Du schautest mich an so bittend und scheu,
Erflehend ein Zeichen der Liebe,
Ich aber ging höflich grüßend vorbei
Durch das wogende Sonntagsgetriebe.
Es war ein Traum, so wonnig und bang,
Ich werde ihn niemals vergessen,
Den kurzen Traum, wo mein Arm dich umschlang,
Wo ich deine Liebe besessen.
Ich lieb' dich noch heut wie an jenem Tag,
Doch will ich es dir nicht mehr sagen,
Seitdem du mit lächelnd kokettem Schlag
Meinen Glauben an dich hast erschlagen.
Und blickst du auch noch so schmerzlich und lieb,
Zertreten ist einmal der Samen,
In das Album meiner Erinnerung schrieb
Ich ein Kreuz dir hinter den Namen.
Ich hätte geträumt ein schönes Gedicht:
Dich als ehelich Weib zu umschließen,
Doch um Liebe betteln, das tue ich nicht,
Nicht einmal zu deinen Füßen.

Münster, 5. August 1889

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TextGrid Repository (2012). Löns, Hermann. Gedichte. Junglaub. Mary. Mary. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-1F3D-A