[44] 71. Die Frau unter den Wichtelmännchen.

Es ist noch gar nicht lange her, daß in Frankenberg eine Kinderfrau lebte, die viel wunderliche Dinge von den Wichtelmännchen zu erzählen wußte, denn sie hatte einmal ganze acht Tage unter ihnen zugebracht und ihr Thun und Treiben ihnen abgemerkt. In einer dunklen Nacht nämlich, da alle Nachbarn schon in tiefem Schlummer lagen, war die Frau durch ein starkes Klopfen an der Hausthür geweckt worden. Sie sprang auf und lugte durch's Fenster, sah aber nichts als eine Laterne vor dem Hause. Da rief eine Stimme hinauf: »Werft eure Kleider über und kommt mit mir; eine Frau harrt eures Dienstes!« Die Kinderfrau that wie ihr geheißen, ging hinunter und folgte der Laterne, die schon eine Ecke voraus war, zweifelnden Schrittes nach, denn es kam ihr doch höchst seltsam vor, daß sie nur die Laterne sah und nicht den Menschen, der sie trug. So ging es durch mehrere Gassen, dann zum Klosterthore hinaus und noch eine gute Strecke in's Freie; da blieb das Licht endlich stehn, es öffnete sich eine verborgene Fallthür und viele Stufen führten in die Tiefe. Mit Zittern und Gebet folgte die Kinderfrau ihrem räthselhaften Führer und es währte nicht lange, so befand sie sich in einem hellen geräumigen Gemache mitten unter Wichtelmännchen, die sie freundlich willkommen hießen. Ehe sie Zeit hatte, sich von ihrem Staunen zu erholen, trat aber schon eins der kleinen Männchen zu ihr heran und forderte sie auf, ihm zu der Frau zu folgen, um derentwillen sie gerufen worden war. Bald darauf kam denn auch ein ganz kleines niedliches Wichtelmännchen zur Welt und da sich Mutter und Kind wohlbefanden und Alles gut von Statten gegangen war, so hoffte die Kinderfrau am Morgen wieder zu den Ihrigen zurückkehren zu können. Daraus ward aber nichts; die Wichtelmännchen [45] wollten sie durchaus nicht gehn lassen, bewirtheten sie einen Tag besser wie den andern, und ließen's ihr an nichts fehlen.


Während dieser Zeit gingen die Wichtelmännchen oft fort und kehrten nicht wieder, ohne mit allerlei schönen Sachen beladen zu sein. Ehe sie weggingen benetzten sie jedesmal ihre Augen mit einer Flüssigkeit, welche sie in einem Glase aufbewahrten. Der Alten war das nicht entgangen, und als einmal das kleine Volk wieder ausgezogen war, suchte und fand sie das Glas und tupfte ein wenig von dem Inhalte auf ihr rechtes Auge.


Acht Tage waren inzwischen vergangen und die Wichtelmännchen widerstanden nun nicht länger mehr den Bitten der alten Frau; sie erlaubten ihr, sobald es dunkel wäre, heimzukehren: »Den Kehrdreck, der hinter der Thür liege, möge sie als Belohnung mitnehmen!« Sie war klug genug, das unscheinbare Geschenk nicht zu verschmähen, raffte den Kehrdreck in ihre Schürze und folgte gutes Muthes der Laterne, die ihr, wie vor acht Tagen, von unsichtbarer Hand vorausgetragen ward. Nach einer halben Stunde langte sie wohlbehalten zu Hause an, zur großen Verwunderung ihres Mannes, der sich in den acht Tagen fast den Kopf zerbrochen hatte vor lauter Gedanken über ihr Ausbleiben. Nun erzählte sie ihm, wie das Alles gekommen war und schüttete zum Beschluß den Kehrdreck, den sie noch in der Schürze trug, vor ihn hin auf den Tisch. Ach, wie bebten da die Herzen der beiden Alten vor Freude! Wie blinzelten ihre Augen und wie schwiegen sie so stille, als fürchteten sie durch ein lautes Wörtchen, durch einen Jubelschrei das, was sie so entzückte, wieder wie ein eitles Traumbild verschwinden zu sehen! Endlich aber lösten sich ihre Zungen; ihr Staunen ging in Worte über und jetzt sahen sie, daß es kein Traum, daß es die baare Wirklichkeit war: – ein Haufe von schimmernden Goldstücken lag auf dem Tische!

[46] Nach einiger Zeit war Jahrmarkt in Frankenberg. Die Kinderfrau, die nun so plötzlich reich geworden, ging zwischen den Krambuden umher, sah und kaufte mancherlei. Auf einmal bemerkte sie im Gedränge hier und dort zerstreut die Wichtelmännchen, wie sie ungesehen mit großer Geschicklichkeit die Tische und Läden plünderten. Und das sah sie mit dem rechten Auge, welches sie damals, als sie in der Wichtelwohnung war, mit jener Flüssigkeit benetzt hatte. Sie konnte es nicht über sich gewinnen, die kleinen Diebe unangeredet gehen zu lassen und sprach: »Ei, was macht ihr da für Sachen?« Die Wichtelmännchen erkannten sie wohl und fragten: »Mit welchem Auge siehst du uns?« Sie antwortete: »Mit dem rechten.« Da bliesen sie ihr in dasselbe und im Augenblick fiel es wie schwarze Nacht darüber. Sie sah die Wichtelmännchen nie wieder und blieb ihr Leben lang auf dem rechten Auge blind.

Mündlich.

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TextGrid Repository (2012). Lyncker, Karl. Sagen. Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. 71. Die Frau unter den Wichtelmännchen. 71. Die Frau unter den Wichtelmännchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-29C9-5