Der Alpenwanderer

Scandit inaccessos brumali sidere montes,

Nec meminit lethi, nimbosve aut frigora curat.

Claudian.


Des Wand'rers Tritte wanken,
Auf schmaler Kieselbahn,
Durch wildverschlungne Ranken,
Den Fichtenberg hinan.
Wie bebt des Waldstroms Brücke,
Der tosend sich ergeußt,
Und Bäum' und Felsenstücke
Jach in die Tiefe reißt!
Jezt flieht die Nacht der Wipfel;
Verklärt vom Sonnenstral,
Gränzt an beschneite Gipfel
[179]
Ein grünes Zauberthal.
Hier bliebe, wonnebebend,
Selbst Hallers Muse stumm.
Wie groß, wie seelenhebend!
Hier ist Elysium!
Hier wo ein rein'rer Aether
Um Götterhaine fließt,
Aurorens Licht sich röther
Auf hell'res Grün ergießt;
Wo Freiheit in den Hütten
Bei frommer Einfalt wohnt,
Und Kraftgefühl die Sitten
Des goldnen Alters lohnt;
Hier wo die Heerde läutend
Im Blumengrase geht,
Und, Wohlgeruch verbreitend,
Die Bergluft milder weht;
Wo, von der Enziane
Und Anemon' umblüht,
Auf seidnem Rasenplane
Die Alpenrose glüht;
Hier wo die Seele stärker
Des Fittigs Hülle dehnt,
Hoch über Erd' und Kerker
Emporzuschweben wähnt,
Geläuterter und freier
Der Sinnenwelt entflieht,
Und schon, im Aetherschleier,
An Lethes Ufern kniet.
Doch, ach! der Zauber schwindet,
Des Traumgotts Bildern gleich;
Der enge Steinpfad windet
Sich zwischen Felsgesträuch;
[180]
Wild starren, matt vom Schimmer
Der Abendsonn' erhellt,
Gestürzter Berge Trümmer,
Wie Trümmer einer Welt.
Im hohen Raum der Blize
Wälzt die Lawine sich,
Es kreischt im Wolkensize
Der Adler fürchterlich;
Dumpfdonnernd, wie die Hölle
In Aetnas Tiefen ras't,
Kracht an des Bergstroms Quelle
Des Gletschers Eispallast.
Hier dämmern schwarze Gründe
Wo nie ein Blümchen lacht,
Dort bergen grause Schlünde
Des Chaos alte Nacht;
Und wilder, immer wilder
Schwingt sich der Pfad empor;
Bleich wallen Todesbilder
Aus jeder Kluft hervor.
Kalt wehn des Grabes Schrecken,
Wo dräuend der Granit,
In kühngethürmten Blöcken,
Den Abgrund übersieht.
Erzürnte Fluthen brausen
Tief unter morschem Steg,
Und Grönlands Lüfte sausen
Am hochbeschneiten Weg.
Der Wand'rer starr't von Eise,
Sein Odem friert zu Schnee;
Ein Glöckchen, dumpf und leise,
Tönt fern am Alpensee;
[181]
Der Hohlweg senkt sich tiefer;
Durch Felsenzacken blickt
Des Klosters dunkler Schiefer,
Mit weissem Kreuz geschmückt.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Matthisson, Friedrich von. Gedichte. In der Fremde. Der Alpenwanderer. Der Alpenwanderer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2B2D-6