Ständchen

Es sprang die Sonne übern Wald
Und ging im grünen See zur Ruh'.
Komm! Deines Gatten Herz ist alt,
Du, meine blonde Wonne du!
Mein Herz ist kühn, mein Auge scharf
Und sicher meine Hand –
Ich dachte nicht an »Soll« und »Darf«,
Als ich dich wiederfand.
[122]
Der bleiche Mond steht überm Wald,
Dein trunkner Gatte liegt und schnarcht –
Es ist nicht alles tot und kalt,
Was eingescharrt und eingesargt.
Die Uhr schlägt zwölf, das Leben schweigt,
Die Geisterstunde ruft,
Und die begrabene Liebe steigt
Gespenstig aus der Gruft.
Um den Balkon die Eule zieht,
Und ruft ein süßes Liebeswort,
Es klingt so hold: kommit, kommit,
Es reißt in meinen Arm dich fort, –
Man hat vermählt dich, armes Weib,
An einen jungen Greis,
Der nichts von deinem süßen Leib
Und warmen Herzen weiß.
Dem Kätzchen hat mich schon belauscht
Und leise ruft es: komm heraus!
Dein Licht verlischt, dein Nachtkleid rauscht,
Du öffnest schüchtern mir das Haus –
Nun zittre nicht, gib her den Mund,
Ich schieße nie vorbei –
O seligheil'ge Geisterstund,
Jetzt bis zum Amselschrei.

Münster, 4. Dezember 1889

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TextGrid Repository (2012). Löns, Hermann. Gedichte. Junglaub. Ständchen. Ständchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-1F71-0