[136] Auf dem Greifswalder Bodden

Braune Kormorane flogen
Mächtigklafternd übers Meer,
Grau und weiße Möwen zogen
Kreischend um den Dampfer her,
Heringsbänke, silberblank
Unter grünen Wellen,
Auf dem Decke lauter Sang
Narbiger Gesellen.
Sie stand am Backbord: farblos, ohne Blut
Das Antlitz war; ihre Auge, blauumrändert,
Das starrte trostlos, kalt und unverändert
Hinunter auf der Ostsee dunkle Flut;
Ein blaues Kleid umschloß den schlanken Leib,
Am schwarzen Hut der Federschmuck vom Reiher,
Und lustig flatterte der weiße Schleier,
Dem Ostwind ein willkommener Zeitvertreib.
Rügens Kreidemauern ragten
Aus dem Meere marmorhell,
Weißbemützte Wogen jagten
Über Feuersteingeröll,
Ostwind, Sonne, Fischgeruch,
Fernsicht, goldbeschienen,
Scherze, froher Seemannsfluch,
Ausgelaßne Mienen.
Sie seufzte, langsam hob sich ihre Brust,
Das weiße Händchen stützte müd die Schläfe,
So jung, und schon des Lebens letzter Hefe
Fadbittrer Nachgeschmack nach wenig Lust.
Zu der Kajüte ging ihr müder Schritt,
Die Arme hingen schlaff am Leib hernieder,
Kontrast; »So leben wir –« und andre Lieder,
Sie ging, und meine Augen nahm sie mit.
Gellend in den blauen Lüften
Scholl des Adlers Hungerschrei,
An den weißen Kreideklüften
Schoß der Dampfer stolz vorbei,
[137]
Glatte Robben flohen schnell
Nach dem flachen Strande,
Kurze Wellen glühten hell
Auf im Sonnenbrande.
Sie trat aus der Kajüte leichenblaß,
Das blaue Auge schwarz vom Tod umschattet,
Die Lippen fahl, vom Todeskuß ermattet,
Und von der Stirne lief das kalte Naß;
Sie sah sich hilflos, hilfeflehend um:
»Herr Kapitän, ich wollte Ihnen sagen –«
Kein Mensch wird ihren Willen mehr erfragen, –
Sie wankte, fsiel, und ward für immer stumm.
Langsam sank des Nebels Laken
Über Meer und Buchengrün,
An des Leuchtschiffs Eisenhaken
Schwache Feuerpunkte glühn,
Schnell die Sonne ward entthront,
Licht und Glut zerflogen,
Und der totenbleiche Mond
Küßte schwarze Wogen. –
Sie lag auf dem Verdecke still und kalt,
Ein Mediziner kniete bei ihr nieder
Und prüfte ernst den Herzschlag unterm Mieder,
Und eine Flut von Fragen um ihn schallt:
»Woher, wohin? Kein Mensch hat sie gekannt?« –
»Durch eigne Hand, Blausäure, keine Rettung!« –
Mit Mut zerriß sie des Geschicks Verkettung,
Und Greifswalds Friedhof ward ihr Rettungsstrand.

Münster, Februar 1890

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TextGrid Repository (2012). Löns, Hermann. Gedichte. Junglaub. Auf dem Greifswalder Bodden. Auf dem Greifswalder Bodden. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-20E0-4