[111] [117]Geographische Predigten

1. Himmel und Erde

In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. Nr. 15–16. S. 117–118 u. 125–126. – Dresden: H.G. Münchmeyer (1875). Reprint in: Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. Mit einer Einführung von Klaus Hoffmann. Hildesheim, New York: Olms Presse 1979.

1.

Himmel und Erde

»Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre;
Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort;
Ihn rühmt der Weltenkreis; ihn prüfen alle Heere,
Drum lobet ihn, den großen Hort!«

»Wenn die Nacht mit begeisternder Herrlichkeit emporsteigt,« ruft einer unserer bedeutendsten Geographen aus, »und sie den Schleier von Sonnenstrahlen hinwegzieht am Firmamente; wenn wunderbar aus ewigen Fernen, aus den Tiefen des Weltenalls, tausende neue Sonnen, neue Erden schimmern: dann erhebt sich unser entzückter Blick nicht zur stillen Pracht der Gestirne, ohne Seiner Hoheit, Größe undMacht zu gedenken, Seiner, in dessen Lichte unermeßliche Welten wie geringe Sonnenstäubchen spielen und dessen Schöpfungen keine Schranken kennen.

Jene Gestirne predigen seine Majestät herrlicher, als es der Geist eines Sterblichen vermag. Jene Gestirne, die aus dem ewigen All uns anstrahlen, sind heilige Offenbarungen von oben her, sind Propheten der Ewigkeit, die uns anrufen, sind Weissagungen von dem unbekannten Jenseits, des unserer wartet.

[117]

Vielleicht haben wir schon, unbewußt, den Blick in das Geheimniß der Ewigkeit geworfen. Vielleicht sehen wir schon Strahlen einer Welt – dereinst unsre Welt – in der verklärt und veredelt die Geister unserer Geliebten mit überirdischem Entzücken wallen. Sehnen sie sich nach dieser Erde zurück? Vielleicht erkennen sie dieselbe kaum noch als kleinen Punkt unter den Sternen, wissen nicht, daß dieser Punkt einen kurzen Traum lang ihr Wohnort war, – wissen nicht, daß noch auf diesem Punkte ein liebendes Herz wohnt, welches sie vergebens ruft!«

Wohl mag die Indolenz ein Lächeln haben für den Glauben, welcher sich nach oben richtet und seine Hoffnungen von der Erde reißt, um sie »über die Sterne« zu lenken, aber ein ernstes und sinniges Gemüth mag und kann sich den Ahnungen nicht entziehen, welche beim Glanze des Firmamentes der Seele entsteigen und nach einer Heimath streben, welche außerhalb der Grenzen des Zeitlichen und Räumlichen liegt.

Die griechische Götterlehre erzählt uns eine tiefernste Sage: Prometheus stieg hinauf zu dem Sitze der Götter, entwendete ihnen einen Funken des himmlischen Feuers und brachte die belebende und alle Finsterniß verscheuchende Flamme den Bewohnern der Erde.

Die Götter bestraften diese verwegene That. Angeschmiedet an einen Felsen des Kaukasus, wurde er ein Raub der furchtbarsten Schmerzen, denn ein Adler mußte ihm die beständig nachwachsende Leber immer wieder von Neuem aushacken.

Diese Sage birgt einen tiefen Sinn. Es hat zu allen Zeiten solche Prometheusnaturen gegeben, welche von einem innern Drange nach Erkenntniß getrieben wurden, die kühne Hand nach dem Lichte der Wissenschaft auszustrecken, um die Räthsel des Seins zu beleuchten und zu ergründen. Aber mit jedem Schritte, den sie vorwärts thaten, wuchs der Zweifel und der Durst nach neuem und größerem Wissen; von den Finsterlingen mit dem Anathema belegt, sahen sie sich von dem Spötter verlacht, von dem unverständigen Haufen verketzert und mußten in ewiger Kerkerhaft oder gar auf dem Scheiterhaufen ihr Heldenthum büßen.

Doch ist der göttliche Funke, einmal in Brand gesteckt, nimmer wieder auszulöschen; mag der Denker unter dem Bannfluche seufzen und zum Märtyrer seiner Ueberzeugung werden, so ist es doch unmöglich, die Errungenschaften seines Geistes mit dem Interdicte zu belegen und die Idee, die ihn erleuchtete, lebt fort und geht auf andere Geister über, um unter Sturm und Drang immer weiter entwickelt und ausgebildet zu werden. Jetzt sind jene Zeiten vorüber, die Fesseln gefallen und die Scheiterhaufen verkohlt, und unbesorgt dürfen wir uns in die Schöpfungen der Männer versenken, welche nach dem Glanze der Wahrheit strebten und Antwort suchten auf die Frage nach Ursprung, Wesen und Zusammenhang des Bestehenden.

Diese Frage, obwohl zunächst an irdische Verhältnisse gerichtet, hebt unfehlbar doch zuletzt den Blick empor zum Himmel und lenkt das forschende Auge auf die hellen Punkte, von denen jeder eine Welt bedeutet. Im Glanze der Sterne nur entfaltet die Wunderblume der Erkenntniß ihre Blüthen, und mit Recht mahnt der Dichter die nach Licht und Klarheit Strebenden:


»Schwingt Euch hinauf zu jenen Fernen,
Zum großen Weltenocean,
Les't in den Sonnen, in den Sternen:
Sie zeigen Euch des ew'gen Bahn!«

Müssen wir den Mann bewundern, dessen scharfe Beobachtung hinunterdringt in die Tiefen der Erde, um den Schleier zu lüften, welcher über die Geheimnisse der Unterwelt gezogen ist, so erscheint uns erstaunlicher noch die Sicherheit, mit welcher die Berechnung des Himmelskundigen die Millionen rollender Welten erfaßt, jede Minute ihres Laufes zählt und das Dasein von Körpern beweist, welche erst die Nachwelt mit dem Rohre erreicht. Der Glanz der Sterne legt seine Strahlenaureole um das Haupt des Forschers; ein magisch Schimmern hängt sich um sein Thun, und wie sein Himmel hoch ist über der Erde, so blickt auch zu ihm selbst der Laie nur nach oben.

Mögen Andre stolz sich Herren der Erde nennen, ihm ist sie zu eng und klein, das All will er durchdringen und beherrschen, erobert eine Welt nach der andern und – bringt sie der Menschheit zum Geschenke. Die Sphären, welche durch [117] die Räume saußen, müssen ihm Rede stehen, von ihm ihr Bild sich rauben lassen und ihren Wandel seinem Aug' enthüllen. Was der stärksten körperlichen Kraft unmöglich ist, er vollbringt es, und in ihm zeigt die Macht des Geistes sich in ihrem höchsten irdischen Glanze.

Darum ist es kein Wunder, daß man seit grauer Zeit bis zum Ausgange des Mittelalters den Astronomen die Kunst beimaß, aus der Stellung und dem Laufe der Gestirne die Zukunft zu ergründen. Es liegt ein geheimnißvoller und unwiderstehlicher Reiz in der geistigen Erforschung dessen, was der Betrachtung durch das leibliche Auge sich entzieht, und so kam es, daß die Brillanten des Himmels mit ihrem magischen und zauberhaft flimmernden Lichte die Aufmerksamkeit schon der ältesten Völker auf sich zogen.

Die Bewegungen der Sonne und des Mondes mußte dem Menschen am Ersten auffallen, und das Resultat seiner Beobachtung war die Eintheilung der Zeit in Jahre, Monate und Tage. Da der Stand seiner Kenntnisse kein hoher war und ihm auch die nothwendigen Instrumente noch fehlten, so war seine Anschauung vom Weltenbau eine irrthümliche und konnte erst später mit der Erstarkung der Wissenschaft und der Erfindung und Vervollkommnung der astronomischen Werkzeuge nach und nach berichtigt werden. Dennoch aber hat man, besonders in Asien, schon in der ältesten Sagenzeit Kenntnisse von genauen Messungen und Berechnungen, welche unsere Bewunderung erregen.

Die astronomischen Nachrichten der Indier reichen bis 3102, der Chinesen bis 2449, der Chaldäer und Babylonier bis 2167 Jahre vor Christi Geburt zurück, und die Egypter hatten schon 1600 vor Christo richtige Beobachtungen von Finsternissen. Die großartigsten Erfolge freilich hat erst die neuere Zeit aufzuweisen, welcher es gelang, die Wissenschaft von den Beimischungen des Aberglaubens zu befreien und das wahrheitstreue und überwältigende Bild zu entwerfen, welches die Gegenwart von dem unendlichen Dome des Himmels besitzt. Es ist ja das Gesetz aller irdischen Entwickelung, daß der Weg zur Wahrheit durch den Irrthum geht und nur aus der Finsterniß zum Lichte führt.

Die alte Tradition, welche den winzigen Erdball zum Hauptbeziehungspunkte alles Erschaffenen machte, so daß Josua rufen durfte: »Sonne, stehe stille zu Gibeon und Mond im Thale Ajalon!« hat der Ueberzeugung weichen müssen, daß der »Staubgeborne« nicht das Recht habe, sich die höchste Daseinsform zu nennen und daß die Erde nichts Anderes für ihn sei als nur eine der Stufen, auf welchen er zur Vollkommenheit emporschreitet. Diese Ueberzeugung demüthigt die Vermessenheit, welche sich dünkt, Gott gleich zu sein, und ermuntert den Menschen, zu trachten nach dem »das droben ist«, nach dem »Reiche Gottes«, welches weder Confession noch Dogma, sondern nur das eine, große, allmächtige Gesetz der Liebe kennt, welches Alles erfüllt und Alles bewegt, »soweit der Himmel reicht«.

Jeder leuchtende Punkt am Firmamente ist eine Provinz dieses unendlichen Reiches, vielleicht von lebenden Wesen bevölkert, welche dasselbe Recht besitzen, wie wir, Kinder eines Vaters zu sein, und nichts Anderes will Christus, der viel Verkannte und Mißverstandene sagen, wenn er spricht: »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen!«

Die Wohnung des Menschengeschlechtes, Erde genannt, welche sich mit einer Geschwindigkeit von 225 Meilen in der Stunde um sich selbst bewegt, mit einer Eile von 14,400 Meilen in der Stunde um die Sonne kreist und mit dieser in noch größerer Schnelligkeit um weitere Centralsonnen wirbelt, ist eine an den bei den Polen abgeplattete Kugel von 1,719 Meilen Durchmesser, 5,400 Meilen Umfang, 9,288,000 Quadratmeilen Flächeninhalt und wiegt ungefähr 140,000,000,000,000,000,000,000,000,000 Centner oder nahezu 14 Quadrillionen Pfund, eine Größe, für welche die gewöhnlichen Verhältnisse keinen Maßstab leihen.

Um diese Erde, deren Oberfläche zu 2 Drittheilen aus Wasser und 1 Drittheil aus festem Lande besteht, läuft der Mond mit einer Geschwindigkeit von 450 Meilen in der Stunde. Er ist im Mittel 51,816 Meilen von ihr entfernt, hat einen Durchmesser von 468 Meilen, einen Flächeninhalt von ungefähr 663,500 Meilen und einen Körperinhalt, nach welchem 49 Mondkugeln erst eine Erdkugel bilden würden.

Mit der Erde, welche im Mittel 20,450,000 Meilen von der Sonne entfernt ist, drehen sich die Planeten um dieselbe, deren größester, der Jupiter, einen Durchmesser von 19,294 Meilen und einen Flächeninhalt von 1,169,530,000 Quadratmeilen besitzt. Von ihnen steht der Merkur der Sonne mit einer Entfernung von 8 Millionen Meilen am Nächsten und der Neptun mit einer Entfernung von 621 Millionen Meilen am Entferntesten.

Die Sonne selbst hat einen Durchmesser von 192,617 Meilen und eine Oberfläche von 116,556 Millionen Quadratmeilen. Sie wiegt ungefähr 320,000 mal so schwer als unsre Erde und ist 700 mal größer als alle Planeten und Monde zusammengenommen. Sie dreht sich mit einer Geschwindigkeit von 900 Meilen in der Stunde aller 25 Tage und 10 Stunden einmal um sich selbst und bildet nicht, wie man irriger Weise angenommen hat, einen Feuerball, sondern ist eine mit einer leuchtenden Hülle umgebene dunkle Kugel.

Die Kometen oder Schweifsterne, deren man wohl an 700 kennt und über 5000 vermuthet, schwingen sich vielleicht unabhängig von unserer Sonne in ungeheuren parabolischen Bahnen um andere Sonnen, durchfliegen mehrere Weltenfamilien und kehren erst nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden in die alten Himmelsgegenden zurück.

Es giebt keine Weltenkörper, welche so wenig Wirkung auszuüben vermögen als eben diese Kometen, und doch haben sie die frühere, ja zum Theil noch die gegenwärtige Menschheit in Angst und Schrecken gesetzt. Trotz ihrer völligen Unschädlichkeit selbst für den Fall einer wirklichen Berührung mit unserer Erde hat man sie für Boten des göttlichen Zornes angesehen und Pestilenz, Krieg, Theuerung und alles mögliche Unglück, ja sogar den Untergang der Welt mit ihrem Erscheinen in Verbindung gebracht.

Die Astronomen haben bewiesen, daß die Erde schon mehrere Male – das letzte mal am 24. Juni 1819 – durch einen Kometen hindurchgegangen ist und ebenso, daß solche Sterne in der nächsten Nähe an uns vorübergegangen sind und in Zukunft wieder vorübergehen werden, ohne daß davon die geringste Wirkung zu verspüren war und sein wird. Der Grund zu dieser vollständigen Unschädlichkeit liegt in der außerordentlichen Dünnheit des Stoffes, aus welchem sie bestehen und welche so bedeutend ist, daß z.B. unsere atmosphärische Luft mehrere hundert mal dichter noch ist als der Donati'sche Komet, welcher 1858 erschien.

[118]

[125] Die Bahnen dieser Himmelskörper sind so lang gedehnt, daß der Komet von 1680 der Sonne sich bis auf blos 30,000 Meilen näherte und sich dann wieder 3000 Millionen Meilen von ihr entfernte. Dieser Abstand äußerte auch eine auffällige Wirkung auf die Schnelligkeit seines Laufes, welche in der Sonnennähe 53 Meilen, in der Sonnenferne aber nur 6 Ellen in der Secunde betrug. Der Komet von 1858 braucht 2000, der von 1811 2840, ja es giebt einen, der sogar 102,500 Jahre braucht, um seine Bahn nur ein einziges Mal zu vollenden.

Bis auf Tycho de Brahe galten sie gar nicht für Weltenkörper, sondern nur für Lufterscheinungen (Meteore) und hatten also dasselbe Schicksal wie die Sternschnuppen, welche für atmosphärische Gebilde gehalten wurden, bis Chladni in Berlin im Jahre 1804 die später auch bewiesene Meinung aussprach, daß sie kosmischen Ursprung haben, Trümmern von Weltenkörpern seien und als Meteorsteine unsre Erde zuweilen besuchen, weil dieselbe ihre Bahn durchkreuzt.

So ungeheuer der Raum ist, welchen die Sonne mit den sie umschwimmenden Welten einnimmt, er ist doch verschwindend klein im großen, unausdenkbaren Weltgebäude. Schon mit bloßem Auge vermag man bei heiterem Nachthimmel 5000 Sterne zu zählen, während das bewaffnete Auge davon über 145,000 erkennt und man vermuthet, daß der ganze Himmel über 75 Millionen Sterne trägt.

Diese Sterne, wegen der scheinbaren Unveränderlichkeit ihres Standortes »Fixsterne« genannt, sind so weit von unsrer Erde entfernt, daß der Lichtstrahl, welcher doch in jeder Secunde 40,000 Meilen zurücklegt, vom Monde 11/2 Secunden, von der Sonne 8 Minuten 18 Secunden, von No. 61 des Schwanes 9 Jahre, vom Polarsterne 40 Jahre und von den Plejaden 700 Jahre braucht, um zu uns zu gelangen.

Bei dieser ungeheuren Entfernung ist es sehr wahrscheinlich, daß wir heut das Licht von Sternen sehen, welche längst schon in Trümmer gegangen sind und dagegen Welten noch nicht erblicken, die schon Jahrhunderte lang auf Bahnen wandeln, welche unser Rohr zu erreichen vermag. Und trotzdem richtet der Mensch seinen Blick nach oben, läßt sich von keinem Hindernisse schrecken und besiegt, je weiter er im Wissen vorschreitet, desto größere Schwierigkeiten, welchen die Vorwelt vollständig machtlos gegenüberstand.

Ist der Geist des Menschen wirklich ein Odem Gottes, so muß ihm auch die göttliche Allmacht innewohnen, welche sich immer mehr von den Fesseln des Endlichen befreit und emporstrebt zum Schauen und Erkennen. Was der Vergangenheit ein Wunder war, das ist der Gegenwart eine Leichtigkeit, etwas Alltägliches und Gewöhnliches, und wie der vom Drange der Wissenschaft beseelte Wanderer in die Wüsten der entlegensten Continente dringt und mit Todesgefahr und tausend Fährlichkeiten die Kämme der höchsten Gebirge übersteigt, so erfaßt das bewaffnete Auge einen Stern nach dem andern und bestimmt mit Hülfe der Spectralanalyse die Stoffe, aus welchem Himmelskörper bestehen, die selbst der Blitz erst nach Jahrhunderten erreichen könnte.

»Wo warst Du, da ich die Erde gründete? Sage mir es, bist Du so klug? Worauf stehen ihre Füße versenket und wer hat ihr einen Eckstein gelegt, da mich die Morgensterne lobeten und jauchzeten alle Kinder Gottes?« fragt Hiob, und seine Zeit mußte zu diesen Fragen schweigen, während wir vor ihnen nicht mehr zu erschrecken brauchen.

Diese »Kinder Gottes«, diese »Jerubim und Seraphim«, wie unsre Bibel die Sterne nennt jauchzen dem Herrn Sabaoth ihr Hallelujah von Ewigkeit zu Ewigkeit; wir vernehmen ihre Stimme und – sprechen nicht blos von der Musik der Sphären, sondern berechnen mit genauen Zahlen die Intervalle der großen Weltenharmonie.

Die Alten erklärten sich die Entstehung der Milchstraße durch die Sage von der Ziege Amalthea, welche am Himmel weidete und denselben mit ihrer Milch betröpfelte. Welcher Unterschied zwischen dieser kindlich naiven Anschauung und den Aufklärungen, welche uns die jetzige Astronomie ertheilt! Ist es uns auch nicht möglich, jene »Zervan akerene« (anfanglose Zeit), von welcher die persischen Religionsbücher berichten, zu begreifen, so dürfen wir doch mit Stolz auf die Errungenschaften der heutigen Wissenschaft blicken, und wenn wir auch nicht vermessen genug sein können, den Himmel stürmen zu wollen, so wissen wir doch, daß uns die Entwickelung mit wenn auch langsamen, aber doch sicheren und unaufhaltsamen Schritten zu ihm emporführen wird. Und das ist die Seligkeit, welche unsrer wartet; das ist das Reich Gottes, in welchem das kleine Senfkorn des menschlichen Wissens zu einem Baume heranwachsen wird, welcher ewige und unvergängliche Früchte trägt.

Die Heimath, die da droben unsrer wartet, zieht unser bestes und schärfstes Denken himmelwärts und nimmt unser Fühlen und Wollen gefangen in einer Sehnsucht, welche, den Meistern unbewußt, sich wie ein Faden durch unser ganzes Leben zieht.

In den unergründlichen Tiefen des blauen Aethers liegt unsre Zukunft verborgen; mag der Zweifler spotten, es kommt ihm doch die Stunde, in welcher ihn eine Ahnung des Zukünftigen, welchem er sich nicht entziehen kann, überwältigt, und es ist mit Nichtem ein Triumph des Menschengeistes, wenn er sich lossagt von dem Vertrauen zum Vater, der sein Kind aus der Finsterniß zum Lichte, aus dem Dunkel zur Klarheit emporziehen will an seine Rechte.

Wenn in stiller Abendstunde der ernste Blick sich zu dem funkelnden Diademe des Himmels erhebt und, wie magnetisch festgehalten, bei den Lichtern der Nacht, der »Tausendäugigen«, verweilt, so schwellt sich die Brust unter jenem Gefühle, für welches die Sprache noch nicht das rechte Wort erfand, weil [125] sie den Ort nicht kennt, nach welchem die Sehnsucht des einsamen Menschenherzens gerichtet ist.

Wie das entzückte Auge der Braut immer wieder zurückkehrt zu den strahlenden Steinen, mit welchen sie der glückliche Bräutigam zu schmücken strebte, so kann das sinnige Gemüth nicht lassen von den funkelnden »Runen« des Himmels, welche in unvergänglicher Sprache die Liebe »Alfadurs« predigen und ihr mildes, tröstendes und beruhigendes Licht herniedersenden in das Bangen und Verlangen des Erdenlebens.

Mag die Wolke zeitweilig sie verhüllen, sie erscheinen doch immer von Neuem, jene »Coyllur cunna«, die himmlischen Heere, wie das untergegangene Volk der Inka's die Sterne nannte; ihr Schimmer kann nicht lassen von der kleinen Erde und nimmt Abschied von dem einen Volke nur, um dem andern aufzugehen und im Verschwinden das Nahen des jungen Morgens, des hellen Tages zu verkünden. Und treu wie sie, ist ihnen auch der Mensch.

Klopft sein Puls schneller unter dem belebenden Drange der Freude oder befeuchtet die Wimper sich mit den Perlen des Leides, legt der Kummer sich wie ein Berg auf die ermüdende Seele oder verdoppelt begeisternde Hoffnung die Kraft des denkenden Geistes, des schaffenden Armes, jede Regung seines Innern richtet die Sterne seines Auges empor zu ihren himmlischen Brüdern und macht sie zu Vertrauten seines Schmerzes, seines Glückes.

Und was Tausende unbewußt thun und unbeachtet empfinden, dem giebt der Dichter deutlichen Ausdruck in den Klängen, welche seiner Leyer entströmen, um hinauf zu tönen »über die Wolken.«

Der alttestamentliche Seher sieht mit prophetischem Blicke die Hoffnung seines Volkes sich erfüllen durch das Aufgehen von dem »Sterne« Davids, und die Geburt des gottähnlichsten der Menschen ward verkündet durch den Lobgesang der »himmlischen Heerschaaren« und das Erscheinen jenes Heroldes, von welchem die drei Könige sagten: »Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenlande«.

Die packende Macht der biblischen Poesie knüpft die höchste Seligkeit an das Wort »Himmelreich« und verdeutlicht das größeste Entsetzen durch das Bild der fallenden Sterne. Mit überwältigenden Worten schildert der »Gottessohn« den Hereinbruch des göttlichen Strafgerichtes: »Es werden Sonne und Mond den Schein verlieren; die Sterne werden hernieder fallen, und die Kräfte der Himmel werden sich bewegen. Alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden.« Wie er, so that schon Moses, der große Führer und Gesetzgeber des Volkes Israel, welcher den Fluch der Sünde nicht drohender verkündigen konnte, als in den Worten: »Der Himmel über Deinem Haupte wird sein wie Erz, die Erde unter Deinen Füßen wie Eisen, und Staub und Asche wird es regnen!« Lieblich und verheißungsvoll dagegen klingt sein Segen über Asser, dem Sohne Jacobs: »Der im Himmel sitzet und daß Herrlichkeit in den Wolken ist, der sei Deine Hilfe!«

Und wie die Bibel, – Sung Tscheet, das »himmlische Buch,« wird sie von den Chinesen genannt – so weist auch das fromme Kirchenlied die Sehnsucht nach Gottes Liebe und Segen immer nach oben.


»Befiel Du Deine Wege
Und was Dein Herz nur kränkt,
Der allertreusten Pflege
Deß, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
Giebt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Wo Dein Fuß gehen kann!«

singt Paul Gerhardt, und nie ist wohl das Gottvertrauen besser ausgesprochen und begründet worden, als in dem einfach schönen Kinderliede


»Weißt Du, wie viel Sternlein stehen
An dem blauen Himmelszelt,
Weißt Du, wie viel Wolken gehen
Weithin über alle Welt etc.«

Wenn der Dichter der Urania singt:

»Nächtlich einsam wandl' ich durch die Haide,
Wo mein Geist den weiten Raum durchschifft.
Wer enthüllt mir diese Sternenschrift
An dem feierlichen Prachtgebäude,«
so antwortet ihm der Sänger des Vaterunsers:
»Du hast die Säulen Dir aufgebaut
Und Deine Tempel gegründet.
Wohin mein gläubig Auge nur schaut,
Dich Herr und Vater es findet!«

und wie die Pflanze nicht am Tage wächst, sondern dann, wenn die Sonne hinter dem Horizonte verschwunden ist, so ist es auch »Dunkelglanzmähne,« wie die nordische Mythologie die Nacht nennt, welche vorzugsweise das Gemüth zu jenem ernsten Sinnen stimmt, aus welchem der Glaube sein Wachsthum zieht. Der Tag schlingt um den Menschen die Fesseln der Arbeit und der Sorge; die Nacht befreit ihn aus diesen Banden, gewährt ihm Ruhe und spricht zu ihm von der Aufgabe, welche höher ist als alle seine irdischen Verpflichtungen.

Das Herz mit seinen unergründlichen Tiefen und unerforschten Räthseln ist dem Firmamente verwandt. Wie die Höhen des Himmels hat es seine Sterne, seine Meteore, seine Wolken, und darum macht es seine schönsten Rechte am Liebsten dann geltend, wenn die Abenddämmerung ihren duftigen Schleier über die Erde gewoben und der letzte Strahl des sinkenden Tages die erglühenden Spitzen der Berge zum Abschiede geküßt hat.

Dann lächeln die Sterne so »freudvoll und leidvoll« von oben herab, und so »leidvoll und freundvoll« hebt sich die Brust unter den Regungen des kleinen und doch so großen Menschenherzens.

Und wie der glanzumflossene Bogen des Himmels sich so gern mit der krystallenen Fluth vermählt und sein Bild in sie herniederlegt, so schickt der Himmel, welcher im Allerheiligsten der menschlichen Brust ruht, sein Bild empor in das Krystall des Auges und breitet seine verklärenden oder verdüsternden Farben selbst über die Züge des Angesichtes.

Wer in das reine Auge eines Kindes, in das verzeihende Auge einer Mutter gesehen oder dem vertrauensvollen, hingebenden Blick der Geliebten begegnete, der hat die Seligkeit gefühlt, welche dieser Himmel zu spenden vermag. Möge Jeder sein Herz bewahren in treuer Sorge; denn auch er trägt einen Himmel in demselben, auf dessen Sternenstrahl die Seinen ein heilig Anrecht haben! –

[126]

2. Land und Wasser

In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. Nr. 17–18. S. 133–134 u. 141–142. – Dresden: H.G. Münchmeyer (1876). Reprint in: Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. Mit einer Einführung von Klaus Hoffmann. Hildesheim, New York: Olms Presse 1979.

[133] 2.

Land und Wasser

Er hat um das Wasser ein Ziel gesetzet, bis das Licht sammt der Finsterniß vergeht.

Hiob.


Jede Bewegung verursacht ein Geräusch, einen Ton, dessen Höhe und Tiefe von der Geschwindigkeit der Bewegung sowohl als auch von der Beschaffenheit und Größe des sich bewegenden Körpers abhängig ist. Die Bewegung der Himmelskörper muß also auch von Tönen begleitet sein, eine Annahme, auf welche sich die Vermuthung begründet, daß da droben im unendlichen Aether ein ununterbrochenes und gewaltiges Singen und Klingen stattfinde, welches man die »Musik der Sphären« genannt hat.

Es scheint, daß bei dieser Vermuthung sehr viel Phantasie aufgewandt worden ist; denn bei der außerordentlichen Dünnheit des Aethers fehlt es im Himmelsraume wahrscheinlich an jedem Mittel, einen Schall fortzupflanzen und also wahrnehmbar zu machen. Das schwache menschliche Ohr wäre unmöglich im Stande, jene Klänge auch nur für eine Minute auszuhalten, und der erste Schritt in die Unendlichkeit würde unfehlbar vom augenblicklichen Tode begleitet sein.

Aber gäbe es eine Möglichkeit, sich hinaufzuschwingen zwischen die Bahnen der Sterne und dort einen festen Punkt zu gewinnen, um die Millionen von Welten an sich vorübersausen zu lassen, so würde auch ohne jene tödtenden Klänge der Eindruck ein gar nicht mit der menschlichen Sprache zu bezeichnender sein. Die fast gedankenschnelle Bewegung der uns in allen Richtungen umblitzenden Sphären wäre mit dem Auge gar nicht zu fassen. Eine Sonne, welche jetzt als ein kleiner, kaum wahrnehmbarer Punkt am fernen Horizonte erschiene, würde im nächsten Augenblicke als ein unendlicher, blendender und Alles versengender Feuerball von kaum meßbarer Größe an uns vorüberzucken und fast in demselben Momente als stecknadelkopfgroßes Johanneswürmchen am entgegengesetzten Ende des Gesichtskreises wieder verschwinden. Und in diesem nie ruhenden, ewig wogenden Meere glanzumflossener Himmelskörper wäre unsere von unzähligen Millionen Wesen bevölkerte Erde einer der kleinsten, der verschwindendsten Tropfen, obgleich auch sie einen überwältigenden Anblick böte, wenn es möglich wäre, z.B. vom Monde aus uns ihr zu nähern und allmählich auf ihre Oberfläche herabzusteigen.

Stellen wir uns im Geiste auf die Spitze eines der Ringgebirge des Mondes, welcher der Erde immer nur eine und dieselbe Seite zukehrt, so würde uns der von uns bewohnte Planet als eine helle Scheibe von ungefähr fünf Fuß Durchmesser erscheinen, auf deren Oberfläche, ebenso wie wir es von der Erde aus auf der Mondscheibe bemerken, lichtere und dunklere Partieen wahrnehmbar wären. – Und könnten wir unseren Standort verlassen, um uns der Erde zu nähern, so würde ihre Größe zunehmen, je weiter wir an sie herankämen.

Die lichteren Stellen würden das Meer bezeichnen, dessen Wasser die darauffallenden Sonnenstrahlen kräftiger reflectiren, als es von dem Festlande geschieht, dessen Thalpartieen wieder dunkler erschienen, als die Höhen der Gebirge.

Erst nur mit dem Rohre, bald aber auch mit dem bloßen Auge würden wir einen Schleier bemerken, welcher theils in festen, compacten und cumulirenden Massen, theils auch zerrissen und in federigen oder langgestrichenen Zügen unserm Blicke von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort die Erde verhüllt und seine Schatten auf dieselbe wirft. – Es sind die Wolken.

Bald auch würden wir bemerken, daß uns ein unsichtbarer Stoff umgiebt, dessen Dichtigkeit und Widerstandskraft zunimmt, je weiter wir uns der Erde nähern. Wir würden seine Bewegungen fühlen und den Einfluß, welchen er auf unsere Constitution äußert, immer deutlicher empfinden. – Es ist die atmosphärische Luft, welche die Erde als ein flüssiges Meer umfluthet, dessen Tiefe man nach verschiedenen Gesichtspunkten zu bestimmen vermag.

Zu athmen vermag der Mensch nur bis zu einer Entfernung bis zu drei Viertel Meilen von der Erdoberfläche. Lambert schätzte die Tiefe des Luftoceans auf 4, Birt auf 61/2, Halley auf 91/2 und Kepler auf 10 Meilen. G. Schmidt stellte die wirkliche Höhe der Lufthülle da, wo ihre sie emportreibende Federkraft und die sie herabziehende Anziehungskraft der Erde im Gleichgewichte stehen, auf 27 Meilen, während Laplace, einer der größesten Naturkundigen, die Grenze der Höhe, bis zu welcher die Lufthülle der Erde noch angehören kann, da bestimmt, wo die nach obenhin zunehmende Centrifugalkraft mit der Schwere ins Gleichgewicht kommt und diesen Punkt, über welchen hinaus jedes Lufttheilchen von der Erde fortgeschleudert würde, auf 5682 Meilen berechnet.

Die atmosphärische Luft besteht außer einer Wenigkeit an Kohlensäure aus

77 Gewichtstheilen oder 79 Raumtheilen Stickstoffgas und
23 Gewichtstheilen oder 21 Raumtheilen Sauerstoffgas;

die große Menge, welche ein Mensch an Sauerstoff verbraucht, ist aber so gering gegen den Sauerstoffgehalt des Luftoceans, daß die ganze jetzt lebende Menschheit zehn Millionen Jahre athmen könnte, ehe sie ihn verbraucht hätte.

700 Kubikzoll Luft wiegen ungefähr 31 Gran, und auf jeden Quadratzoll der tiefsten Stellen der Erdoberfläche drückt die ganze Masse der daraufruhenden Luftsäule mit einem Gewichte von 15 Pfunden. Ein erwachsener Mensch, dessen Körper etwa 12 Quadratfuß Oberfläche bietet, trägt also, ohne es zu bemerken, einen Luftdruck von 34,300 Pfund.

Das Weltmeer, welches sich unserm Blicke als ein riesiges, blitzendes und schillerndes Ungeheuer, dessen unzählige Arme wie die Fänge eines monströsen Polypen das Festland umfassen, darstellt, trennt das Letztere in zwei große Continente [133] und eine unzählige Menge kleinerer Landestheile, welche, da sie ganz von Wasser umgeben sind, Inseln oder Eilande genannt werden. Streng genommen sind auch die beiden Festländer Inseln, da auch sie ringsum von den Fluthen des Wassers umspült werden.

Dem Flächenraume nach verhalten sich die Erdtheile wie folgend zu einander:


Asien ...793,964Qu.-Meilen,
Amerika ...750,055Qu.-Meilen,
Afrika ...543,570Qu.-Meilen,
Europa ...182,571Qu.-Meilen,
Australien ...161,452Qu.-Meilen,
Land am Südpol ...2,288Qu.-Meilen.
Summa:2,433,900Qu.-Meilen.

Asien participirt also mit 40, Amerika mit 35, Afrika mit 24, Europa mit 10, Australien mit 8 und das Südpolland mit 3 Theilen an der Masse des festen Landes.


Von der Oberfläche des Wassers kommen auf


das nördliche Eismeer200,000Qu.-Meilen,
das südliche Eismeer350,000Qu.-Meilen,
das indische Meer1,313,000Qu.-Meilen,
den atlantischen Ocean1,635,000Qu.-Meilen,
den großen Ocean3,329,000Qu.-Meilen.
Summa:6,827,000Qu.-Meilen.

Also verhalten sich die Flächen der fünf Meere in der angegebenen Reihenfolge ungefähr wie 4, 7, 26, 33 und 67.

Die Stellen, an denen Festland und Wasser zusammenstoßen, also die Küsten, sind in ihrer Ausdehnung und Beschaffenheit von ungemeinem Einflusse auf die Entwickelung der Länder und deren Bevölkerung. Je größer die Ausdehnung der Küste ist und je weniger Gefahr dieselbe der Schifffahrt entgegenstellt, desto günstigere Erfolge bietet sie den wirthschaftlichen Bestrebungen. Außer Australien, dessen Küstenlänge wegen der großen Anzahl von Inseln schwer zu bestimmen ist, besitzen an Ausdehnung der Küste


Afrika3,520Meilen,
Europa4,300Meilen,
Asien7,700Meilen und
Amerika8,400Meilen,

eine Zusammenstellung, welche sehr zu Gunsten des letztgenannten Landes ausfällt.

Wollte man fragen, wie viel Wasser die ganze Erde besitzt, so würde es unmöglich sein, eine Antwort darauf zu geben. Der Inhalt der Meere, Seen, Ströme, Flüsse und Bäche läßt sich nicht genau bestimmen, ebenso wenig derjenige der Wolken. Jeder Körper, und sei er noch so fest, noch so dicht, hat flüssige Bestandtheile an sich, und die Unmöglichkeit einer solchen Beantwortung leuchtet am meisten ein bei der Betrachtung, daß das feuchte Element sich in stetem, nie rastendem Umlaufe befindet.

Das reine oder destillirte Wasser besteht ungefähr aus zwei Volumen Wasserstoffgas und einem Volumen Sauerstoffgas und ist fast nur auf künstlichem Wege herzustellen, da selbst das ihm am ähnlichste Regenwasser selten vollständig rein die Erde berührt. Das Gewicht des Wassers ist demjenigen der Luft gegenüber so groß, daß eine nur 32 Fuß hohe Wasserüberfluthung des Erdballes denselben Druck ausüben würde, wie die ganze ungleich höhere Luftatmosphäre. Daher kommt es, daß das Wasser in einer Pumpe nur 32 Fuß hoch steigt und nur bei tieferstehender Klappe durch mechanische Kraft höhergetrieben werden kann.

Am meisten mit fremdartigen Bestandtheilen gemischt ist natürlich das Seewasser, welches beispielsweise im nördlichen atlantischen Ocean unter 100,000 Theilen


2,660Theile Chlornatrium,
510Theile Chlormagnesium,
123Theile Chlorcalcium und
466Theile schwefelsaures Natron, also in Summa
3,765feste Theile mit sich führt.

Diese Salzung des unermeßlichen Weltmeeres ist auch eines jener großen Naturgeheimnisse, deren Ergründung dem Menschen die schwierigsten Hindernisse in den Weg legt. Lassen wir die Aufklärung der Zukunft über und begnügen wir uns mit der dankbaren Anerkennung der göttlichen Weisheit, welche durch die Vermischung des Festen mit dem Flüssigen eine dem Leben der Erde so segensreiche Anordnung traf.

Was die Tiefe des Meeres betrifft, so ist dieselbe natürlich nicht eine gleichmäßige, und wir verdanken ihre Kenntniß erst der neuern Zeit. Zwischen Brasilien und St. Helena ist bei 26,000 Fuß der Grund noch nicht erreicht worden und auf der Linie von Amerika nach Tristan da Cunha will man im Jahre 1852 die ungeheure Tiefe von 46,200, ja sogar von 49,800 Fuß ermittelt haben, also eine weit über zwei deutsche Meilen betragende Entfernung zwischen dem Boden und der Oberfläche des Meeres. Nimmt man die Spitzen der höchsten Gebirge auf rund 28,000 Fuß an, so ergiebt sich eine Erhebung der Erdrinde bis zu 77,000 Fuß, und mit Erstaunen muß man an die Gewalten denken, welche solche Massen festen und schweren Gesteines bis über die Wolken emportrugen.

Während diese Gewalten, dem Feuer des Erdinnern entströmend und den daselbst eingeschlossenen Gasen angehörig, die riesigsten Gebirgsstöcke in wenigen Stunden emporzuthürmen im Stande waren, äußerte das Wasser einen wenn auch langsamen aber doch nicht weniger umgestaltenden Einfluß auf die Beschaffenheit der Erdoberfläche. Der Tropfen, welcher aus der Wolke fiel, um das Meer zu suchen und auf dem Strahle der Sonne wieder emporzusteigen, wirkt ohne Unterlaß auflösend, fortführend und neugestaltend und bildet den Schlüssel, welchem sich die Fruchtbarkeit der Erde öffnet, um Leben und Bewegung selbst aus dem todten Steine springen zu lassen.

Die alte Anschauung von der Vierzahl der Elemente, Feuer, Wasser, Luft und Erde, ist nicht so absurd und lächerlich, wie es Dem und Jenem zuweilen erscheinen mag. Wenn diese vier Dinge auch nicht die Grundbestandtheile der Naturkörper bilden, so liegen in ihnen doch die Grundbedingungen alles irdischen Lebens, und wenn die Erde den Schauplatz zu diesem Leben bietet, so ist es das Wasser, welches der Luft und dem Lichte den Zugang ermöglicht und ihre Wirkungen vorbereitet.

Und dieses Leben, es blüht und glüht nicht blos auf der Erde, sondern es legt seine unzähligen Gestaltungen ebensowohl in den winzigsten Tropfen wie in die ewig sich neugebährenden Fluthen des unermeßlichen Oceans. Ja, gerade im Wasser begegnet das Auge des Kundigen einer größeren, reicheren und fast überwältigenden Menge von Lebensformen, als außerhalb desselben im freien Lichte der Sonne.

[134]

[141] Fragen wir nicht, wie beide, Land und Wasser, sich in einer Schöpfungsperiode bildeten, welche um viele Jahrtausende hinter der Gegenwart liegt. Sie sind da und tragen das Ihrige zu den Bestandtheilen des Körpers bei, welcher uns und allen irdischen Wesen gegeben ist. Bewundern wir vielmehr die Allmacht Gottes, welche aus einer Hand voll Staubes und einer kleinen Menge Wassers Körper formte, deren Darstellung selbst der größesten Kunst und Wissenschaft eine ewige Unmöglichkeit bleiben wird und die zur Wohnung von Geistern dienen, deren Ursprung und Zukunft als unerforschte Räthsel in der Hand des himmlischen Vaters liegen.

Die alten Bewohner Mesopotamiens erzählten sich eine Geschichte von Oannes, dem großen Lehrer, welcher aus den Fluthen des Wassers stieg, um die Menschen zu unterrichten in Allem, was ihnen zu wissen nöthig war. Diese Sage sollte den Einfluß bezeichnen, welchen das flüssige Element auf die Entwickelung der Erde und ihrer Bewohner hervorbringt, die durch die friedlichen oder zerstörenden Wirkungen des Wassers freiwillig oder gezwungen zu Betrachtungen und Beobachtungen geführt wurden, deren kluge Befolgung eine immer weitere Bildung nach sich zog.

Wenn der Psalmist die Angst seines Herzens nicht besser und wahrer zu beschreiben vermag, als durch die Worte: »Gott, hilf mir, denn das Wasser gehet mir bis an die Seele!« so durfte er für eine Qual seines Herzens Trost bei dem Allgütigen suchen und finden; wenn aber die wirklichen Fluthen über das Land brausen und dem bedrohten Menschenkinde »bis an die Seele gehen,« so führt kein Gebet, sondern die kräftige Anstrengung seines schwimmenden Armes ihn an das rettende Ufer, und die Noth und Gefahr wird ihm zur Lehrerin, deren Stimme er niemals wieder vergessen kann.

Wie sehr die todte, starre Erde des belebenden Wassers bedarf, zeigt sich am Augenfälligsten da,


» ... wo sich im Sonnenbrande
Die öde Hammada erstreckt
Und man im glühend heißen Sande
Nicht einen grünen Halm entdeckt,«

wo die zitternden Reflexe des Sonnenlichtes sich als Mark und Bein verzehrende Fluth über den sterilen Boden lagern und es nur dem künstlich emporgezwungenen Tropfen gelingt, aus dem versengten Lande eine Oase, »das grünende Auge der Wüste,« hervor zu zaubern. Und der Segen des einzelnen Tropfens wächst mit dem hervorsprudelnden Quell, dem schwellenden Bache, dem rauschenden Strome und findet seine größte Bedeutung in den »Leben spendenden Wogen des Meeres.«

Darum waren schon in den ältesten Zeiten die Wellen der Schauplatz heiliger Handlungen, ja sogar Gegenstand der Anbetung, darum sprach Christus am Brunnen zu Sichar vom »Wasser des Lebens«, und darum knüpfte er an das Wasser sein Sacrament von der Aufnahme in den Bund der christlichen Kirche.

Anfänglich stand der Mensch rathlos vor dem brausenden Schwalle der Brandung und schrieb sein »Finisterre« an die vom schäumenden Gischte bedeckten Felsen der Meeresküste. Bald aber trieb ihn die Notwendigkeit oder der Unternehmungsgeist hinaus auf die offene See; die Ungeheuer, mit denen seine ängstliche Phantasie die feuchte Tiefe bevölkert hatte, kleideten sich in freundliche Formen; die Säulen des Herkules, die Scylla und Charypdis verloren ihre Schrecken, und das kühne Auge des Entdeckers erkannte in dem »weltumgürtenden« Oceane einen Sammelplatz unerschöpflichen Reichthums und die Tummelstätte eines alle Länder verbindenden und alle Völker mit sich fortreißenden Verkehres.

Die Gefahren und Wunder des Oceans, welche den früheren Menschen erschreckten, haben dem männlicher gewordenen Geiste gegenüber ihr Fürchterliches verloren und reizen ihn zu jenem fruchtbaren Forschen und Wagen, welches trotz allen Martyrerthums für Wissenschaft und Leben gleich große Erfolge in sich birgt. Sein »Sesam, thue dich auf!« schallt gebieterisch über die Schätze bergenden Wasser; seine segelbefiederten Adler schlagen, vom hohen Stapel stürzend, ihre schimmernden Schwingen von Küste zu Küste, von Continent zu Continent; seine Dampfräder schäumen durch Ebbe und Fluth, und seine Maschinen bohren die mächtigen Schrauben durch Strudel und Strömungen; seine Eisenschienen überbrücken die Arme der Meere, seine Tunnels steigen bis unter den Grund der Flüsse und des Oceans, und sein geflügeltes Wort zuckt mit dem electrischen Funken hoch in der Luft und tief unten im Grunde der See rund um die wirbelnde Erde. Für ihn hat »das Wasser Balken,« denn er ist Herr des Elementes geworden, welches nur Dem sich feindlich zeigt, welcher sich muthlos und feig vor den Gewalten beugt, die dem Geschlechte der Menschen zu Diensten bestimmt sind.

Land und Wasser. Wie verschieden sind beide einander, und doch giebt es Aehnlichkeiten zwischen ihnen. Man stelle sich auf den Stock eines hohen Gebirges und werfe das Auge auf die rundum in immer größerer Tiefe und Entfernung sich wellenförmig wölbenden, bald den blitzenden Sonnenstrahl zurückwerfenden, bald in Grün sich kleidenden und in dunstblauer, nebelhafter Ferne sich verlierenden Bergeskuppeln, und der Eindruck wird derjenige eines Meeres sein, dessen Wogen unter dem Winke eines allmächtigen Willens mitten im Sturme zu Stein erstarrt sind. Und man stelle sich an das Ufer des Oceans; man sehe, wie seine Fläche sich weit und immer weiter ausbreitet, eine Welle, eine Woge hinter der andern sich emporthürmt und die drohenden Wasser aufsteigen wie eine in verschwimmender Höhe bis in die Wolken und den Aether reichende Wand, und der Eindruck [141] wird derjenige einer Gebirgsmasse sein, welche, in den Gluthen des Erdinnern brodelnd und von denselben emporgehoben, ihre Häupter und Gipfel in ewiger Bewegung durcheinander wirft. –

Wenn Lenau sagt:


»Wie mich oft in grünen Hainen
Ueberrascht ein dunkles Weh,
Muß ich nun auch plötzlich weinen,
Weiß nicht wie, hier auf der See,«

so klingt aus seinen Worten die Aehnlichkeit zwischen Land und Wasser in der Wirkung, welche der Anblick des Mächtigen, des Erhabenen in der Menschenbrust hervorbringt. Es ist jenes Empfinden der gegenwärtigen Kleinheit und Bedeutungslosigkeit, jenes Ahnen einer besseren und höheren Zukunft, welches das Herz beschleicht, den Busen schwellt und das Auge unwillkürlich mit wehmüthigen und doch wohlthuenden Thränen befeuchtet. Und wer diese Macht des Eindruckes empfunden, der kann und mag nimmer davon lassen. Mag die Armuth den Gebirgsbewohner weit hinaus in die Fremde, hinunter in das flache Land treiben, er muß doch zurück und findet Ruhe nur zwischen den aufstrebenden Zacken seiner Berge, und mag der Seemann weit hineinwandern in das grünende und blühende Land und schwelgen in Vogelsang und Blumenduft, es kommt doch die Stunde, in welcher ihn die Sehnsucht nach dem Meere übermannt und ihn zurückzieht auf die Planken seines Fahrzeuges, wo er dem gewohnten Sogge lauschen und dem Sturme kühn die Stirn bieten kann.

Ihm ist das Meer die Geliebte, welche mit ihrer Schönheit seine Sinne gefangen nimmt, in nie sich erschöpfender, wechselvoller Laune ihn in steter Arbeit und Bewegung erhält und sich bald mit freundlichem Lächeln, bald mit schmollendem Zürnen, bald mit drohender Erregung seinen Willen unterwirft.

Ja, es ist wahr, mag das Festland der Gefahren und Abenteuer noch so viele bieten, so ist doch die See das fruchtbarste Feld zur Bewährung des persönlichen Muthes, der Besonnenheit, der Geistesgegenwart, überhaupt der Ueberlegenheit des Geistes über die Materie. Denken wir uns einen Sturm, wie ihn der Dichter beschreibt:


»Und siehe, aus der weiten Ferne
Zieht doch das Wetter schon heran;
Es fliehen ahnungsvoll die Sterne
Und der Passat wird zum Orkan.
Da glühet in dem Wetterleuchten
Der aufgeregten Wogen Gischt,
Die, als ob sie zum Himmel reichten,
Sich bäumen, daß es dampft und zischt.
Da hängt die Wolke bis zur Welle,
Der Himmel bis ins Meer herab;
Da stürzt der Blitz, der tageshelle,
Sich flammend in das feuchte Grab.
Die Windesbraut, das Steuer höhnend,
Reißt jäh die Barke mit sich fort.
Gebeugt von ihrer Wucht, stürzt dröhnend
Der Mast zu Deck und über Bord.
Da höret man der Brandung Brausen;
Schon glänzet durch die Nacht ihr Schaum –
Ein Stoß – ein Schrei – und Wogen sausen
Durch Leck und Luken in den Raum.
Da sitzet an dem frühen Morgen
Das Wrack am öden, fernen Strand,
Da ruhet Alles wohl geborgen
Tief unten in des Meeres Sand;
Da liegt der Mensch mit seinem Hoffen,
Mit all' dem Glück, das ihm gelacht,
In seiner besten Kraft getroffen
Von einer einz'gen Wettersnacht,«

so muß man dem kühnen Manne, welcher sich dem schwachen Baue seiner Hände anvertraut, um sich durch Noth und Tod zum fernen Land zu ringen, wohl Bewunderung zollen. Er kämpft mit der Macht des Sturmes und des Wetters, der Strömungen und Gezeiten und weiß selbst der Barre, dem Maskaret, der Bore oder Pororóca zu entgehen, jener furchtbarem senkrechten Wassermauer, welche unter meilenweit hörbaren Brüllen aus dem Meere in die Mündungen der Ströme tritt und allem Menschenwerk mit augenblicklicher und vollständiger Vernichtung droht. Er segelt mit demselben Muthe unter der Hitze des Aequators, welche die Planken seines Schiffes ausdorret, sodaß der Theer aus allen Fugen läuft, wie in den Breiten des Nordpoles, wo er sich durch die Flarden des gefrorenen Meeres sägt und zwischen Eisbergen schwimmt, deren Größe man schon auf 1500 Millionen Kubikfuß geschätzt hat.

Die Verachtung aller Gefahr geht sogar so weit, daß z.B. einer der berühmtesten englischen Seeleute den atlantischen Ocean nicht anders als »den alten Häringsteich« nannte, ein Umstand, der es uns nicht als ein Wunder erscheinen läßt, daß die Chinesen die Engländer am Liebsten mit dem Worte »Yang-kuei-dze«, d.h. »Meerteufel«, bezeichnen.

Flüchtig und ruhelos wie die beiden Elemente, in denen sie sich bewegen, sind die Erscheinungen des Oceans gegenüber denen des Festlandes, welches dem Anker einen Grund und dem Menschen eine Heimath gewährt. Deshalb hat die bleibende Scholle einen unendlich höheren Werth für den Erdensohn als die trügerische und flüchtige Woge, und mit Blut und Leben steht er ein für das Fleckchen Erde, welches er sein Eigen oder sein Vaterland nennen darf.


»Wir pflügen unser eigen Land;
Wir habens wohl errungen.
D'rum fechten wir auch Hand in Hand
Wenn Feinde eingedrungen«

klingt es im Yankee-Doodle, und dieses Erringen und Behaupten hat Heldenthaten geboren, von denen »noch der Nachwelt Stimme spricht.«

Wen das Schicksal, ihm den ruhigen Genuß des heimischen Heerdes verwehrend, hinaustrieb in die weite Welt, der lernt aus der Größe seiner Entsagung und der Macht seiner zurückblickenden Sehnsucht die Bedeutung des Verlorenen erkennen; denn wenn wir auch hier »keine bleibende Stätte haben,« so sind wir doch mit tausend Banden an den Boden gefesselt, dem wir entwuchsen, und ob die Fremde uns noch so Vieles gewährt, Eins versagt sie uns doch: die Stillung jenes tiefinnern Wehes, welches Conrad Crez, der deutsche Dichter in Amerika, so treffend zu zeichnen versteht:


»Land meiner Väter, länger nicht das meine,
So heilig ist kein Boden, wie der deine.
Nie wird dein Bild aus meiner Seele schwinden,
Und knüpfte mich an dich kein lebend Band,
Es würden mich die Todten an dich binden,
Die deine Erde deckt, mein Vaterland!«
[142]

3. Berg und Thal

In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. Nr. 19–21. S. 149–150, 157–158 u. 165–167. – Dresden: H.G. Münchmeyer (1876). Reprint in: Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. Mit einer Einführung von Klaus Hoffmann. Hildesheim, New York: Olms Presse 1979.

[149] 3.

Berg und Thal

»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hülfe kommt.«

Ps. 121, 1.


Selbst für den nüchternsten Realisten liegt in diesen Worten der frommen alttestamentlichen Poesie eine Aufforderung zum Nachdenken.

Es giebt keine Erscheinung der irdischen Natur, welche nicht unter dem bestimmenden und leitenden Einflusse jenes großen, erhabenen Geistes stände, nach welchem »der Zweifler« fragt:


»Waltet er im Glanz des Weltenstromes
Und im Bach, der durch die Felsen hüpft?
Lebt ein Gott im Menschen und im Wurme?
Hör ich ihn hier in dem Donnersturme,
Dort im Säufeln, das durch Mythen schlüpft?«

»Führe ich gen Himmel, siehe, so bist Du da; bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist Du auch da; nähme ich Flügel der Morgenröthe und bliebe am äußersten Meere, so würde doch Deine Hand daselbst mich führen und Deine Rechte mich halten!« Er klopft im Pulse des Menschenherzens wie im wogenden Busen des Meeres, er blitzt im Leuchten des Wetters und fährt durch die Himmel auf grollendem Donner, er waltet im Keime des Senfkornes und rauscht durch die riesigen Blätter des heiligen Zamang, er zuckt in der kleinsten Molluske und dampft aus den Nüstern des Wales, er rollt auf dem klingenden Wüstensande und braust um die stürzende Lawine, er leitet die kleinste Bewegung und beherrscht das riesigste Leben, ja, selbst die leblose Creatur ruht in seiner Hand: er sammelt in Adern das schimmernde Metall, macht aus Erde den leuchtenden Krystall, hebt die Giganten des Gebirges empor und schleudert die Flamme der Unterwelt durch die speienden Krater der Vulkane.

Nicht seine Gesetze sind es, sondern er selbst ist das Gesetz, nach welchem die Erde ihre Schluchten und Abgründe öffnet, ihre Ebenen dehnt und ihre Berge dunkel und schwer wie drohende Wolkenmassen sich höher und höher wölben und thürmen läßt. »Die Berge sahen Dich,« ruft der Prophet, »und ihnen wurde bange; der Strom des Wassers fuhr daher, die Tiefe ließ sich hören und die Höhe hob ihre Hände auf.« Nicht ein blinder Zufall ist es, welcher diesen Höhen ihre Richtung gegeben, den Flächen ihre Grenzen gesteckt und den Thälern ihren Lauf bezeichnet hat, sondern die bildenden und umgestaltenden Kräfte der Natur müssen, gehorsam einem allweisen und allgütigen Willen, ihre Felsenmauern grad' an dem Orte und in der Weise errichten, wo und wie es für das Bestehen und Wohlbefinden unserer sublunarischen Daseinsformen erforderlich und ersprießlich ist. Und dann schlägt, wie einst sein diener Moses, der Allmächtige an das todte Gestein, daß es sich öffnet, sich zertheilt, sich auflöst und Leben und Segen aus ihm hervorquillt für das weite Land und Alles, was auf demselben sich regt und bewegt.

Wie eine zwar oft zu Boden gerungene, immer aber stolz und siegreich sich wieder erhebende Riesin, den majestätischen, festen und langsamen Schritt zuweilen zu einem weiten, kühnen Sprunge beschleunigend, läuft jene Gebirgskette, welche aus dem sturmdurchwühlten Meere des Cap Horn an das Land von Südamerika steigt, nach Norden, wälzt ihre steinernen Wogen über die Landenge von Panama, senkt sich nieder in die Schnee- und Eisfelder der polarischen Zone, überschreitet, von Schritt zu Schritt das Felsenhaupt aus den Fluthen tauchend, die See von Kamtschatka, breitet ihre sich immer höher und machtvoller reckenden Glieder vom Lande der Tschuktschen aus über die ganze ungeheure Ländermasse, welche aus dem indischen Oceane sich erhebt, um im nördlichen Eismeere sich wieder zu verlieren, reckt die Mittelländer Afrika's zum Himmel auf und tritt herüber in das vielgespaltene Europa, welches sie in den mannigfaltigsten Zügen und Windungen liebevoll stützt und umarmt, um dann über den Dschevel al Tarik Anschluß zu suchen oder in den Insel des atlantischen Meeres sich zu verlieren.

Diese mächtige Reihenfolgen von Gebirgen bildet das Knochengerüste der Erde, welches dem Festlande Gestalt, Halt, Dauer und Physiognomie verlieht, die physikalischen Verhältnisse regelt und jedem Leben, jeder Bewegung einen deutlich erkennbaren Character aufprägt.

An dieses Gerippe legen sich die Flach- und Tiefländer der Erde, wie das Fleisch um das Skelet des animalischen Körpers, und die Vereinigung beider ist eine so verschiedene, daß die Oberfläche unseres Planeten in Beziehung auf ihre Gestaltung die reichste Abwechselung bietet.

Das Gebirge, um welches sich das Festland Amerika's lagert, sind die Anden, deren in Südamerika verlaufender Theil von den Geographen vorzugsweise mit dem Namen der Cordilleren bezeichnet wird. Dieses Wort heißt zu deutsch »Kette« und giebt ein deutliches Bild von der Gestaltung der ohne Unterbrechung fortlaufenden Bergesreihen.

Den Cordilleren gebührt der Ruhm, das längste Gebirge der Erde zu sein, wenn man einmal von der innern Zusammengehörigkeit sämmtlicher Bodenerhebungen absehen will. Freilich ist ihre Breite eine desto unbedeutendere, denn sie beträgt in Südamerika durchschnittlich kaum 18-20 Meilen, während die Länge 2000 deutsche Meilen noch übersteigt.

Wenn man von den Ebenen Brasiliens nach Westen vordringt, so erblickt man auf einmal einen mächtigen Damm, welcher den Horizont abschließt und in sanften Umrissen, umwoben von dem lieblichen Dufte der Ferne, sich anfangs darstellt, bald aber aus dieser Umhüllung hervortritt und sich frei dem Blicke bietet. Deutlich scheiden sich Felsketten und Schluchten, während hier und da über dem Kamme ein [149] majestätischer Bergkoloß thront; die Formen werden bestimmter, Gipfel thürmt sich auf Gipfel und es scheint zuletzt, als ob der Himmel auf ihrem Zackenkamme ruhe.

Aber diese Höhen entbehren des Alles durchwehenden Lebensodems; es fehlt ihnen die milde, wohlthuende Wärme, welche den Keim aus der Erde lockt. Der Condor zieht seine Kreise um die nackten Felsen, hastig treibt der Hirt seine Heerde über die spärlich bewachsene Punna und nur der Goldsucher durchforscht die schneebedeckten, unwegsamen Schluchten. Denn wenn auch die Oberfläche des Bodens dem Wanderer in tiefster Armuth entgegenstarrt, so birgt das Innere der langen Bergesreihen doch Schätze, welche man fast unerschöpflich nennen möchte.

Lange galt der Chimborasso, eine der Cordillerenkuppen, für den höchsten Berg der Erde, doch ist ihm dieser Ruhm schon längst geraubt worden. –

Wandert man durch die ungeheuren Ebenen Sibiriens nach Süden, so steigt man über den Altai zu drei Hochebenen empor, welche terassenförmig über einander liegen und im Süden in die Gebirgslandschaften des Himalaya's verlaufen. In diesen Hochländern wechseln die größten Reize und Schönheiten mit den größten Gefahren und Schrecken, und daher kommt es, daß die über 30000 Quadratmeilen große Ländermasse uns lange noch nicht ein völlig enthülltes Räthsel ist.

Der Dhawalagiri (7750 Meter hoch) ist derjenige Berg, welcher dem Chimborasso den lange behaupteten Ruhm raubte, um ihn bald wieder an den Mount-Everest (8375 Meter) zu verlieren, und neuerdings haben die Gebrüder Schlagintweit die Höhe des Gaurisankar als noch bedeutender (gegen 8600 Meter) angegeben.

Der höchste Berg Vorderasiens ist der Ararat, dessen Gipfel 5500 Meter über dem Meere liegt. Seine Spitze besteht in einer Platte von 150 Schritten im Umfange, und auf ihr soll sich die Arche Noah's festgesetzt haben. Ebenso wie der Ararat, ist der Sinai aus der Bibel bekannt. Er spült seinen Fuß im rothen Meere und steigt bis zu einer Höhe von 2500 Metern empor. Noch heute heißt einer seiner zwei Kegel der Dschebel-Musa (Berg des Moses) weil Moses auf ihm die Gesetze seines Volkes von Gott empfangen haben soll.

Das bedeutendste Gebirge Europa's sind die Alpen, jenes durch seine Schönheiten so berühmte Hochland, zu welchem jährlich Tausende aus allen Weltgegenden herbeiströmen und dessen Pracht und Herrlichkeit kein Dichter auszusingen vermag.


»Am Abgrund leitet der schwind'liche Steg,
Er führt zwischen Leben und Sterben;
Es sperren die Riesen den einsamen Weg
Und drohen Dir ewig Verderben.
Und willst Du die schlafende Löwin nicht wecken,
So wandle still durch die Straße der Schrecken,«
singt Schiller in seinem Bergliede; doch ebenso wahr klingt es auch:
»Abendliche Purpurfluth
Wallt hinauf von Flüh'n zu Flüh'n,
Und du siehst ihr zitternd Bild
Roth im dunklen See erglühn.
Liebe, die der Sonnengott
Berg und Wolken hat gegeben,
Lockt aus der krystall'nen Fluth
Dieses sanfte Purpurleben,«

und diese Gegensätze stehen einander nicht schroff gegenüber sondern werden friedlich vermittelt und vermählen sich zu Landschaftsbildern, wie sie kaum ein anderes Land der Erde aufzuweisen hat.

Der höchste Gipfel der Alpenwelt ist der Montblanc, welcher am 8. August 1786 von Doctor Paccard zum ersten Male erstiegen wurde. Er ist 14810 Fuß hoch.

Dem Gebirge in jeder Beziehung entgegengesetzt ist die Ebene. Wo sie in ihrer reinsten Form auftritt, da erscheint sie glatt, wie der Spiegel des Meeres, und der Horizont ist wie mit dem Lineale gezogen; aber in dieser Weise bietet sie, landschaftlich betrachtet, das Bild der Eintönigkeit, der Oede, ja des Todes.

Die verschiedenen Arten der Ebene werden gekennzeichnet durch die Verschiedenartigkeit des Pflanzenlebens, und unterscheidet man, je nachdem die Fläche mit Baum, Strauch, Kraut und Gras bewachsen oder aller Vegetation bar ist, Savannen, Steppen und Wüsten.

Von der Westküste Afrika's bis weit in das Hochland Hinterasiens hinein zieht sich ein gewaltiger, 2000 Meilen langer Gürtel dürren, unfruchtbaren Bodens. An die großen Wüsten Afrika's schließen sich die öden Flächen des steinigten Arabiens; dann folgen die Wüsten Persiens und Afghanistans, die endlich in den Wüsten der Bucharei und Mongolei ihren Abschluß finden. Auf diese ganze ungeheure Länderstrecke läßt sich Ferdinand Freiligrath's bekanntes Wort:


»Sie dehnt sich aus von Meer zu Meere,
Wer sie durchritten hat, dem graust.
Sie liegt vor Gott in ihrer Leere
Wie eine öde Bettlerfaust«

anwenden, obgleich die Vorstellung, welche man sich von der Wüste macht, meist nicht die richtige ist.

1300 bis 1700 Meter hoch über dem Meere liegt die Gobi, d.i. die große Wüste. Während des Sommers ragen auf ihren Randstrecken die schwarzen Filzhütten mongolischer Nomaden empor; Kalmücken- und Kirgisenhorden durchstreichen heimathslos die Hochebene, deren wilde Pferdeschwärme die kühnen Reiter oft weit hineinlocken in die Ebene zur gefährlichen, aufregenden Jagd. Beladen mit Thee, Porzellan, Seide und lackirten Schmucksachen kehren zahlreiche Karavanen von den chinesischen Grenzörtern nach den Handelsplätzen am Baikelsee zurück.

Aber seitwärts von der Handels- und Karavanenstraße liegt die »Schamo« (d.i. Sandmeer), eine voll ständige Sand- und Steinwüste. Der dürre, aus nackten Steinschollen und grobkörnigem Grus und Sand bestehende Boden ist vollständig wasserleer, und so gedeiht hier weder ein bescheidenes Kraut, noch das mit dem Thau der Nacht zufriedene Gras. Hier flattert kein Vogel, keine leichtfüßige Gazelle drückt ihre Spur dem harten Boden ein, ja nicht einmal das Summen eines einsamen Insectes unterbricht die ewige Todtenstille. Auch der Mensch meidet diesen Ort der traurigsten Leere. Und doch entfaltet die Schamo erst im Winter die größten ihrer Schrecken.

Horch! Hohl und dumpf braust es von Norden herauf. Ein seltsames, unheimliches Flimmern spielt über dem Horizonte; Bewegung und Leben kommt in die starren Schneemassen und flache Hügel bauen sich auf, wo noch soeben das weite Schneefeld sich dehnte.

[150]

[157] Das macht, der losgebrochene Sturm treibt in den losen Schneemassen sein tolles Spiel. Mit sausender Schnelle nähert er sich. Sein Heulen und Brüllen tönt schauerlich durch die Einöde, und verloren wäre das Schiff, welches auf offenem Meere von diesem furchtbaren Orcane erreicht würde. Aber hier in der Wüste bietet sich ihm nur Schnee, nichts als Schnee und mit entsetzlicher Wuth wirft er sich auf die zusammengewirbelten Haufen desselben. Von unwiderstehlicher Gewalt in die Lüfte gehoben, stieben ungeheure knirschende Schneemassen senkrecht empor und zerfahren in ein wirres Durcheinander von schwirrenden Eisnadeln; dazwischen schießen dicke Schneewirbel oder in rasender Eile herbeigefegte Schneeberge dahin; die ganze Oberfläche wird lebendig und mit unerbittlicher Gewalt zieht die Wjuga, der Schneesturm, alles Lebende hinunter in das erstarrende Grab. Das ist die Schamo.

Von der Ostküste des atlantischen Oceanes an bis zu den Bergwänden des Nilthales erstreckt sich die Wüste Sahara, 120,000 Quadratmeilen groß. Ihr westlicher Theil, die Sahel, ist die eigentliche Heimath des gefürchteten Flugsandes, der, von dem Winde zu fortrückenden Wellen emporgetrieben, langsam durch die Wüste wandert; daher der Name »Sahel«, d.i. Wandermeer. Diese Beweglichkeit des Sandbodens muß natürlich dem Wachsthum der Pflanzen außerordentlich ungünstig sein, und dazu kommt noch der Mangel an Brunnen und Quellen, welcher das Entstehen von Oasen noch mehr verhindert als in der wasserreicheren Sahara. Dies erklärt zur Genüge, daß die Sahel ebenso wie die Gobi den Ansiedelungsversuchen der Menschen wohl für immer widerstehen wird. Der dürre Sandboden vermag kaum einige unbrauchbare Salzpflanzen, höchstens noch etwas dürren Thymian, ein paar Disteln und einige stacheligte Mimosen zu tragen. Durch das glühende Sandmeer streift nicht einmal der Löwe, obgleich unsere Dichter behaupten:


»Wüstenkönig ist der Löwe«;


nur Vipern, Scorpione, Ameisen und ungeheure Flöhe finden in dem heißen Boden ein behagliches Dasein und selbst die Fliege, welche die Karavane eine Strecke in die Wüste hineinbegleitet, stirbt bald darauf auf dem Wege. Und doch wagt sich der Mensch hinein in den Sonnenbrand und trotzt den Gefahren, die ihn umdrohen. Freilich ist ihre Schilderung oft eine übertriebene, aber es bleibt trotzdem genug übrig, um keine Sehnsucht nach einem »Wüstenritte« zu bekommen. Der Samum, jener giftige Wind der Wüste, tödtete dem Perserkönig Cambyses eine ganze Armee und noch im Jahre 1805 wurde eine Karavane von 2000 Menschen und 1800 Kameelen von ihm vernichtet. Berge glühenden Flugsandes bedeckten sie, und Nichts blieb übrig, als die ausgedorrten Leichen der Menschen und Thiere, die in grauenerregenden Stellungen neben und über einander lagen. Einige hielten die leeren Schläuche noch in den entfleischten Händen; Andre hatten wie wahnsinnig die Erde unter sich aufgewühlt, um sich Kühlung zu verschaffen; hier saßen aufgerichtete Mumien auf den Skeletten gestürzter Kameele, den Turban noch auf dem nackten Schädel; dort lagen Leichen, das Gesicht gegen Morgen, nach Mekka, gerichtet und die Arme über die Brust gekreuzt – ihr letzter Gedanke war, wie es dem frommen Moslem geziemt, Gott und sein Prophet gewesen.

Doch noch andere Schrecken giebt es:

Seit dem Aufbruche der Karavane aus dem Lagerplatze ist der letzte Tropfen Wassers aus den ledernen Schläuchen verronnen. Die Kameele zwar schreiten noch rüstig vorwärts, da sie durch den Bau ihres Magens jetzt noch vor dem Durste geschützt sind, aber der Widerstand des Menschen erlahmt schneller. Der erfahrene Führer blickt starr und besorgt vor sich hin. – Der Himmel glüht wie Erz und die Erde brennt wie glühendes Eisen, und die nächste Oase ist noch weit, weit entfernt. In der Erinnerung des alten grauköpfigen Arabers steigen schreckliche Bilder herauf von den Qualen des langsamen Verschmachtens, dem gegenüber der schnelle Tod ein Engel der Erbarmung ist. Schon erreichen halb unterdrückte Klagen sein Ohr; der Gaumen brennt, an welchem die trockene, lechzende Zunge klebt, das siedende Blut drängt sich ungestüm nach dem fiebernden Gehirn und bei der entsetzlichen, trockenen Hitze schwindet der letzte Rest von Kraft und Lebensmuth.

Da, sieh; drüben zur Linken winken lockende Bilder! Ueber den dichtumflorten Horizont heben sich die scharfen Umrisse einer lieblichen Oase herauf. Auf schlanken Säulen bauen sich die stattlichen Wipfel der Dattelpalmen übereinander und ihre leichten, vollen Fliederkronen wehen im frischen Wüstenwinde. Und dort welch' ein entzückender Anblick bietet sich dem durstenden Wanderer! Aus dem Haine der Oase schimmert es wie das Wellengekräusel eines lieblichen Sees, und die Luft scheint sich von der Ausdünstung des Wassers zu feuchten.

»Allah akbar!« ruft Einer. »Wir sind gerettet. Siehst Du, wie sich die Kronen der Palmen in der schimmernden Wasserfläche spiegeln, wie Kameele in die kühle Fluth waten und ihren langen Hals herunterstrecken, um das belebende Naß zu schlürfen!«

»Schau nicht hin!« mahnt der erfahrene Führer. »Es ist nichts als Trug, den Dir der Satan vorspiegelt. Folgst Du der Spiegelung, so geräthst Du in die Wüste und findest weder Kameele, noch Palmen, noch Wasser.«

Die Karavane murmelt ein Gebet und zieht scheu vorüber vor der verlockenden Fata morgana. Der Sohn der Wüste weiß, daß die Djinns (bösen Geister) diesen verderblichsten aller Zauber aus den Dünsten und Gluthen des Sandmeeres zusammengewoben haben, um den schmachtenden Wanderer ins Verderben zu führen. Darum läßt er sich nicht verlocken und folgt dem Führer, bis aus dem Munde desselben der frohlockende Ruf erschallt: »Die Oase, seht, [157] dort liegt sie; Allah kerim! Dank sei dem Herrn.« – Das ist die Sahara.

Hat der Wanderer den bevölkerten Osten der Vereinigten Staaten verlassen und den Mississippi, den »Vater der Ströme« überschritten, so betritt sein Fuß den Schauplatz jenes Verzweiflungskampfes, in welchem der Indianer seine letzten Pfeile gegen die Vertreter einer blutgierigen und rücksichtslosen Civilisation entsendet.

Von den Ufern des Illinois sich bis an den Mississippi erstreckend, und von da an bis zu einer Höhe von 500 Metern ansteigend, rollt sich die wohl 30,000 Quadratmeilen umfassende Prairie bis an den Fuß des Felsengebirges und tritt sogar über dasselbe hinüber auf das Jagdgebiet der Apachen, Navajoes und Athabaskah's.

Noch zu Anfang dieses Jahrhunderts war die »Rothhaut« Herr der weiten Ebenen, deren oft sieben Meter tiefer Humusboden den Bemühungen des Ackerbaues eine fast unerschöpfliche Fruchtbarkeit entgegenbringt. Da aber kam das »Bleichgesicht«, der weiße Mann, trieb den »rothen Bruder« aus den ihm gehörigen Jagdgründen und verbreitete durch Krankheit, »Feuerwasser« und Schießgewehr Tod und Verderben in den Reihen der kräftigen und vertrauensvollen Söhne der Wildniß.

Jene weiten Flächen, deren animalische, vegetabilische und mineralische Reichthümer immer neue Tausende von »Pionnieren der Bildung und Gesittung« anlocken, werden die Todeszuckung einer Nation sehen, welcher der Vorurtheilsfreie seine Theilnahme nicht versagen kann, obgleich die Politik der Ausrottung von ihren fanatischen Vertretern mit zahlreichen Entschuldigungsgründen vertheidigt worden ist.

Was und wie der Indianer nicht sein sollte, das und so ist er durch seinen christlichen Bruder geworden, welcher, das Evangelium der Liebe auf den Lippen und die Mordwaffe in der Faust, das Menschengeschlecht und die Weltgeschichte einer reichen Anzahl unschätzbarer Entwickelungsmomente beraubte. Nur hier und da noch ragt aus den Mezquitebüschen das Geweih eines mächtigen Elenn hervor, der Grizzly hat sich in die verborgenen Schluchten der Rocky-Mountains zurückgezogen, der zottige Bison legt in immer kleineren Truppen seine regelmäßige Herbst- und Frühjahrswanderungen zurück und der donnernde Hufschlag der Mustangheerden wird immer schwächer und seltener. Eine riesige Industrie wird sich mit gewaltigem Flügelschlage auf den »fernen Westen« herniedersenken, Haus wird an Haus, Stadt an Stadt sich reihen, ein Geschlecht dem anderen folgen und das »Feuerroß« zu seinen großen Pfaden nach Hunderte von kleineren suchen; aber um die verschwundenen Krieger der Savanne wird die Sage ihren goldenen Schimmer weben, und das Gedächtniß der an dem Bruder begangenen Todtsünde wird fortleben in dem Liede des Dichters. Das ist die Prairie mit dem dunkelsten ihrer Bilder.

Da, wo der Orinoco seine Fluthen dem Golfe von Paria zuwälzt, also in dem nördlichen Südamerika, ferner um den Amazonenstrom und seinen Nebenflüssen und endlich am Rio de la Plato bis hinein nach Patagonien dehnen sich ungeheure Ebenen, welche mit den Küstenflächen von Chile, Bolivia und Peru über 254,000 Quadratmeilen zählen.

Die Llanos des Nordens sind wahrscheinlich in früheren Zeiten einmal Meeresgrund gewesen, meist sandig, leiden an ungeheuren Ueberschwemmungen, welche dem dürftigen Boden aber einige niedrige Pflanzenformen abnöthigen, von denen Mensch und Thier nothdürftig das Leben fristet.

Die Ebenen am Amazonenstrom bestehen theils aus kahlen, steinigen Flächen, theils aus undurchdringlichen Urwäldern; letztere nehmen ein Areal von 70,000 Quadratmeilen ein. In ihnen kennt man keinen andern Weg als die Flüsse. Riesenbäume drängen sich in den abenteuerlichsten Gestalten aneinander, mächtige Schlingpflanzen ranken sich von Stamm zu Stamm und bilden ein Dickicht, durch welches sich nur der Jaguar windet, um eine Affenheerde oder den einsamen Lagerplatz einer Indianerhorde zu beschleichen. Die Natur hat hier ihr Titanengewand angelegt und der kleine Mensch schrumpft in seinem Kahne zu einer Schnecke zusammen, welche in gebrechlichem Gehäuse den Fluthen des Stromes preisgegeben ist.

Die Pampas im Süden zeigen meist eine Schicht Humuserde auf einer thonig-sandigen Unterlage; auf dem salzigen, steinlosen Boden wächst eine dürftige Vegetation von Salzpflanzen; und nur da, wo der Boden weniger salzig und das Klima feucht ist, giebt es einzelne Brunnen und in Folge dessen ganze mit Cactuswäldern bedeckte Strecken. Nur die Steppen von Buenos-Ayres zeigen eine lebhafte Vegetation von Gras und Kräutern, über welcher, wie in der afrikanischen Wüste, die Fata morgana ihre Truggebilde zeichnet.

Auf diesen einförmigen, wenn auch nicht gerade öden Ebenen fährt oder reitet man Stunde um Stunde, Tag um Tag, ohne eine andere Abwechselung als etwa eine weidende Viehheerde, ein aufgescheuchtes Wild, einen Ochsenkarrenzug, einen kleinen See, ein einsames Posthaus, eine halbverfallene Meierei. Flüsse kommen gar nicht vor. Das Gras besteht aus ziemlich gleichmäßig vertheilten Büscheln, zwischen denen der kahle Boden hervorschaut. Der weite Horizont verschwimmt in violetter Bläue, und wie auf dem Meere wird man von einem kreisförmig abgegrenzten, überall gleichweiten Gesichtsfelde umgeben.

Millionen von Pferden und Kindern weiden halbwild auf den Weideplätzen der großen Landgüter unter der Aufsicht ebenfalls halbwilder Hirten, der Gauchos, die aus einer Vermischung der Spanier und Indianer entstanden sind und von ihren Pferden unzertrennlich scheinen.

Die Ebenen von Patagonien bestehen an den Küsten aus unfruchtbaren Sanddünen, in denen Emu's und Guanaco's zwischen Dornengestrüpp das spärliche Gras abweiden. Im Innern dehnen sich einförmige, steinige Wüsten, welche von breiten, flachen Thälern durchzogen sind, in denen der Feuerländer Schutz vor den schneidenden Orcanen sucht, welche über das arme, dürftige Land sausen. –

– – Welche Absicht nun ist es gewesen, die jene weiten Ebenen gedehnt, die Berge zum Himmel gestreckt und die Thalfurchen durch den Boden gezogen hat?

Kühn und getrost können wir behaupten, daß ohne diese Abwechselung in der Bodengestaltung die Erde kein höheres, kein geistiges Leben zu beherbergen vermöchte, sondern eine Kugel bildete, deren Oberfläche aus weiten Wasser- und öden, unfruchtbaren und unbelebten Länderwüsten bestände.

[158]

[165] Wäre unser Planet eine vollständig abgeglättete Kugel, so würde die Luftbewegung, welche ihre Umdrehung verursacht, als ungebrochener, wilder und ewiger Orkan über Land und Wasser sausen und jeden Keim vegetabilischer und animalischer Entwickelung schon im ersten Stadium seiner Entfaltung tödten und nur in den düsteren Tiefen der See, in welche der Sturm nicht zu dringen vermag, wäre ein Leben denkbar.

Die Unebenheit des Bodens ist die erste Grundbedingung zur Entstehung von Quellen, Bächen, Flüssen und Strömen, überhaupt jeder Art von Wasserlauf. Welchen Segen aber die Wanderschaft des feuchten Elementes von dem Gipfel des Gebirges herab bis hinunter in das gewaltige Becken des Oceans nach sich bringt, werden wir später ausführlich erörtern. Auf ihn müßte die Erde verzichten und würde aller Daseinsformen entbehren, deren Bestehen von ihm abhängig gemacht ist.

Wohl kaum ist es schon mit genugsamem Nachdrucke hervorgehoben worden, welchen Factor die Gebirge in Beziehung auf die Wärmeverbreitung bilden, indem sie bei der außerordentlichen Geschwindigkeit der Axendrehung der Erde wie die Radschaufeln eines Dampfers in die den Aequator umlagernde Hitze schlagen und diese Letztere nach den Polen hin in Bewegung setzen.

Mit derselben kräftigen Stetigkeit greifen sie in die Richtung der von Osten nach Westen gehenden Luftströmung ein und ermöglichen so die segensreiche Mannigfaltigkeit der atmosphärischen Bewegungen.

Und wie in Beziehung auf die Reiche der Natur, so ist die Bodengestaltung auch von weitgehendem Einflusse auf die Entwickelung des Menschen und seines Geschlechtes.

Wie die Berge den Thau des Aethers trinken, um ihn in sich immer mehr vergrößernden Rinnen der Tiefe zuzuführen, so sind die Völker der Erde von den Höhen der Gebirge herabgestiegen, und die glanzvollsten Erscheinungen und Thatsachen der Geschichte haben ihre Heimath nicht unten im Thale, sondern dort gefunden, wohin der Blick des Dichters sich richtet:


»Sieh', mein Aug', nach Zions Bergen,
Ach, sieh' unverwandt hinauf;
Denn von den geliebten Bergen
Geht mein Heil mir auf!«

Die Wiege des Menschengeschlechtes, an welche der fromme Glaube die Gestaltungen eines Paradieses knüpft, lag dem Himmel um Vieles näher als die Fluth des Meeres, und durch die Pforten zu den hinterasiatischen Höhenländern ergoß sich das Volk der Menschenkinder hernieder auf die Ebenen, um am Thurme zu Babel zur Erkenntniß ihrer Aufgabe: »Füllet die Erde und machet sie Euch unterthan« zu gelangen.

Der Berg Ararat war es, auf welchem Noah als Alleinbegnadigter festen Fuß faßte, nachdem die Fenster des Himmels und die Schleußen der Erde sich geschlossen hatten; auf dem Berge Sinai offenbarte Jehova Sabaoth seinen heiligen Willen; eine Höhle des Gebirges Pisga bildet das geheimnißvolle Grab Mosis, des größten Lenkers Israels; ebendaselbst, auf dem Berge Horeb ging der Herr in einem sanften Säuseln vor Elias, dem Propheten, vorüber; auf Morijah stand der berühmteste der Gottestempel; in Galiläa, dem Gebirgslande, wurde Christus geboren; die erste seiner Predigten erscholl von einem Berge; auf einem Berge wurde er verklärt; auf einem Berge schlug man ihn an das Kreuz, und von einem Berge ward er aufgehoben »zusehends« in die Wolken, wie die Apostelgeschichte erzählt.

Nicht blos die biblische Anbetungsform ist es, welche die wichtigsten und besten ihrer Erzählungen, Legenden und Prophezeihungen an die Namen von Bergen knüpft, sondern die heiligen Sagen jeder anderen Religion thun dasselbe, und ebenso wie die Anschauungen der heiligen Schrift, knüpfen sie an das Wort »Thal« die Vorstellung des Gegentheiles von Glück und Seligkeit.

Es ist eine längst bewiesene Wahrheit, daß der Mensch nach der Entwickelung seines äußern und innern Wesens abhängig ist von dem Boden, auf welchem er lebt und mit dem er um die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu ringen hat. Daraus folgt nothwendig eine körperliche und geistige Verschiedenheit zwischen dem Gebirgs- und dem Tiefländer.

Kühn, wie die Zacken seiner Felsen, rasch und beweglich, wie die Wasser seiner Fälle, Sturz- und Gießbäche, leicht erregbar wie die Lawine und der Sturm, der um die Firnen braust, gleicht der gewandte, heitere, lebenslustige und leidenschaftliche Bergbewohner mit seinen scharfgeschnittenen Zügen, hochgeschwungenen Brauen und sehnenkräftigen, schlanken Gliedmaßen ganz dem Landschaftsbilde, dessen Staffage er zu besorgen hat.

Langsam dagegen, wie der Lauf seiner Gewässer, nachhaltig, wie seine Wetter, treu und wechsellos wie der Character seines Heimathslandes, zeigt sich der bedächtige, sichergehende, leidenschaftslose und ruhig erwägende Bewohner des Flachgebietes mit seinen breitgezeichneten Gesichtszügen und fleischigen, robusten Körperformen.

Und wie der einzelne Mann, so auch das ganze Volk nach seiner Art, seinem Character und seiner Geschichte. Alle jene großen, weltgeschichtlichen Aufgaben, deren Lösung ein rasches, begeistertes, alle Hindernisse überschäumendes Handeln bedurfte, wurden von dem weisen Geschicke in die Hände von Völkern gelegt, welche, zwischen himmelanstrebenden Bergen geboren, sich kataraktähnlich von ihren Höhen herabstürzten, um durch diese Bewegung den Erdkreis mit der Macht einer lebensvollen Idee zu überfluthen. Und galt es einem Gedanken, dessen Ausführung einer steten, durch Jahrhunderte gehenden und unverrückten Entwickelung bedurfte, [165] so wurde seine Lösung in das Wappen derjenigen Völker gegraben, welche in Folge der physikalischen Beschaffenheit ihres heimischen Bodens die dazu nöthige aushaltende Kraft besaßen.

Treffend, wenn auch nicht gerade geistreich, wird dieser Unterschied zwischen den Bewohnern des Gebirges und Flachlandes durch das mongolische Sprüchwort


»Hue man tschan, ku man tschueng,«
(Ochsen im Osten, Pferde im Westen)

bezeichnet, welches den Völkerschaften des tieferliegenden Ostens die Eigenschaften des bekannten starknackigen und mit nachhaltiger Kraft begabten Zugthieres beilegt, die des höherliegenden Westens aber mit dem feurigen, muthigen Rosse vergleicht, dessen edle Natur sich auch am besten zu edlen Diensten eignet.

Wie der wilde und verderbliche Schneesturm, welcher über die Hochländer zwischen Altai und Himalaya wüthet, so haben sich die dort wohnenden Horden zu mehreren Malen hernieder auf die anliegenden Gebiete gestürzt und ihre gewaltigen Wogen bis in die Mitte des fernen Europa gerollt. Mit eisernem Fleiße und nie ermüdender Kraft haben die Bewohner der Nordseeländer dem Meere eine Eroberung nach der anderen abgerungen, und wie der kleine, flinke Asiate unendlich verschieden ist von dem breiten, bedächtigen und langsamen »Neederländer,« so herrscht eine ebensolche Verschiedenheit auch in Beziehung auf ihre geographischen, geschichtlichen und alle übrigen Verhältnisse. Man vergleiche nur die ambulanten Filzzelte des Ersteren und die mit riesigen Kosten und auf ungeheuren Pfahlrosten erbauten Wohnungen des Letzteren, oder das leichte, kleinhufige und schwachknochige Roß des Erstgenannten und die großen, starkknochigen und breithufigen brabanter und flandrischen Pferde, welche die ungeheuersten Lasten ziehen und seiner Zeit die Kanonen Napoleons I. von einem Schlachtfelde zum anderen schleppten.

Der Einfluß der Gebirge auf die Psychologie der Völker ist ein so bedeutender, daß er Jedermann bald in die Augen fallen muß. Während die Ebenen, sobald sie nicht zu verderbendrohenden Wüsten werden, eine gegenseitige Berührung ungemein erleichtern und das Meer geradezu »länderverbindend« genannt wird, setzen die Gebirgszüge dieser Berührung um so bedeutendere Hindernisse entgegen, je höher und schwieriger zu übersteigen sie sind. Deshalb ziehen sich die Berge oft wie eine Mauer zwischen die einzelnen Völkerschaften hindurch, deren gegenseitiger Verkehr von der Zahl und Passirbarkeit der über das Gebirge führenden Pässe abhängig ist.

Als Beispiel seien nur angeführt die Alpen, welche zwischen Germanen und Romanen eine trennende Scheidewand bilden, und das Erzgebirge, an dessen Nordseite die protestantischen Sachsen und an dessen südlichem Abhange die katholischen Böhmen wohnen. Sind geringe Bestandtheile der einen oder anderen Art herüber oder hinüber gekommen, so geschah es eben nur auf dem einzigen Wege, welchen die Pässe bieten. Freilich hat in neuerer Zeit die Alles nivellirende Eisenbahn auch hier große Veränderungen hervorgebracht. Gebirgsübergänge durch zahlreiche Truppenkörper, wie sie z.B. Hannibal, die Cimbern und Teutonen, der Inca Yupanqui und Napoleon unternahmen, gehören schon seit längerer Zeit nicht mehr zu den kühnsten Wagestücken, von denen die Welt mit bewundernder Anerkennung spricht; denn das Dampfroß, welches fast jede Höhe überwindet, sich durch die Berge bohrt und über Schluchten und Abgründe dahinstürmt, trägt auf seinem ehernen Nacken den Sieg über die zum Himmel ragenden Giganten, denen sich der schwache Menschensohn Jahrtausende hindurch nur mit ängstlicher Vorsicht nahen durfte.

Die durch die Macht des Dampfes bedrohte Bedeutung der Gebirge in kriegerischer Beziehung hat sich von den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart herein bewährt. Sie bilden Befestigungen, welche dem Feinde entgegenstarren und dem stärksten Geschosse Trotz zu bieten vermögen. Die Heere, welche sich unter tausenderlei Beschwerden und Gefahren langsam und schlangengleich durch die engen Thäler und Schluchten zu winden haben, können sich nicht entfalten, müssen Schritt um Schritt mit theuerm Blute erkämpfen und sehen sich einer vielleicht verschwindend kleinen Anzahl von Feinden preisgegeben, welche jede Krümmung des Weges in eine Barricade, jeden Baumstamm in ein Bollwerk, jeden Felsen in ein Fort und jeden Berg in eine Festung verwandeln.

Schon die heilige Schrift erzählt von den Schwierigkeiten, welche den Juden die Unterjochung der Bergvölker Canaans bot; der einzige Engpaß der Thermopylen genügte den wenigen Spartanern, das ungeheure Heer der Perser aufzuhalten; die größten Feldherren des Alterthumes haben es nicht vermocht, Bergvölker vollständig und auf die Dauer zu besiegen, welche ihnen eine verhältnißmäßig nur geringe Kopfzahl entgegenstellen konnten; Hunderte von Jahren hat das mächtige Rußland resultatlos vor den Bergen des Kaukasus gestanden; die mächtigsten Fürsten Oesterreichs vermochten Nichts gegen die urkräftigen Söhne des Schweizerlandes; die Männer von Tyrol durften es wagen, ihre Stutzen gegen die Schaaren des Franzosenkaisers zu richten, und noch heute trotzt das kleine Montenegro auf die festen Positionen, welche ihm die Natur zur Verfügung gestellt hat.

Daher sind von jeher die Ebenen der Schauplatz berühmter Waffenthaten gewesen, und es giebt Gegenden, welche sich so sehr zu Schlachtfeldern eignen, daß auf ihnen zu verschiedenen Zeiten die entscheidendsten Kämpfe stattgefunden und sie in Folge dessen eine strategische Berühmtheit erlangt haben.

Wie den kriegerischen Bewegungen, so bietet die Ebene auch den friedlichen Evolutionen, den Bemühungen der Industrie, der Gewerbe, des Handels und Verkehrs ein freies und fruchtbringendes Feld.

Der Ackerbau als Grundlage des wirthschaftlichen Wohlstandes findet hier die weiteste und ungehindertste Verbreitung, während die Höhe sich sowohl dem thierischen als auch pflanzlichen Leben desto feindseliger zeigt, je bedeutender sie ist. Auch die Industrie vermag nur bis zu einem gewissen Punkte bergan zu steigen und nimmt ihre Verbreitung am liebsten thalabwärts, dem Laufe der Flüsse entlang. Der Verkehr verwundet sich seine breitschlagenden Schwingen an den engzusammengerückten Felsen der Gebirge und fliegt deshalb gern hinaus in das weite, offene Land, um sich im Sonnenglanz zu wiegen und sein bewegtes Bild in der Fluth des Oceanes zu spiegeln.

Desto lieber aber verweilen die Götter der Unterwelt in den zu Stein erstarrten Felsenwogen der Erdrinde, um da Schätze aufzustapeln, deren Hebung nur dem gelingt, welcher einen Kampf mit den Gewalten der Finsterniß nicht scheut. Da unten herrscht der bärtige König des Gebirges über jene geheimnißvollen Wesen, mit denen die kindliche Phantasie des Menschen die dunklen Gänge des Erdinnern bevölkert hat, weil der denkende Geist keine Erstarrung, keine Ruhe, [166] keinen Tod kennt und er in der Ahnung, daß der Puls der großen, unendlichen Bewegung selbst in Felsen klopfe, der Einbildung erlaubt, diesen Felsen mit phantastischem Leben auszustatten.

Klopft der größte der irdischen Geister, der des Menschen, an dieses Reich der Gnomen, so muß es sich seinem Befehle öffnen, und dem dunklen Munde des Schachtes entfließen dann jene Reichthümer, deren Gewinnung die Grundlage aller Arbeit und allen Wohlstandes bildet. So spenden also auch hier, wie in ihren Wasserbächen, die Berge ihre segensreichen Gaben und liefern aus ihren finsteren Tiefen die Grundsteine zu dem Baue menschlicher Bildung und Aufklärung.

Es offenbart sich eben dem denkenden Verstande eine innige Beziehung selbst zwischen den äußerlich feindseligsten Gegensätzen, und wie gerade die alles Leben tödtende Gluth der Wüste von einem allweisen Willen gezwungen wird, empor zu steigen und als Leben spendender Wärmestrom den Frühling nach den Polen zu tragen, so hat alles Das, was dem schwachen Auge als zwecklos oder gar schädlich erscheint, eine Bestimmung zu erfüllen, welche den von unserer Erde getragenen Wesen zum Heile gereicht. Keine Schrift ist so deutlich und correct wie diejenige, mit welcher im Buche der Natur der Beweis vom Dasein eines allmächtigen und allliebenden Gottes geführt wird.

[167]

4. Wald und Feld

In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. Nr. 22–24. S. 173–174, 181–182 u. 189–190. – Dresden: H.G. Münchmeyer (1876). Reprint in: Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. Mit einer Einführung von Klaus Hoffmann. Hildesheim, New York: Olms Presse 1979.

[173] 4.

Wald und Feld

»Du lässest Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz dem Menschen, daß Du Brod aus der Erde bringest und die Bäume des Herrn voll Saftes stehen, die Cedern Libanons, die er gepflanzet hat.«

David.


Wald und Feld – zwei Worte von unendlicher Bedeutung nicht nur für den Einzelnen, sondern ebenso sehr für die große Gesammtheit der menschlichen Gesellschaft. Mit ihnen treten wir ein in das Reich der organischen Wesen, der mit leichterkennbarem Leben begabten Creaturen, und sehen eine Menge der liebsten und freundlichsten Vorstellungen in uns aufsteigen.

Waldesduft und Maienluft, Hörnerklang und Vogelsang und all' jene oft gebrauchten Reime von Flur und Natur, Zelt und Feld, Schall und Nachtigall, Sonne und Wonne klingen uns um das lauschende Ohr; der ernste, religiöse Sinn sieht Christus unter Aehren wandeln, gedenkt seiner Bilder vom Senfkorne, vom Feigenbaume, vom Weinstocke und der Lilien auf dem Felde, welche besser bekleidet sind als Salomo in aller seiner Herrlichkeit, und der erwägende Verstand erblickt in den wogenden Fluren und rauschenden Wäldern eine unerschöpfliche Quelle national-wirthschaftlichen Reichthums.

Wenn früher gesagt wurde, daß selbst im scheinbar todten Steine der Puls der großen, allgemeinen Bewegung klopfe, so war dieser Puls nur der zarten Empfindung des aufmerksamen Beobachters erkenntlich, während dagegen das organische Leben den wahrnehmenden Sinneswerkzeugen vollständig ungesucht entgegentritt.

Was aber ist denn eigentlich das, was wir »Leben« nennen?

Wer vermöchte es wohl, diese Frage zu beantworten! Nur Einer hat es gethan: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben,« und dieser Eine wird von Tausenden verspottet und von Millionen vergöttert, weil die Einen ihn gar nicht und die Anderen ihn nur halb verstanden.

Die irdische Natur hat nur eine gewisse und beschränkte Anzahl von Grundstoffen oder Elementen aufzuweisen, aus welchen sich alles Bestehende zusammensetzt. Diese Zusammensetzung ist eine unendlich verschiedene und sich immerwährend verändernde, wie die Lehre vom Stoffwechsel deutlich und unwiderlegbar beweist, und geschieht durch nichts Anderes als diejenige Kraft, welche wir »Leben« nennen.

Nicht jedes andere Wesen besteht auch aus anderen Stoffen, sondern die Verschiedenheit der Zusammensetzung dieser Stoffe ist es, welche die Verschiedenheit der Formen und Gestalten und unzählige Wunder bewirkt, welchen wir gewöhnlich nicht die geringste Beachtung schenken.

Auf dem gleichen Boden und unter vollständig denselben Verhältnissen wächst die Kiefer, die Eiche, die Rebe, das Getreide, der Schierling; sie nähren sich von denselben Bodenstoffen, athmen in derselben Luft, trinken denselben Thau und wärmen sich in demselben Strahle, und doch bringt das in ihnen waltende Leben im Holze und Harze der Kiefer, in der bitteren Gerbrinde der Eiche, im süßen, berauschenden Safte der Traube, im nährenden Mehle des Roggens, in den heilsamen Eigenschaften der Kräuter und der tödtlichen Wirkung des Giftstrauches so außerordentlich verschiedenartige Erscheinungen hervor. Die Wurzel des Schierlings zeigt dieselben Bestandtheile wie diejenige des Sellerie, und der Kuhbaum, welchem die süßeste und nahrhafteste Pflanzenmilch entfließt, besitzt chemisch ganz dieselben Stoffe, aus welchen der Upasbaum seinen furchtbaren Saft bereitet, in welchen die Malayen die Spitzen ihrer Pfeile tauchen.

Die Zauberkraft, welche aus Einem und Demselben so Verschiedenes, ja Entgegengesetztes bereitet, liegt schon im Keime des Samenkornes verborgen und beginnt ihre Thätigkeit gleich mit dem ersten Augenblicke der Entwickelung desselben. Wie groß diese Kraft ist, sehen wir nicht nur an der Vergleichung des vollständig ausgewachsenen Baumes mit dem kleinen, unscheinbaren Samen, sondern auch schon an der mechanischen Gewalt, welche sie vom frühesten Stadium ihrer Wirksamkeit ausübt. Wenn man z.B. Erbsen durch Anfeuchtung zum Keimen lockt und sie mit einem Gewichte von 150 Pfund beschwert, so wird dieses Gewicht durch das Schwellen des Keimes bewegt und der Keim dringt trotz der verhältnißmäßig ungeheuren Belastung hervor.

Woher diese erstaunliche Stärke, welche einem Keime innewohnt, den der Finger eines Kindes spielend zu zerstören vermag? Liegt hier nicht ein ebenso deutlicher Fingerzeig auf das Walten eines göttlichen Wesens, wie in den staunenerweckenden Wundern des unermeßlichen Weltenraumes?

Fast möchte man behaupten, daß sich in dem Leben des Samenkornes etwas Seelenartiges offenbare, und einem unserer bekanntesten Naturforscher beipflichten, welcher sagt: »Der kleine Keim dringt wie gerufen und zur rechten Stunde hervor und senkt seine Spitze in den Erdboden, um Nahrung zu suchen. Er treibt aus dieser Spitze kleine Fasern hervor, die zur Wurzel werden. Woher weiß er, daß er Nahrung im Boden findet und wo das Erdreich sei, das er doch nicht siehet? Und doch, wenn die eine seiner Spitzen, welche zur Wurzel bestimmt ist, aufrecht über der Erde stehet, krümmt sie sich so lange abwärts, bis sie Erde gefunden hat, während die andere Spitze, die zum Stengel werden soll, sich jedesmal von der Erde wegwendet und aufwärts steigt, um Luft und Licht zu suchen. Ist hier nicht Seelenartiges? Ist hier nicht eine verborgene, wunderbare Kraft, die ebenso unerklärlich ist wie diejenige, welche in ewig gleichen Bahnen die Sternenwelten schwebend durch die Himmelsräume führt?«

Und dieses Leben, welches im Samenkorne schläft, hat, [173] einmal erwacht, oft eine Dauer, welche nach Jahrtausenden gemessen werden muß. Der Affenbrodbaum, welcher bei einem Umfange von 80 bis 100 Fuß, 50 bis 70 Fuß lange Zweige treibt, ist in Exemplaren gefunden worden, deren Alter auf über sechstausend Jahre anzugeben war. Die wenigen Cedern, welche der Libanon noch trägt, werden auf 1800 Jahre geschätzt; in Körtlinghausen (Westphalen) steht eine 1000-jährige, in Saintes (Frankreich) gar eine 2000-jährige Eiche, bei Freiburg eine 1600-jährige Linde, am Dome zu Hildesheim ein Rosenstock, welcher urkundlich über 800 Jahre alt ist, bei Courmayeur eine 1200-jährige Tanne.

Diese ungeheure Lebensdauer entspricht dem Zwecke, welcher die Pflanzen in das Dasein gerufen hat. Sie stehen mit dem allgemeinen Erdenleben in innigem Zusammenhange und bilden eine lebendige Decke, eine Ueberkleidung des nackten Erdbodens grad' so, wie der Haar- oder Federüberzug über den thierischen Körper. Sie bilden einen höchst unentbehrlichen Factor in dem großen organisch-chemischen Kreislauf der Stoffe, vermitteln den Uebergang aus niederen in höhere Lebensformen und dienen nicht nur den letzteren zur Nahrung, sondern liefern dem Handel und der Industrie die vielfältigsten Gaben.

Die Pflanzendecke der Erde nimmt einen weit größeren Theil der Oberfläche derselben ein, als man gewöhnlich meint. Sowie eine kahle Stelle des Erdbodens mit den wässerigen Dünsten der Atmosphäre in Berührung und unter die Einwirkung von Licht und Wärme kommt, entstehen zunächst Pflanzengebilde niederer Ordnung, welche im Boden nach und nach zum Tragen höherer Gattungen vorbereiten. An den schroffsten Felsenwänden, unter dem ewigen Eise des Nordpoles, in der heißen Wüste, überall begegnen wir Pflanzenformen, welche den Einwirkungen einer feindseligen Natur zu trotzen vermögen, und selbst im Meere breitet sich eine Vegetation aus, deren Riesenhaftigkeit wahrhaft bewundernswürdig ist. Wir dürfen hierbei nur an das »Sargassomeer« denken, dessen grüne Grasdecke sich westlich von den Azoren über einen Raum von 26 Breitengraden ausdehnt.

Der Pflanzenüberzug der Erde hat einen nicht unbedeutenden Einfluß auf das Klima der Erde, und es ist eine allgemeine Erfahrung, daß dieses Klima desto milder wird, je mehr sich die Vegetation entwickelt und verbreitet. Ganz besonders aber sind es die Wälder, von denen die physikalischen Erscheinungen der Oberfläche unseres Planeten abhängig sind. –

Sie saugen die Feuchtigkeit aus der Luft und übermitteln sie dem Boden, in welchem sie Wurzeln schlagen, sammeln den Regen, dessen Nässe sie hinunter in die Tiefe leiten, aus welcher sie als Quelle wieder an das Licht des Tages tritt, und geben die aufbewahrte Feuchtigkeit an die Atmosphäre ab, sobald dieselbe ihrer bedarf.

So bilden die Wälder die eigentlichen Regulatoren der atmosphärischen Niederschläge und müssen deshalb als unentbehrlich angesehen werden. Gegenden, welche man ihrer Holzungen beraubte, haben unter den schweren Folgen einer solchen wirthschaftlichen Sünde zu leiden, indem es bei ihnen keine Vermittelung zwischen den Extremen von Dürre und Nässe giebt und sie also bald mit der ersteren und bald mit der letzteren zu kämpfen haben.

Von ebenso großer Wichtigkeit ist die Athmung der Pflanzen, welche ihre meiste Nahrung aus der Luft ziehen, indem sie aus der Kohlensäure und Feuchtigkeit derselben den Kohlen- und Wasserstoff in sich aufnehmen und den Sauerstoff ausscheiden, während der thierische Organismus, also auch der Mensch, den Sauerstoff einathmet. Es besteht also zwischen Thier und Pflanze ein gegenseitiger und endloser Austausch der unentbehrlichen Athmungsmittel, ohne welchen der Mensch nicht zu leben vermöchte.

Diesen Segen bringt die lebende Pflanze; doch nicht minder groß ist ihr Nutzen nach ihrem Tode. Die abgestorbenen Theile fallen zur Erde, wo sie langsam verwesen und von Jahr zu Jahr eine neue Schicht fruchtbaren Humuslandes bilden. Kann diese Schichtbildung ungestört vor sich gehen, so entstehen mit der Zeit Ablagerungen von solcher Mächtigkeit, daß, wie in den Bottoms des nordamerikanischen Westens, der Ackerbauer ohne Dung und Mühe mehrere Jahrzehnte lang die reichsten Ernten erbaut.

Unter günstigen Verhältnissen, besonders bei reichlich vorhandener Feuchtigkeit, entsteht durch eigenthümliche Wurzelbildung und Ablagerung der verwesten Pflanzen der Torf, dann das Moor, von welchem die Braunkohle zu den Steinkohlen den Uebergang bildet. Hier stoßen wir auf fast unerschöpfliche Reichthümer, welche eine um viele Jahrtausende zurückliegende Vegetation für das erst später entstehende Geschlecht der Menschen in den Schatzkammern der Erde aufgespeichert hat.

Es fällt auf den ersten Blick in die Augen, daß der Nutzen der Pflanzen zur Gesellschaftlichkeit derselben in gleichem Verhältnisse steht und daß auch hier der weise Wille des Schöpfers Großes durch das Kleine hervorbringt. Nicht die Eiche, nicht der riesige Mammuthbaum ist es, welcher die Millionen der lebenden Menschen ernährt, sondern die Arten der Gräser, welche wir Getreidepflanzen nennen, liefern uns die Stoffe, deren wir bedürfen, um des Leibes Nahrung und Nothdurft zu stillen. Dies kann freilich nur durch die massenhafte Vereinigung der einzelnen Pflanzen zu wogenden Feldern erzielt werden, und hier hat die Cultur ihren ersten siegreichen Schritt zu thun.

Wo die Natur durch die Früchte nur eines Baumes dem Menschen den jährlichen Bedarf seiner Nahrung bietet, hat die Gesittung sich noch keine Stätte erobert, und nur da, wo die Hand des Menschen bestimmend und wählend eingreift in das Reich der Schöpfung und im Schweiße seines Angesichtes seinen Willen zur Geltung bringt, blüht die Bildung mit allen ihren wohlthätigen Folgen.

Daß der Mensch in gewisser Beziehung von dem Boden abhängig ist, auf welchem er lebt, wissen wir; in Folge dessen ist es ihm wohl auch nicht möglich, sich dem Einflusse derjenigen Producte zu entziehen, welche dieser Boden hervorbringt, und in Wirklichkeit beobachten wir je nach der Verschiedenheit der Landeserzeugnisse auch eine Verschiedenheit der Völker.

Der Eskimo trinkt seinen Thran; der Indianer kaut sein Büffelfleisch und verschlingt dazu seine eklen Kammaskuchen; der Amerikaner liebt den Mais, der Engländer den Waizen, der Deutsche den Roggen, ein Anderer das Haidekorn; der Indier lebt vom Reis, der Afrikaner von seiner Durrha (Negerhirse), und es läßt sich gar nicht läugnen, daß die Beschaffenheit des Hauptnahrungsmittels nicht ohne Wirkung auf die körperliche und geistige Constitution der angeführten Völkerschaften sein kann.

[174]

[181] Und wie mit dem Felde, so auch mit dem Walde. So heimtückisch wie die Mangrovewälder der amerikanischen Ostküste, sind auch die wie wilde Thiere in denselben herumschleichenden Menschen. Die im dortigen Sumpflande schlummernden Fieber wetteifern mit den noch heut menschenfleisch-freundlichen Urbewohnern, den weißen Eindringling in Tod und Verderben zu führen.

Finster und wortlos, wie die dunklen, lautlosen Urwälder des amerikanischen Westens, schreitet im Norden der furchtlose Trapper, im Süden der unternehmende Cascarillero oder der goldgierige Cibolero zwischen den hundertjährigen Riesenstämmen dahin und hat in Schnitt und Farbe seiner Kleidung der Natur ihr Geheimniß abgelauscht, ihre Geschöpfe durch die Aehnlichkeit ihrer Farbe mit derjenigen des Bodens in liebevollen Schutz zu nehmen.

Steigen wir empor in die Berge, wo sich die Schluchten und Abhänge mit dunklen, kühnen Tannen bekleiden, durchschreiten wir die sandigen Haidestrecken, über welche sich die unzähligen Heere des Kiefernforstes lagern, wandeln wir unter den magischen Kronen der freundlichen Laubwaldungen, rasten wir im Schatten schlanker Palmen oder wagen wir uns in die gigantische Vegetation am Tsad und den Ufern des Schari, in jedem einzelnen dieser Fälle tritt uns eine bestimmte Aehnlichkeit zwischen den pflanzlichen und den thierischen Formen entgegen, welcher sich auch der Mensch nicht zu entziehen vermag. Obgleich ein freier Sohn des Himmels, ist er doch in gar mancher Beziehung ein Sclave der Erde, welche ihre Fesseln um ihn wirft und ihn knechtet bis zu dem Augenblicke, an welchem er dem Staube das erborgte Kleid zurückerstattet.

Die Natur kennt eben keine Bevorrechtung; was in ihre Reiche gehört, muß sich ihren Gesetzen beugen und sich ihr unterthan erkennen und erklären. Diese Gesetze sind ewig dieselben und trotz einer durch Jahrmillionen fortschreitenden Entwickelung auf ewig vollständig und lückenlos. Unter ihrem Befehle bildet die Schöpfung ein engverbundenes, zusammengehöriges Ganze, zu welchem ohne Ausnahme alle Gestaltungen von der niedrigsten Materie bis zur höchsten geistigen Form gehören, um sich gegenseitig zu berühren, zu beeinflussen und dadurch der Stufenleiter der erschaffenen Wesen immer neue Sprossen anzufügen.

Diese Wechselbeziehung ist es, welche dem anscheinend Todten Seele, Leben und Bewegung verleiht und jene Verwandtschaft begründet, welche die stolze Vermessenheit des Menschen demüthigt, indem sie ihm an jedem einzelnen Körper, in jeder beliebigen Naturerscheinung, Stoffe und Vorgänge zur Anschauung bringt, aus denen auch er besteht und die sich auch an ihm selbst vollziehen.

Zwar sträubt er sich mit aller Macht und Anstrengung, mit der Reihe des unter ihm Stehenden ins Glied zu treten, aber die unerbittliche und unbestechliche Wissenschaft entreißt ihm ein Vorurtheil nach dem anderen, entkleidet die Legenden, welche seinem Selbstgefühle schmeichelten, ihres Heiligenscheines und zwingt ihn, die heilsame Arznei der Wahrheit zu trinken, um zu einer gesunden, irrthumsfreien Welt-und Lebensanschauung zu gelangen. Er lacht der Zumuthung, im Gorilla, Orang-Utang oder Chimpanse seinen Urgroßvater zu erkennen, und doch ist er aus nichts Anderem gemacht und gestaltet worden, als aus den Elementen, aus welchen auch der Stein, die Pflanze, das Thier zusammengesetzt wurde. All' seine sogenannten Vorzüge verdankt er einer in ihm vollzogenen Entfaltung der in den vorhergehenden Wesensordnungen schlummernden Kräfte und Fähigkeiten, und wie sein Leib nichts Anderes als nur eine Veredelung des thierischen Körpers ist, so läßt sich die in ihm thätige seelische und geistige Kraft in absteigender Folge und allerdings auch mit abnehmender Deutlichkeit an der ganzen Reihenfolge der erschaffenen Wesen nachweisen.

Dieser Nachweis ist bei den Thieren bis hinunter zu den niedrigsten Arten ohne Schwierigkeit zu führen. Nicht so leicht fällt er bei den Pflanzen, ja es giebt gewiß sehr Viele, welche bei dem Worte »Pflanzenseele« mit verwundertem Lächeln den Kopf schütteln würden. Und doch läßt sich ein organisches Leben nicht ohne irgend eine geistige Potenz denken, durch welche eine Existenz eben erst zu einer organischen wird. Natürlich kann hier von einer freien Verstandes- und Willensthätigkeit, wie wir sie noch bei den Thieren finden, nicht die Rede sein, sondern die Thätigkeit der Pflanzenseele wäre nur in den allerelementarsten Aeußerungen zu suchen.

Etwas Derartiges müssen wir schon dem Keime des Samenkornes zusprechen. Bedeutend deutlicher zeigt sich die Spur eines seelischen Lebens in dem sogenannten Schlafe der Pflanzen, welcher besonders bei den Leguminosen oder Hülsenfrüchten beobachtet wird. Sie scheinen, gleich den Thieren, bei einbrechender Nacht in Schlaf zu fallen, verschließen ihre Blumenkelche, legen ihre Blätter zusammen und erwachen nicht eher wieder, als bis die Strahlen der Morgensonne auf sie fallen. Aber wie unter den Thieren viele des Tages ruhen und erst in der Nacht herumschwärmen, so sind auch andere Pflanzen im Tageslichte unthätig, wachen erst mit den Sternen auf und streuen ihre Wohlgerüche in der stillen Dämmerung oder der nächtlichen Dunkelheit aus. Das Reich der Pflanzen hat, wie dasjenige der Thiere, ebensowohl seine Nacht- wie auch seine Tagesschläfer.

Es giebt gewisse Pflanzen, die so reizbar sind, daß ihnen eine sehr zarte, fast thierische Empfindung nicht abzuläugnen ist. Die schamhafte Sinnpflanze (mimoza pudica) zieht, wenn man sie berührt, schüchtern ihre Blätter zusammen, und wenn man sie schlägt oder stark erschüttert, so läßt sie die Blätter traurig herabhängen. Fast ebenso empfindlich ist eine andere Mimosenart, ein südamerikanischer Strauch von 6 bis 10 [181] Fuß Höhe. Stampft man in der Nähe dieser Gewächse auf den Boden, so erfolgt eine plötzliche Bewegung der Blätter, welche mit der Wirkung des Schrecks auf die Thiere große Aehnlichkeit hat. Wenn ein Reiter durch ein solches Mimosengesträuch galoppirt und die vorher im Sonnenscheine so schön ausgebreiteten fiederblättrigen Fächer rechts und links bei jedem Hufschlage zusammenfahren und schlaff niedersinken sieht, so bekommt er den Eindruck, als befinde er sich mitten unter mit Gefühl und Empfindung begabten Wesen. Nicht minder auffallend ist die Ruhelosigkeit des schwingenden Hedysarum (hedysarum gyrans,) einer ostindischen Pflanze, welche unserer Esparsette nahe verwandt ist. So lange dieses Gewächs sich im Wachsthum befindet, sind seine Blätter in einer immerwährenden und regelmäßig auf- und niedergehenden Bewegung.

Auch die außerordentliche Liebe der Pflanzen zum Lichte ist eine der Erscheinungen des organischen Lebens. Welch ein wetteiferndes Drängen der Bäume eines dichten Waldes, Theil zu haben am Sonnenlichte. Wie trauernd und kränkelnd stehen die Unterdrückten da, während freudig die über ihnen rauschen, deren Wipfel vom Glanze der Sonne trinken. Wie breiten die in Zimmern und Gewächshäusern gehaltenen Pflanzen ihre Zweige, ihre Blätter sehnsüchtig nach den Fenstern aus, und wie drängt sich selbst der Keim aus den im Dunkel aufbewahrten Zwiebel- und Knollengewächsen hervor, um nach Licht zu suchen! Eine Kartoffel, welche im Frühlinge in einem Winkel des Kellers liegen geblieben war, trieb ihren Ausläufer erst zwanzig Fuß am Boden gegen die Thür hin, dann rankte sie an der Wand in die Höhe und trieb dann in grader Richtung auf das Lichtloch des Gewölbes zu. Wer kann bei solchen Erscheinungen, die das Vorhandensein eines Pflanzensinnes ankündigen, ein gleichgültiger oder gar gefühlloser Zuschauer bleiben?

Zwar dürften diese Erscheinungen durch physikalische und chemische Verhältnisse zu erklären sein, aber ein Räthsel bleiben sie uns doch, und wir müssen gestehen, daß die Thätigkeit der menschlichen Seele, des menschlichen Geistes ja auch nur durch gewisse physikalische Vorgänge und chemische Prozesse ermöglicht ist.

Für den sinnigen und gefühlvollen Beobachter giebt es im Reiche der Pflanzen mehr Leben, Absicht und gleichsam willkürliche Thätigkeit, als Andere vermuthen möchten. Scheint es doch fast, als ob sie der Schöpfer mit einer gewissen gegenseitigen Liebe begabt hätte! Denn wie unter den meisten Thieren, so herrscht sichtbar auch unter den Pflanzen der Trieb zur Geselligkeit. Wo sie frei für sich leben, und das ist vornehmlich in den gemäßigten Erdgürteln der Fall, da wohnen sie in ganzen Familien beisammen. Sie scheinen dann kräftiger zu gedeihen, als wenn man sie vereinzelt; ihr Wuchs ist, besonders an Bäumen, schlanker, ihre Oberfläche glänzender. Hingegen einzeln- und freistehende Pflanzen sind zusammengedrängter, struppiger, rauher und behaarter. Ist es nicht ebenso bei dem Menschen? Durch Geselligkeit wird er heiterer, in seinem Aeußern gefälliger; die Einsamkeit macht ihn in sich gekehrter, rauher, ja – wilder. Es ist keine Sage, sondern vollständige Wahrheit, daß die Marien-Kreuz-Distel ganze Völker bildet, welche unter einem Könige stehen, dessen Standpunkt sich grad in der Mitte des gewöhnlich ungefähr einen Quadratkilometer einnehmenden Terrains befindet, über welches sich das Volk verbreitet. Reißt man diesen König aus der Erde, so stirbt bis zum nächsten Herbste das ganze Volk ab. Wie will man sich dieses Geheimniß erklären?

Aber auch das Gegentheil der Liebe, der Haß und die Feindschaft, hat sich in das Reich der Pflanzen geschlichen. Wie es unter den Thieren solche giebt, die nur vom Untergange und dem Blute der anderen sich ernähren, so finden wir auch unter den Gewächsen Raubpflanzen, die im Safte und Blute der übrigen schwelgen. Sie hängen sich ihnen an, dringen mit ihren Saugröhren in sie ein und zehren ihre Kräfte auf. Wie in den Wildnissen Südamerika's die Räuber des Thierreiches am zahlreichsten vertreten sind, so wuchern in den dortigen Urwäldern auch die gewaltigsten Schmarotzerpflanzen. Armesdick umspannen die Lianen die Stämme, schleichen von Baum zu Baum in einer Länge von vielen Hundert Fuß fort, schnüren wie Seile ganze Waldungen zusammen und machen sie so undurchdringlich, daß mit der Axt oftmals hundert Bäume von ihrer Wurzel getrennt werden und dennoch in der Umschlingung stehen bleiben. Unter dieser tödtlichen Umschlingung ersticken die Bäume, verfaulen und zerfallen, während der Mörder auf neuen Raub ausgeht. Die Mistel bohrt ihre aussaugenden Wurzeln zwischen die Rinde unserer Obstbäume und entkräftet sie. Der Frauenflachs geht ebenso mordend von einer Pflanze zur anderen, ja, ganze Geschlechter und Familien stehen einander feindlich gegenüber und kämpfen so lange, bis das eine ausgerottet oder gewichen ist. Ein auffälliges Beispiel hierzu bieten die Zapfenträger und die Kätzchenträger. Deutschlands riesige Eichenwälder haben verschwinden müssen, weil sie in den nadeltragenden Forsthölzern überlegene Feinde besaßen, welche sich in sie eindrängten, ihre Lücken ausfüllten, ihre geschlossene Ordnung auseinandertrieben und mit dem jungen, schnellen Nachwuchse die alten, knorrigen und langsam wachsenden Veteranen um ihre angestammten und ehrwürdigen Rechte betrogen.

Ist es unter den 400,000 Arten der Pflanzen nicht grad' ebenso, wie unter den verschiedenen Arten der Menschenkinder? Die Beziehungen der einzelnen Naturreiche zu einander und zu dem Reiche der Nachkommen Adams sind überraschend innige. Das eine bereitet das andere vor, bildet es ab und setzt sich als Grundlage einer höheren Etage im Gebäude der irdischen Welt. Selbst wenn wir der einzelnen Pflanze ein metaphysisches Etwas, eine selbständige Seelenthätigkeit absprechen müssen, können wir doch nicht leugnen, daß der große Geist des Weltenalls die kleinste Flechte ebenso durchdringt, wie den gewaltigen Riesen des Waldes, daß er ebenso deutlich aus dem Gänseblümchen spricht, wie er aus dem Glanze des südlichen Kreuzes predigt, daß er sich im Dufte der Rose und dem Rauschen des Forstes ebenso nachhaltig offenbart, wie in dem Klange der Psalmen und dem Donnerworte vom Sinai. Es gilt eben hier wie überall das Wort Christi: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!«

Von diesem Gesichtspunkte aus hat eine jede Pflanze unbestreitbar ihre Seele, ihren Character, ihre Physiognomie und ihre Sprache. Die Tanne rauscht, die Linde säuselt, die Cypresse klappert mit ihren Zweigen; andere knarren; die Blätter lispeln und flüstern, sie scherzen und kosen; der Wald hat sein Piano und Fortissimo, sein Crescendo und Decrescendo, sein Solo und sein Tutti, überall aber nur eine Tonart: In Moll allein ertönt die Musik, die Stimme der Natur und reicht mit ihrem Einflusse so weit, daß kindliche Völker ihre Lieder allein nur in Moll singen.

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[189] Dur ist die Tonart der That, des wildbewegten Lebens; die Natur dagegen ist ein großes, elegisches Gedicht. Ihr ganz hingegeben, versinkt auch der Mensch, sei es im Rauschen des Waldes, im Sausen des Windes, im Plätschern des Regens oder im Donner des Meeres in eine elegische, weiche Stimmung. Darum war der Wald zu allen Zeiten der Vater der Lyrik, und die Sprache der Natur ist auch allzeit die Sprache des einfachen, der Natur noch nahestehenden Menschen.

Die Physiognomie der Pflanzen ist eine doppelte, eine allgemeine und besondere. Die Teppichvegetation der Moose, Flechten und Gräser, die Stockvegetation des Bambus, der Bananen und Cactusarten, die Kronenvegetation der Laub- und Nadelwälder, die Schopfvegetation der Farren, Pandanen und Palmen und die Verzierungsvegetation, welche aus Orchideen, Winden, Lianen und Pfeffergewächsen ihre Ornamente zeichnet, sie alle haben ihren eigenen, deutlich ausgeprägten Character. Aber neben demselben besitzt jedes einzelne Individuum dieser Pflanzenarten seine speciellen Eigenthümlichkeiten, die nur dem liebevollen Auge des Naturfreundes erkenntlich sind, weil ihm die Rose an seiner Brust, der Halm zu seinen Füßen, der Blüthenzweig in seiner Hand, der Wipfel über der Firste seines Daches unendlich mehr bedeutet, als nur ein vielgesehener und alltäglicher Gegenstand.

Es darf uns daher nicht Wunder nehmen, daß die Phantasie des Menschen schon von Alters her die Pflanze personificirte und noch der Dichter der Gegenwart mit seinen rauschenden und duftenden Lieblingen wie mit lieben, freundlichen Wesen verkehrt, die ihn lieben, ihn kennen und Theil nehmen an den Leiden und Freuden seines Herzens.

Die Mythe der alten nordischen Völker dachte sich die Welt gestützt von der großen Esche Ygdrasil, welche ihre drei Wurzeln nach Jotunheim, Asgard und Niflheim schlug; die Bibel beginnt ihren Bericht über die ersten Menschen mit der Erzählung vom Baum des Lebens und vom Baume der Erkenntniß; die frommen Sagen aller Völker wissen von heiligen Gewächsen zu berichten, und der Aber- und Wunderglaube knüpft an gewisse Pflanzen, Theile von ihnen oder Vorgänge an ihnen seine überraschenden Berichte.

Wenn der denkende Mensch von der Stimme Gottes in der Natur spricht, so hat er ganz besonders das Reich der Pflanzen im Auge; denn hier wird jedes einzelne Blatt und selbst das kleinste Blümchen zum eindringlichen und freundlichen Prediger der Liebe, Allmacht und Allweisheit des himmlischen Vaters. »Und daselbst kam des Herrn Hand über mich und sprach zu mir: ›Mache Dich auf und gehe hinaus in das Feld; daselbst will ich mit Dir reden!‹ Und ich machte mich auf, und siehe, da stand die Herrlichkeit des Herrn vor mir,« heißt es im Propheten Hesekiel, und doch gehen Tausende an dieser Pracht und Herrlichkeit Gottes vorüber, ohne sie zu schauen und ihre Stimme zu hören.

Wie laut und machtvoll ertönt diese Stimme bei dem alljährlichen Erwachen der Natur,


»Wenn beim Klang der Kirchenglocken
Frühling durch die Fluren geht
Und der Wind die Blüthenflocken
Von den duft'gen Zweigen weht,«

um das menschliche Gemüth daran zu erinnern, daß es zwar eine Ruhe, aber nicht ein Aufhören des Lebens, einen Tod giebt! Welch hohe Beredtsamkeit liegt in der reifenden Stille einer befruchteten Flur, über welche sich der Reichthum goldener Aehren breitet:


»O süßes Grau'n, geheimes Weh'n,
Als knieten Viele ungesehn
Und beteten mit mir!«

Und selbst der raschelnde Fall des herbstlich gefärbten Laubes, das Knistern des Strauches unter der Fülle des winterlichen Schneekleides muß eine Stimme sein im hohen Liede der Natur.

Ist es nicht rührend, daß die arme, einsame Nähterin ihr hochgelegenes, kleines Mansardenstübchen mit einer bescheidenen Reseda zu schmücken strebt, um nur ein Wesen zu haben, dem es Liebe und Pflege erweisen darf? Und ist es vielleicht so ganz von ohngefähr, daß die schwellende Knospe, die duftende Blüthe so oft und gern gebraucht wird als ein Bild der »Menschenblume, der holden?« Wenn der Dichter begeistert ausruft:


»Da haben wir staunend Dich angeseh'n,
Waldröslein, so jung und so maienschön,«
oder wenn der ferne Wandersmann seiner Sehnsucht Worte giebt:
»Im Heimathsdörfchen blüht die Rose,
Die's meinem Herzen angethan,«

so stehen »Waldröslein« und »Dorfröschen« vor dem geistigen Auge des Hörers nicht als gleichgeartete, sondern als verschiedene begabte Wesen da, und es ist doch, als hätte jede Blüthe, wie die Sage berichtet, ihren eigenen Engel, der als Blumenseele aus der Krone lauscht und in der Tiefe des Kelches die lieblichen Mysterien des Duftes webt und dichtet. Wer könnte darum über die kindliche Anschauung lächeln, welche sich hütet, eine Blume zu brechen, weil dadurch ein zartes, geheimnißvolles Leben zerstört und vernichtet wird, oder wer wollte des Märchens spotten, welches die segenspendende Flur unter den Schutz einer fleißigen Fee stellt, die über Feld und Wiese wacht und jeden Raub mit Zauberbann bestraft?


»Laß steh'n die Blume,
Geh' nicht ins Korn:
Die Roggenmuhme
Geht um da vorn!«

warnt die Bäuerin der Altmark ihr Kind, wenn es nach einer azurblauen Cyane greift, und es ist nicht zu leugnen, daß [189] diesem wie überhaupt jedem Aberglauben eine an und für sich reine und beachtenswerthe Idee zu Grunde liegt. Es bringt dem Menschengeschlechte keine Gefahr, wenn die Poesie ihren belebenden Hauch über die Felder breitet und ein seelisches Leben und Walten da findet, wo der nüchterne Verstand nur Knollen, Kraut und Wurzeln sucht. Ist es doch, als wolle die dichtende Phantasie Ersatz bieten für die Selbstsucht der Menschenkinder, welche an das Wort »Feld« am liebsten den Begriff der Erndte, des nüchternen Erwerbes knüpft und dabei oft der Liebe vergißt, die den Keim belebt, die Halme lockt und die Früchte schwellt. Erinnert doch grad' dieses Wort an den größesten und häßlichsten Gegensatz der Liebe, welcher seine Opfer unter dröhnendem Rossesstampfen und brüllendem Kanonendonner auf dem »Schlachtfelde« in »des Todes blutige Rosen« bettet.

Wie über das Feld, so wirft auch über den Wald die Dichtung ihren verklärenden Schimmer, und das magische Dunkel, über welches sich die dichten Wipfel legen, ist ganz geeignet zur Herberge für das Märchen, welches, sinnend im weichen Moose liegend, seine Träume um die schlanken Stämme spinnt, daß sie sich emporranken in das flüsternde Gezweig und vom Waldesduft hinausgetragen werden in das Sonnengold, um sich beim Glanz der Sterne niederzusenken an das lauschende Ohr der Menschenkinder.

Mit fliegender Mähne und schäumenden Lenden, mit dem gewaltigen Gehörn das wirre Buschwerk zerfetzend, rast das riesige Elenn dahin, auf welchem der Woodlandsghost, der Geist der wilden Prairie, durch die Wälder des nordamerikanischen Westens saust. Vor ihm her jagen die lechzenden Geister derjenigen Rothhäute, welche vor den Bleichgesichtern flohen, und hinter ihm folgen auf feuerschnaubenden Rossen die Seelen der Weißen, welche unter den Streichen des Tomahawk fielen.

Ueber die Wälder Deutschlands braust der wilde Jäger mit seinem brüllenden, schreienden, heulenden und kläffenden Gefolge; in den dunklen Schluchten des Riesengebirges treibt Rübezahl sein Wesen; in den Alpenforsten des Waadtlandes haust ein Geist, welcher den Menschen bald als Grabbi (Geizhals), bald als Bita crotzé (Klauenthier), als Niton (Schalk), Tamai (Waldmensch), Osé (Vogel) oder Tofron (Landstreicher) erscheint. In den Wäldern Vorderasiens versteckt sich der riesige Scheidan; den Himalaya machen Tausende von Tschin's unsicher; auf Madagaskar dreht Mahao, die Zauberin, die stärksten Bäume zusammen und spinnt sie zu Flachs für ihr Hemde; auf den schottischen Bergen klagt der Geist Fingals um seine Tochter; jeder Wald hat seine Geschichte, seine Sage, seine gespenstische Bevölkerung, welche gut oder bös ist, das Licht oder das Dunkel liebt, je nach der Physiognomie, die ihm eigenthümlich ist.

Denn auch der Wald hat seinen Character, seine individuellen Eigenthümlichkeiten und läßt aus diesem Grunde sehr wohl eine Personification zu.


»Wer hat dich, du schöner Wald,
Aufgebaut so hoch da droben?
Wohl den Meister will ich loben,
So lang noch mein' Stimm' erschallt!«

gilt dem Hochwalde, dessen dunkles Getann mit sei nen Wurzeln sich an die steilsten Felsenklüfte klammert und die vom Sturme zerrissenen Gipfel hoch in das Glühen der Alpen taucht. Dort hinauf dringt nur selten ein schwacher Laut des tief unten wogenden Lebens und nur der scharfe Knall der Büchse bringt unwillkommene Kunde von der Feindschaft, mit welcher die irdischen Geschöpfe sich bekämpfen. Ist's ein Wunder, daß er diesen Geschöpfen seine strengste, düsterste Miene zeigt und sie mit seinen stürzenden Felsen und Fluthen von sich abzuweisen sucht?


»Ade, Du liebes Waldesgrün, ade!
Ihr Blümlein mögt noch lange blühn, ade!
Mögt andre Wandrer noch erfreun
Und ihnen Eure Düfte weihn, ade!«

gilt einem ganz anderen Walde, dem Laubwalde, welcher seine Eichen- und Buchenstämme in den Boden des Unterlandes gründet und das lebendige und bewegliche Grün seiner Blätter nur hier und da mit einer Gruppe dunkler Nadelhölzer schattirt. Da breitet ein blumenreicher Teppich sich unter den kühlenden Laubkronen aus, der Strahl der Sonne umsäumt die zitternden und flüsternden Blätter mit purpurnen, goldenen und silbernen Rändern, und farbige Schimmer zucken und blitzen durch das Geäst. Hier hat das »Eichkätzerl«, das possirliche, seine eigentliche Heimath, metallisch glänzende Käfer summen unter der hohen Wölbung dahin, leichte Falter schlagen die zartbeschuppten Flügel, und draußen am Rande, wenn das Abendroth am Himmel verglüthe, erhebt die Nachtigall ihre bald süß klagende, bald selig jubelnde Stimme.

Da droben im Hochwalde färbt sich der See mit tiefdunklen Tönen und finstere Schatten schauen aus seiner Fluth. Es ist, als wohne der Tod auf seinem Grunde und in der Kälte seiner Wasser müsse jedes Leben, jede Bewegung ersterben. Hier unten aber umsäumt sich das Ufer mit heiterem Grün, flimmerndes Licht vibrirt über der wallenden Fläche, schimmernde Reflexe tanzen auf den spielenden Wellen und hell, treu und aufrichtig schauen die zurückgeworfenen Bilder aus der krystallenen Fluth empor. Und wenn des Vollmondes magnetische Helle den Schleier der Wolken durchbricht und geheimnißvolle Nebel um Busch und Strauch sich dehnen, dann beginnt die Fluth zu wallen; denn das Feenschloß da unten auf dem Grunde hat seine Thore geöffnet und ihm entsteigt die Herrscherin in wunderbarer, sinnverwirrender Schönheit, um das Reich der Sterblichen zu besuchen und den Tanz der Elfen zu belauschen.

Vermählt sich der Laub- mit dem Nadelwalde, so entsteht jene liebe Vereinigung von Hell und Dunkel, von Zartheit und Kraft, welche mit dem bekannten


»O Thäler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächt'ger Aufenthalt!«

gemeint ist und die Freundlichkeit des einen mit dem Ernste des anderen in die innigste Verbindung bringt.

Da giebt es sowohl für die Lust als auch das Weh des Menschenherzens ein lauschiges Plätzchen, an welchem man dem Walde, dem verschwiegenen, das stille Glück vertraut oder den nagenden Kummer klagt, und dazu rauschen die Wipfel und flüstern die Zweige so theilnehmend und beschwichtigend; das Herz wird ruhig, der Glaube schlägt wieder Wurzel, die Hoffnung grünt, das Vertrauen erstarkt, der entmuthigte Wille ermannt sich zu neuer That und beim Scheiden aus schattigem Grunde ertönt es mit neuem Muthe:


»Was wir still gelobt im Wald,
Wollens draußen ehrlich halten,
Ewig bleiben treu die Alten,
Bis das letzte Lied erschallt!«
[190]

5. Mensch und Thier

In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. Nr. 26–32. S. 205–206, 213–214, 221–222, 230–231, 238–239, 246–247 u. 254–255. – Dresden: H.G. Münchmeyer (1876). Reprint in: Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. Mit einer Einführung von Klaus Hoffmann. Hildesheim, New York: Olms Presse 1979.

[205] 5.

Mensch und Thier

»Herr, wie sind Deine Werke so groß;

Deine Gedanken sind so sehr tief!«

Psalm 92, 6.


Nicht zufällig stellt der Psalmist in diesem Worte die Begriffe »Werk« und »Gedanke« neben einander; denn während bei dem Menschen das Denken dem verständigen Wirken vorangeht und es begleitet, muß jeder Gedanke der göttlichen Allmacht sofort Gestalt und Wesen annehmen und als Erschaffenes, als Creatur sich offenbaren.

Die Gesetze, Kräfte und Erscheinungen der Natur sind nichts Anderes, als in die Zeitlichkeit getretene Gedanken des Ewigen, durch eine unfehlbare und allweise Logik zu einer Predigt verbunden, welche ebensowohl den strengen Ernst einer allwaltenden Gerechtigkeit, wie das Evangelium einer unendlichen Liebe verkündigt. Diese wunderbare Logik zeigt sich als eine lückenlose und Stufe für Stufe fortschreitende Entwickelung des nächst Höheren und Vollkommeneren aus dem vorangehend Niederen, aber seinem Zwecke vollkommen Entsprechenden, und wo das schwache Auge des Sterblichen eine Lücke in der Kette der Schöpfung zu gewahren vermeint, da thut sich dem späteren und schärferen Blicke das Geheimniß kund, daß die Woche des Schaffens noch nicht bis zu dem siebenten Tage, dem großen Sabbathe der Ruhe vorangeschritten sei.

Jede höhere Stufe kennzeichnet sich durch eine größere Selbstständigkeit des Lebens, eine vermehrte Freiheit der Bewegung und eine immer deutlicher ausgesprochene Individualität (Persönlichkeit).

Das erste Lebenszeichen unseres Planeten bestand in der durch elementare Bewegungen hervorgebrachten Bildung und Gestaltung der Erdmasse. Wir haben diesem gewaltigen Gähren und Treiben nicht beigewohnt; aber wir sehen es, zu Stein erstarrt, seine Felsenwogen aus der Tiefe emportragen und erkennen in jeder Anschwemmung oder Ablagerung des irdischen Stoffes und jeder metallischen oder krystallinischen Erscheinung den wahrheitstreuen Zeugen einer Jahrmillionen umfassenden Entstehungsperiode. Die hierbei thätigen Urgewalten arbeiten noch heut an der Umgestaltung des Stoffes, und die allmälig aber sicher vor sich gehende Veränderung der Erdoberfläche giebt in einer ununterbrochenen Bewegung den Beweis, daß fortwährendes und bis heut' noch nicht erloschenes Leben selbst die starre und an sich todte Materie beherrsche.

Diese unselbstständige Bewegung, dieses willenlose Leben des Unorganischen gewinnt immer wachsende Freiheit erst im Reiche der organischen Körper, welche bis hinauf zum Menschen einen immer bestimmter erkennbaren persönlichen Character zur Geltung bringen.

Die Pflanze hat sich mit den edleren und feineren ihrer Glieder schon von der Erde losgerissen. Zwar kriechen ihre niederen Gattungen und Arten noch am Boden hin, aber die höheren streben kühn empor zum Sonnenlichte und zahlen nur im Blätterfalle dem Boden, welcher sie tyrannisch an den Wurzeln hält, den schuldigen Tribut.

Auch einige der untersten thierischen Wesen vermögen der Erde noch nicht zu entfliehen, aber während selbst den freien Theilen der Pflanze jede Willkür mangelt, ist ihnen schon diejenige Selbstständigkeit der Bewegung geschenkt, welche ihnen erlaubt, dem Instincte der Erhaltung und Vermehrung zu folgen. Und in diesem Instincte ist dasjenige unbestimmbare Prinzip zu erkennen, welches sich durch seine Herrschaft über den Körper später als thierische Seele offenbart und als Geist im Menschen die höchste Stufe seiner Entwickelung erreicht.

Der Uebergang aus dem Pflanzenreiche in das Thierreich ist nicht ein plötzlicher und unvorbereiteter, sondern wie wir gesehen haben, daß es Pflanzen giebt, die ein Wachen und Schlafen, ja sogar eine Empfindung zu haben scheinen, so giebt es auch Thiere, welche wachsen und sich vervielfältigen wie die Pflanzen, Thiere, die man lange nur für Pflanzen gehalten hat und die es in der That doch nicht sind. Aber ist dieser Uebergang einmal geschehen, so eilt die Organisation auch mit raschen Schritten durch die zahlreichen Classen der animalischen Welt bis an jene Grenze, an welcher die Wissenschaft die Frage aufwirft: »Nun sage, Mensch, woher Du stammst!«

So stolz wir selbstgefälligen Menschenkinder auf unsere wissenschaftlichen Eroberungen sein zu müssen glauben, es ist doch nur eine geringe Tiefe, bis zu welcher wir in den »Reichthum beides, der Weisheit und Erkenntniß Gottes« eingedrungen sind. Während das Große, das Augenfällige zumeist und vor allen Dingen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, vollziehen sich in unserer unmittelbaren Nähe, ja an uns selbst, tausend Wunder, welche wir nicht beachten, weil sie uns alltäglich erscheinen oder zu ihrer Betrachtung einer Bewaffnung unserer Sinneswerkzeuge bedürfen. Und doch ist das Kleine im Haushalte der Natur von unendlich höherer Bedeutung als das Große; denn das Letztere baut sich aus dem Ersteren auf und entnimmt nur ihm die Mittel seines Fortbestandes.

So auch im Leben der Thiere.

Elephanten, Nashörner, Flußpferde, Löwen, Tiger, Riesenschlangen, Krokodile, sie, die Riesen und »Helden« des Thierreiches, sind aller Welt bekannt, und hunderte von Menagerien und zoologischen Gärten bemühen sich, die Kenntniß über sie zu verbreiten, aber


»der Käber und dat Würmelein«


und all' die »Thierikens«, deren Dasein nur mittelst der Loupe zu bestimmen ist, finden wenig Gnade vor den Augen des großen Publikums, obgleich auch hier die Behauptung gilt, daß das »schlichte Heldenthum« oft höheren Werth in sich berge, als die »große Reckenthat.« Was ist die Kraft des [205] Elephanten, der Muth des Löwen und die Kühnheit des Tigers gegen die Arbeit der kleinen Koralle, welche ganze Inseln und Inselgruppen aus der Tiefe des Meeres emporhebt? Welches andere Thier, und wäre es noch so riesengroß, kann seine Muskelkraft mit derjenigen des Floh's messen, welcher mehrere Hundert mal höher springt, als er selber ist? Selbst der mit 4000 dolchähnlichen Zähnen gespickte Rachen eines Riesenhaifisches muß verlieren bei einem Vergleiche mit den Freßwerkzeugen jener winzig kleinen Insecten, welche sich in die gigantischen Stämme der Deakwälder einbohren und das eisenfeste Holz zu Staub und Mehl zermalmen.

Und von welch hoher Bedeutung sind all die kleinen, mikroskopischen Thierformen, deren Kenntniß wir erst der neueren Zeit verdanken, für die Architektur des himmlischen Baumeisters!

In einem einzigen Tropfen Wasser schwimmen viele Tausende von Infusorien, und das höchste organische Geschöpf, der Mensch, beherbergt in seinen Eingeweiden, in seiner Haut, seinen Haaren, im Schleim, der an seinen Zähnen haftet, in dem Blute, das ihm durch die Adern rollt, unzählbare lebende Wesen. Sein Leib ist für Millionen verschiedener und fast unentdeckbarer Geschöpfe eine große wandelnde Welt, wie der ganze Erdball für die Völker des menschlichen Geschlechtes es ist. Sein Sterben und das Verwesen seines Leichnams ist nur der Augenblick, an welchem sich sein Fleisch und Blut wieder in neue Thierarten verwandelt, und selbst in größere, dem bloßen Auge sichtbare Geschöpfe, deren erste Stoffe, Keime und Eier er in sich getragen, ohne eine Ahnung davon zu haben.

Auf dem Grunde des Meeres und der süßen Gewässer bilden die winzigen Foraminiferen mächtige Ablagerungen; ebenso sind viele ausgedehnte Bodenschichten des Festlandes, zum Theil die festesten Felsen, aus ihnen entstanden. In der Steinkohlenformation Rußlands an den Ufern der Dwina hat man ungeheure Bergkalklager gefunden, welche aus ihnen bestehen. Der Grobkalk des Pariser Beckens, der Kalksand an den verschiedensten Meeren, der Schlamm vieler Häfen, ganze Gebirgsschichten haben sich aus ihnen gebildet. Der nordwestliche Theil von Berlin, die sogenannte Friedrich-Wilhelmsstadt (Louisenstraße, Carlsstraße), steht auf einer Schicht von zum Theil noch lebenden Infusorien, und es ist dadurch der Einsturz mehrerer neugebauter Häuser herbeigeführt worden, weil die Baumeister es versäumt hatten, den Baugrund genau zu untersuchen. Diese Schicht ist 15 bis 100 Fuß mächtig, und welche Menge solcher Thiere zu ihrer Bildung gehörten, läßt sich aus der Angabe ersehen, daß erst 41000000000 einen Kubikzoll Erde bilden. Die nach oben weiße, nach unten graue Erde am Südrande der Lüneburger Haide bei Ebsdorf, 28 Fuß mächtig, das kreideähnliche Gestein bei Jastraba in Ungarn, 14 Fuß mächtig, die Bergmehlschichten bei Bagnola in Toskana, 10 Fuß mächtig, verdanken ihnen ihre Entstehung. Auch die Erde, welche gewisse wilde Völker essen, ist nichts Anderes als Infusorienerde. Sogar in der Luft sind diese Thiere zu finden. Wenn der Seefahrer bei der Rückkehr aus Indien oder vom Cap der guten Hoffnung auf dem Wege nach Europa ungefähr den 20. Grad nördlicher Breite schneidet, so sieht er nicht selten die Segel seines Schiffes sich mit einem feinen Staube bedecken, den er Passatstaub nennt, weil ihn der in diesen Gegenden herrschende Passatwind herbeigeführt hat. Dieser Staub kommt aus Afrika und zeigt sich bei mikroskopischer Betrachtung als nur aus Infusionsthierchen bestehend. Ebenso verhält es sich auch mit derjenigen Erscheinung, welche man Staubnebel, Meteorstaub, Staubregen u.s.w. nennt und auch zuweilen bei uns, mehr aber noch im südlichen Europa bemerkt wird.

Von diesen nur durch das Glas erkennbaren Thieren bis hinauf zu dem oft über 200 Centner schweren Walfische hat ein jedes seine eigene Aufgabe zu erfüllen und kehrt dann wieder in seine Urbestandtheile zurück.

»Wozu sind die Myriaden von häßlichen Würmern, die lästigen Insecten, das schmarotzende Ungeziefer, die schleichenden und reißenden Thiere da, welche mit Wollust in dem Leben ihrer Mitgeschöpfe wühlen?« fragt da der Zweifler oder der Wißbegierige. Alle jene, trotz der vorgeschrittenen Cultur noch so zahlreichen und oft weit ausgedehnten Erdlager, welche der Pflug noch nicht berührte, wären vielleicht schon längst steinartig verhärtet, wenn sie nicht alljährlich durch Legionen von Würmern, Käfern, Schnecken und anderen Thieren durchwühlt und aufgelockert würden. Die unterirdischen, vielfach gewundenen Gänge, Zellen und Behausungen dieser kleinen Geschöpfe sind ebenso viele künstlich gebaute Kanäle, durch welche der befruchtende Regen in den tiefen Grund dringt und die Luft den Wurzeln neue Nahrungsstoffe zuführt. Gott hat Alles weiser geordnet, als der Sterbliche kennt und begreift. Wo der Mensch Störungen seiner eigenen Absichten oder Fehler in der Naturordnung beklagen zu müssen glaubt, ist ihm ohne sein Wissen und Verstehen eine Wohlthat geschehen, deren segensvolle Folgen sich auf die Zeitdauer von vielen Jahren erstrecken, um den etwaigen augenblicklichen Schaden tausendfach zu ersetzen. Ebenso ist der Dank, welchen der Mensch dem sogenannten Ungeziefer und den fleischfressenden Thieren schuldet, kein geringer. Diese Geschöpfe haben im Naturstaate die Sanitätspolizei zu führen. Wo der Mensch durch Nachlässigkeit und Mangel an der nöthigen Reinlichkeit im Begriffe steht, seiner Gesundheit zu schaden, da wird er durch die sofort auftauchenden Wohlfahrtspolizisten gezwungen, das zu thun, was er zu seinem eigenen Schaden unterließ. Ist dieser Zweck erreicht, so verschwinden die kleinen kribbelnden, krabbelnden, zwickenden, stechenden und beißenden Detectives wieder, indem sie das Gelingen ihrer Sendung mit dem Märtyrertod besiegeln. Friede ihrer Asche!

Bei dem endlosen Entstehen und Vergehen im Reiche des irdischen Lebens, vermittelt durch die Prozesse des Verdorrens, Verwittern und Verfaulens, würde sich in kurzer Zeit eine Menge in Auflösung begriffener organischer Körper ansammeln, die in Folge der ihnen entströmenden schädlichen Gase wahre Brutstätten von Epidemieen bilden müßten, deren traurige Folge der Tod alles Lebenden wäre. Hier hat nun die allweise Vorsehung eine außerordentlich zahlreiche Rettungsschaar gebildet, die in den verschiedensten Sectionen eingreifen muß, um dem Verderben rechtzeitig zu steuern. Kaum schmückt das Vermächtniß irgend eines wohlgefütterten Zugthieres die belebte Straße, so kommt der bekannte dickleibige Käfer herbeigesummt und fertigt mit erstaunlicher Geschicklichkeit kleine Kugeln aus dem bildsamen Materiale, um in dieser Form das Anstößige unter die Erde zu bringen.

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[213] Kaum hat ein Feldmäuslein, eine Eidechse oder irgend eine Natter die »irdische Bahn vollendet,« so naht der gelbgestreifte Todtengräberkäfer, um des Amtes zu warten, welches aus seinem Namen zu ersehen ist. Jedes Wild zieht sich, sobald es den Tod nahen fühlt, in die tiefste Einsamkeit zurück, um dort in Ruhe zu verscheiden; ist dies geschehen, so fallen unzählige Wächter der Gesundheit über die Thierleiche her, um durch die Vernichtung des faulenden Fleisches den üblen Folgen vorzubeugen. Jedes Wässerlein hat seine Polizei, jeder Bach seine Krebse, die nur vom Aase leben, jeder Fluß seine Räuber, die aber nichts weniger als den Galgen verdienen; in den stehenden See'n und schlammigen Strömen verschlingt das gefräßige Krokodil, der unersättliche Alligator ungeheure Mengen verwesender Stoffe, und die Piraten des Meeres, denen die Sorge über das allgemeine Wohlbefinden anvertraut ist, sind, der Größe ihres Gebietes angemessen, gar nicht zu zählen.

So hat jedes, auch das kleinste und unscheinbarste, das häßlichste Wesen seine Bestimmung, um deretwillen ihm der denkende Mensch die wohlverdiente Achtung zollt. Eine Frage nach der Bestimmung des Thierlebens im Großen und Ganzen würde eine, ganze Bände umfassende Antwort erfordern, die sich übrigens dem ernsten und liebevollen Beobachter ganz von selbst an die Hand giebt. Der Fleischesser, der Gerber, der Schuhmacher betrachtet die Welt der Thiere von einem sehr materiellen Standpunkte, während der Künstler durch die Macht der Idee den Stoff zu durchgeistigen weiß. Dem Forscher aber sind all' die vielen und verschiedenartigen tierischen Daseinsformen ebenso viele Offenbarungen einer aus dem Staube in das Reich des Geistes emporführenden Wesenskette, deren jedes einzelne Glied zur Bildung des Ganzen erforderlich war, und grad so und nicht anders ist, als es sein Zweck erforderte.

Diese Zweckmäßigkeit leuchtet am deutlichsten aus der Fortpflanzung der Thiere hervor; Wesen, deren Menge nach dem weisen Haushaltsplane der Natur so groß sein muß, daß der Mensch sie mit keiner seiner Zahlen zu bestimmen vermag, zeugen Millionen Nachkommen, obgleich sie vielleicht kaum vom Aufgange bis zum Niedergange der Sonne leben, während andere, die über ein Jahrhundert alt werden können, sich so spärlich vermehren, daß durchschnittlich auf mehrere ihrer Lebensjahre die Erzeugung nur eines Jungen gerechnet werden darf. Die Ersteren scheinen geboren zu werden, blos um sich fortzupflanzen und zu vermehren; die Letzteren aber haben andere und höhere Aufgaben zu lösen, und je mehr das ihnen innewohnende seelische oder geistige Princip sich entwickelt, desto bedeutender wird ihre Form, desto geringer ihre Zahl und desto länger die Zeit ihres Lebens.

Der Seidenwurm legt jährlich bei 500 Eier, die Bienenkönigin bei 40000. Eine Termitenkönigin wird im Zustande der Befruchtung 2000mal größer im Umfange, als sie gewöhnlich ist und legt dann innerhalb 24 Stunden 80000 Eier. Im churbraunschweigisch-lüneburgischen Antheile des Harzes wurden im Jahre 1783 über 3 Millionen Fichten durch den Fichtenborkenkäfer zerstört; um den Tod nur eines Baumes herbeizuführen, waren an 80000 dieses schädlichen Insectes thätig, also wurde die angerichtete Verwüstung durch über 240000 Millionen Käfer hervorgebracht. Ein Häring trägt über 20000, ein Karpfen über 30000 Eier; in einer einzigen Auster hat man über 3 Millionen Eier gezählt; ein Paar des höhlengrabenden Kaninchens kann sich unter günstigen Umständen binnen 4 Jahren auf 1200000 Stück vermehren; ein Paar Feldmäuse vermag es in der Zeit nur eines Jahres auf 20000 zu bringen, und auch die Vermehrung der Ratten ist eine so bedeutende, daß sie besonders in großen Haupt- und Hafenstädten zur wahren Plage werden. Besonders berühmt ist in dieser Beziehung Paris, wo in jedem Jahre zur Winterszeit die großartigsten Jagden angestellt werden und man alsdann wohl in einer einzigen Nacht 50000 tödtet. Auch der in dieselbe Classe der Nagethiere zählende Prairiehund vermehrt sich in so außerordentlicher Weise, daß im Flußgebiete des Colorado ein Reisender volle drei Tage brauchte, um eine Ansiedelung dieser Thiere zu passiren. Sie hatte eine Länge von 15 und eine Breite von 8-9 deutschen Meilen und enthielt mindestens 30 Millionen Bewohner.

Diese Vermehrung steht stets im gleichen Verhältnisse mit dem Nutzen und im ungleichen mit der Schädlichkeit der Thiere, obgleich zuweilen das Gegentheil der Fall zu sein scheint. Der Seidenwurm, die Biene, der Häring u.s.w. müssen eine so außerordentliche Fruchtbarkeit besitzen, weil ihr Zweck es erfordert. Häringe werden jährlich über 1200 Millionen gefangen, und wie viel braucht wohl ein Walfisch von diesen Thieren, um sich zu sättigen? Dafür erscheinen sie eben auch in Zügen, die oft 3 deutsche Meilen lang, 2 Meilen breit, bis 200 Klaftern tief und so dicht sind, daß ein Fisch an und auf dem anderen liegt. Wie könnte ferner allein die Bewohnerschaft Londons jährlich 110 Millionen Stück Austern verspeisen, wenn diese Muschel nicht eine so ungeheure Vermehrungsfähigkeit besäße, und ebenso ist es mit den Kaninchen, von welchen allein Ostende allwöchentlich bis gegen 100000 Stück in die Londoner Küchen liefert.

Das Krokodil, welches oft eine Länge von 30 Fuß erreicht und mehr als 100 Zähne im Rachen trägt, legt jährlich mehr als 100 Eier; aber diese werden bald von feindlichen Thieren zerstört, sodaß die Vermehrung des furchtbaren Thieres nicht zu groß werde. Löwen und Tiger hausen einsam in ihren Wüsten und Dschungeln, und Geier und Adler schweben vereinzelt in den Lüften. Je schädlicher ein Thier, desto schwieriger ist seine Vermehrung; es ist an ein bestimmtes Klima gebannt, während das nützliche Geschöpf dem Menschen in alle Zonen zu folgen vermag.

[213] Und wie in der Fortpflanzung, so tritt uns in dem Baue, in dem ganzen Leben jedes einzelnen Thieres die Mahnung entgegen, die göttliche Allmacht und Weisheit zu bewundern.

Wie leicht wird das riesigste Thier von einem Zufalle, einem kleinen Feinde, einer Krankheit niedergestreckt, während ein scheinbar schwaches und widerstandsloses Wesen die höchste Lebenszähigkeit entwickelt! Die Schnecken z.B. scheinen nur aus einem zerfließenden Schleime zu bestehen, aber nicht nur ersetzen sich bei vielen von ihnen die abgeschnittenen Theile wieder, sondern aus jedem losgerissenen Stücke wird ein eigenes, selbstständiges und sinnreich gebautes Thier, wie das bei dem Seesterne der Fall ist, an dem man über 80000 Gelenke gezählt hat. Will unsere gewöhnliche Schnecke einer anderen ihre Zuneigung zeigen, so schießt sie ihr einen kleinen, vierschneidigen Pfeil entgegen oder drückt ihr denselben in die Brust. Dieser Amorspfeil ist von kalkartigem Stoffe und steckt sehr lose in einer beutelartigen Höhle am Halse. Erst nachdem diese Liebesaufforderung verschossen ist, nähern sich die beiden Thiere einander zur Begattung.

Wer lehrt die junge Spinne ihr zartes Werk schaffen, von welchem 4000 Fäden erst so dick sind wie 3 Fäden einer ausgewachsenen Spinne? 4000000000000 Fäden einer jungen Spinne haben noch nicht die Dicke eines Menschenhaares! Die Farbe eines Schmetterlings besteht aus Schuppen, die wie die Ziegel eines Daches über einander liegen; auf jedem Quadratzolle sind 14400000 solcher Schuppen vorhanden. Jedes Auge eines Schmetterlings besteht wieder aus über 15000 Linsen, wovon jede die Kraft eines besonderen Auges besitzt. Und dieses Wunderwerk wird während eines Augenblickes durch den Schnabel eines Vogels zerstört! Eben solche Facettenaugen hat auch die Fliege, von welcher wir allein in Europa 1700 Arten kennen.

Der Condor, welcher mit ausgespannten Flügeln 12 Fuß mißt und wie ein König in den Lüften herrscht, horstet 10 bis 15000 Fuß hoch in den Felsen der Anden, und doch thut es ihm der winzig kleine Kolibri gleich, der ihm bis zu einer Höhe von 10000 Fuß folgt. Wunderbar ist die Regelmäßigkeit, mit welcher die Streich- und Zugvögel ihren Standort wechseln. Die Schwalben kommen in Würtemberg um den 8., in Berlin um den 18., im mittleren Dänemark um den 29., in Königsberg um den 31. April und in Kopenhagen um den 5. Mai von ihrer Wanderung zurück. Jede von ihnen kennt ihre Heimath und ihr Nest ganz genau, und so ist es mit' all unseren gefiederten Freunden, welche uns auf einige Zeit verlassen, um die Wärme des Südens aufzusuchen. Aber auch bei niedrigeren Thieren ist dieser Ortssinn zu beobachten. So wurden bei Ascension eine 8 Centner schwere Riesenschildkröte gefangen, um lebend nach Europa gebracht zu werden. Unterwegs erkrankte sie aber und wurde deshalb angesichts der britischen Küste in das Meer geworfen. Zwei Jahre später fing man dasselbe Thier bei Ascension wieder; es hatte also den Weg in die 800 Meilen entfernte Heimath wiedergefunden.

Der Bau eines jeden Thieres ist mit weiser Fürsorge für seinen Aufenthalt und seine Lebensweise eingerichtet. Der Maulwurf, welcher seine unterirdischen Gänge gräbt, besitzt die dazu nothwendigen Schaufelfüße ebensowohl, wie der Fregattvogel die, ausgebreitet 14 Fuß klafternden Flügel, um als kühnster der Segler die Oceane zu überfliegen. Die im grünen Blätterwerke aus dem Eie gekrochene Raupe, deren einzige Aufgabe in der Befolgung ihrer Gefräßigkeit besteht, vermag nur kurze Zeit ohne Nahrung zu bestehen, während das Kameel, für die wasserarme Wüste bestimmt, acht Tage lang zu dürsten vermag und auch ohne Nahrung eine Zeit lang von dem Fette seines Höckers lebt. Das Faulthier, gewohnt, die Bäume bis auf den letzten Rest ihrer genießbaren Theile abzunagen, besitzt in seinen Krallen die besten Werkzeuge, sich auf ganze Wochen klammernd festzuhalten; die 100 Arten von Affen, deren lebhaftes Temperament sie ohne Ruhe und Rast von Zweig zu Zweig, von Ast zu Ast treibt, sind mit Händen und Schwänzen versehen, welche diese Beweglichkeit ermöglichen, und die Antilope, deren einzige Waffe in der Flucht besteht, vermag mit ihren zierlichen Hufen die weitesten Strecken in stürmender Eile zu durchjagen. Die Schnecke baut sich ihren ambulanten Palast, die Termite ihre Volkscaserne, die Biene ihre zellenreiche Honigfabrik, der Vogel sein kunstvolles Sommerlogis, das Eichhörnchen seinen luftigen Kober, der Biber seine submarinen Familienzimmer, der Hamster seine unterirdischen Vorratskammern, der Fuchs sein Malepardus, der Bär seinen Rheumatismuskeller, und wer zu bequem ist oder es vergessen hat, bei Mutter Natur einen architectonischen Cursus zu nehmen, der schmeichelt sich in die Gewogenheit des Menschen ein, der ihm entweder eine weiche Sophaecke vermiethet oder einen Kunstpavillon mit der Firma »Villa Staar« zur Verfügung stellt.

Die Farbe der Thiere wird nicht vom Zufalle bestimmt, sondern auch in ihr offenbart sich das Walten einer gütigen Vorsehung, welche durch den Einfluß, den sie der rein äußeren Welt auf die Gestaltung und Ausstattung selbst des organischen Lebens erlaubt, ihren Geschöpfen die freundlichsten Vortheile bietet. Die Raupe und der Schmetterling, sie tragen beide die Farbe der Pflanzentheile, von welchen sie vorzugsweise ihre Nahrung nehmen, und sind auf diese Weise dem oberflächlichen Blicke ihrer zahlreichen Feinde entzogen. Aus eben diesem Grunde haben die Tagfalter eine helle, die Dämmerungs- und Nachtfalter eine düstere Färbung. Wenn sich die Lerche, das Rebhuhn eng an die Scholle des Ackerfeldes schmiegt, so kann selbst das scharfe Auge des Falken sie kaum von dem Boden unterscheiden. Das Gesetz der Farbenharmonie zieht sich durch die ganze irdische Schöpfung. Da die Pflanzenwelt der tropischen Zone eine in den reichsten Nuancen schillernde und flimmernde ist, so ist auch das Thierreich dort durch seine farbenprächtigsten Exemplare vertreten, während die Zahl und Lebhaftigkeit der Farbentöne sich je weiter nach dem Norden, desto mehr vermindert. Und nicht etwa blos die kleineren Thiere stehen unter dieser Farbenabhängigkeit, sondern wir haben selbst unter den größesten der Säugethiere die auffälligsten Beispiele. Der nordamerikanische Bison mit seiner schmutzig-dunklen Färbung paßt ganz vortrefflich in die vom Pfluge noch unberührten Ebenen des »dark and bloody ground«, des finstern und blutigen Bodens, wie der Yankee die Prairie nennt, während der Jak oder Grunzochs Innerasiens neben dem Braun des sonnverbrannten Niederlandes auch die Farbe des ewigen Schnee's an sich trägt, zu welchem er in die Berge des Himalaya emporsteigt. Der Bär der gemäßigten Zone sieht schwarz, braun oder grau, der Eisbär aber trägt das verunreinigte Weiß, welches den Schnee- und Eisfeldern des Nordens eigenthümlich ist.

[214]

[221] Ebenso bewundernswerth ist die Beziehung, welche zwischen der Gestaltung und Größe eines Landes und derjenigen seiner Thiere stattfindet. Gebirge haben andere Thiere als ebene Länder, vielfach vom Wasser zerrissene Flächen tragen nicht dieselbe Fauna, wie compacte, trockene Striche; große Festländer besitzen auch größere Thiergattungen, kleinere Festländer und namentlich Inseln auch kleiner gestaltete Thiere. So finden sich die Riesen der jetzigen Thierwelt, der Elephant, das Nashorn, das Nilpferd, die Giraffe, der Löwe und Tiger in Asien und Afrika, den breiten, massigen Erdtheilen, während das schmälere Amerika nur den Tapir, das Ljama und einige Rinderarten besitzt, und auf Neuholland das größte Säugethier, das Känguruh, nur in seinen stärksten Exemplaren 140 Pfund schwer wird. Der Tapir ist ein Kälbchen gegen den Elephanten und der Jaguar der neuen Welt nur eine Katze gegen den Löwen der alten Welt.

Auch die Eigenschaften desjenigen Elementes, in welchem das Thier lebt, trägt es an sich. Das Landthier zeigt ein festes Knochengerüste und eine schwere Muskulatur, ganz so, wie sich die Ländermuskeln um das Felsenskelett der Erde legen; das Luftthier ist leicht und voll lebendiger Beweglichkeit, wie die Gashülle, welche uns umgiebt, und dem Bewohner des Wassers ist die schlüpfrige Weichheit und Kälte der feuchten Flüssigkeit eigen.

Dem unbeweglichen, irdischen Stoffe am nächsten verwandt, ist die Koralle für immer an den Boden gebannt; freier schon sind die Muscheln und Schnecken, haben aber für die ganze Zeit ihres Lebens die anerkannt fürchterlichen Lasten eines Hausbesitzers zu tragen; der Krebs wird von seiner »Erdenhülle« so beengt, daß er gezwungen ist, von Zeit zu Zeit buchstäblich aus der Haut zu fahren; der Wurm wird von der festen Materie nicht belästigt, aber »der Schmutz ist seine Welt,« in der er sich bohrend windet; das Reptil hat die Erlaubniß, »den Sonnenstrahl zu speisen,« doch wird es nie befreit von dem Fluche, »Erde zu essen sein Leben lang,« und ob das Landthier einer noch so hohen Classe oder Ordnung angehöre, die Erde hält es fest, hemmt seine Bewegungen und beeinflußt seinen Character, der ein vorwiegend phlegmatischer ist.

Größere Freiheit und Schnelligkeit ist den Bewegungen der Wasserthiere, besonders den Bewohnern der Seen und des Meeres gestattet. Ohne Wärme, wie die Feuchtigkeit, in welcher sie leben, ist das Blut in den Adern der meisten von ihnen kalt; stumm sind sie, wie ihr Element, und giebt sich ihr Dasein dem Ohre zu erkennen, so geschieht es durch dasselbe Plätschern, dasselbe Rauschen, welches das Wanderlied des Baches und die Ode der Meereswogen bildet. Jener Zauber, welchen die geheimnisvolle Tiefe auf das menschliche Gemüth ausübt, theilt sich auch ihren Bewohnern mit, deren Leben wie ein anziehendes und doch ungelöstes Räthsel sich der Betrachtung verbirgt. Wundersam, ungreifbar und gefährlich, wie die Tiefe, über welche »keine Balken« führen, sind auch die Wesen, welche in ihr leben:


» ... Von Salamandern, Molchen und Drachen
Regt sich's in dem furchtbaren Höllenrachen.
Schwarz wimmeln da, in grausem Gemisch,
Zu scheußlichen Klumpen geballt,
Der stachlichte Rache, der Klippenfisch,
Des Hammers gräuliche Ungestalt,
Und dräuend weist die grimmigen Zähne
Der entsetzliche Hai, des Meeres Hyäne.«

Fröhlich und munter, behend und gewandt, anziehend und freundlich regt sich dagegen das thierische Leben in der Luft, durch deren leicht bewegliche und anschmiegende Fluth der helle Strahl der Sonne flimmert. Das schaukelt und gaukelt, das schwirrt und flirrt, das brummt und summt, das lächelt und fächelt, das ist ein Singen und Klingen, ein Hüpfen und Schlüpfen, ein Necken und Verstecken, ein Lauschen und Rauschen hoch oben, tief unten, bald hier, bald dort, allüberall, wohin sich nur das fleißige Auge wendet, um die Lieblinge des Naturfreundes zu entdecken und ihren blitzesschnellen, zierlichen oder majestätischen Bewegungen zu folgen.

Leise, wie das Säuseln des Zephyrs, klingen die süßen, abgerissenen Laute des träumenden Rothkehlchens; scharf und heiser, wie der Windstoß durch die Felsenenge pfeift, dringt der Schrei des Adlers über die Steinschluchten dahin; schrill und ängstlich, wie die Stimmen der den Sturm verkündenden Luftstöße tönt der warnende Ruf der Möven, die in wirbelndem Fluge das Riff umkreisen; in ruhig klarer Bewegung, wie der Strom des hohen Aethers, passiren die scheidenden Zugvögel in dicht geschlossenen Phalanxen oder gabelförmigen Schwadronen den lichten Horizont; in wellenförmigen Intervallen oder spielendem Wiegen, in kühnen Exercitien oder in souverainer Würde badet der Tagvogel seine Brust in der goldenen Luft, während Käuzchen und Uhu, die Katzen der Lüfte, mit gespenstischem Flügelschlage durch die Schatten des nächtlichen Dunkels schwimmen, um dem Aberglauben Stoff zu tausend furchterweckenden Mährchen zu geben.

Aber wie die Nacht, die dunkelgewandige, sich bei unbedecktem Himmel mit Millionen von Sternen schmückt, so entfaltet auch, wenn die Sonne ihre Purpurgluth im Meere gelöscht, das Thierreich sein phosphorisches Leuchten, um dem Strahle zu antworten, welcher den Gruß des Firmamentes zur Erde bringt. Die Tiefe des Meeres flammt in magischem, geheimnißvollem Lichte, in welchem sich die gefräßige Tintorera, der pfeilschnelle Hummer, die kugelnde Qualle und die vielarmigen Stelleriden baden; am Buge des Schiffes springt die schäumende Spiegelung mit demantischem Flimmer empor, und hinter dem Steuer öffnet sich eine breite, hellflammende Furche; die Schaar der Delphinen wälzt sich in siedendem Golde; wie flüssigem Metalle entschlüpft, werfen sich fliegende [221] Fische in die Luft, und um jeden Felsen, um jede Klippe, an jedem Orte der Küste kocht, wallt und spritzt es wie zerflossene Sternenmasse.

Und wie im feuchten, so auch im luftförmigen und auf dem festen Elemente. Im tiefen Dunkel des tropischen Urwaldes entzünden zahllose Insecten ihre Leuchten und erfüllen Luft, Gebüsch und Erde mit zauberischem Glanze. In gradlinigem Fluge trägt derElater zwei Punkte beständigem Lichtes auf dem Brustschilde; die Lampyris wiegt sich mit ab- und zunehmendem Schimmer des Unterleibes in unsicheren Linien zwischen den Zweigen, während die großeFulgura den blasenartigen Kopf in eine Laterne verwandelt, so hell, daß man dabei lesen könnte. Daher nennt man dieses cicadenartige Insect auch »Laternenträger.« Zahllose andere Feuerträger gesellen sich zu ihnen, und als sei man in einen Mährchenforst versetzt, so zucken die lebenden Funken und Blitze in der Nähe und Ferne, in Höhen und Tiefen und schlingen ihre glänzenden Arabesken durch die Nacht. Und dazu flackert das Irrlicht über dem Sumpfe, und dem Gewirre der vom Alter oder Sturme niedergerissenen oder todt und faulend in den Lianen hängenden Stämme entströmt ein nebelnder Schein, welcher die barocken Gestalten der Pflanzenreste in den abenteuerlichsten Contouren erscheinen läßt. Der bescheidene Schimmer, welchen wir an unserm Johanneswürmchen bemerken, ist nicht im Stande, uns ein Bild jenes »nächtlichen Feuerwerkes im Urwalde« zu geben.

Und dieses an Gestaltungen und Wundern so reiche Thierleben wurde von der Vorsehung mit einem Geschenke begnadigt, welches zu den köstlichsten Gaben der irdischen Natur gehört – mit einer Stimme.

Die Thätigkeit des Auges hat es mit den äußeren Gestaltungen zu thun und ist fast ausschließlich auf die Erkenntniß nur der körperlichen Eigenschaften eines Wesens gerichtet; das Ohr aber dient einer höheren Aufgabe, indem es die Wirkung eines inneren, eines seelischen Lebens in sich aufnimmt und an die geistige Erkenntniß weiter befördert. Das Auge giebt dem menschlichen Gemüthe weniger Nahrung als das Gehör, erst durch dieses Letztere wird der Mensch mitfühlendes Wesen aller anderen mit Empfindung begabten Geschöpfe. Auch die angenehmste, die schönste Landschaft ist leblos, wenn sie nicht durch das Erbrausen des hohen Waldes, das freundliche Murmeln der Quelle, das lustige Plätschern des Baches, das rollende Getöse des Stromes, das Summen der Käfer und Bienen, den Gesang der Vögel und die verschiedenen Töne der vierfüßigen Thiere eine Seele erhält, welche sich dem lauschenden Ohre zu erkennen giebt. Wie uns das Schweigen des Todes mit Schauder erfüllt, so erfreut die Stimme der Natur das menschliche Herz. Sie erweckt uns zu großen Gedanken und Empfindungen und beschäftigt uns mit dem Gedanken von der allgemeinen Verbindung der erschaffenen Wesen. Alles wird zum Psalm des Geschöpfes auf seinen Schöpfer. Wer hat dieses Loblied von tausend und abertausend abwechselnden Tönen, wiederholt vom Echo der Felsen und Wälder nicht schon vernommen? Wen ließ es ungerührt, der für zartere Empfindungen noch ein Herz im Busen trug? Wer hätte nicht oft selig in das Freudengetümmel der Schöpfung hineinjauchzen mögen und rufen mit dem königlichen Dichter des jüdischen Alterthums: »Lobet den Herrn auf Erden Alle, die sein Wort ausrichten; denn sein Name allein ist hoch!«

Nicht alle Thiere besitzen eine eigentliche Stimme, und zwar, weil nicht alle mit einer Lunge und den mit ihr verbundenen Stimmwerkzeugen versehen sind; aber dennoch wissen die meisten von ihnen nach ihrer Art ein Geräusch hervorzubringen, um nach den ihnen verliehenen Kräften auch mit in das hörbare Legen einzugreifen. Einige geben durch das bloße Aneinanderschlagen ihrer Glieder einen Ton von sich, wie die Feldgrillen oder die Heimchen, welche ihr weithin tönendes Gezirpe dadurch verursachen, daß sie die trockenen, häutigen Flügeldecken ein wenig erheben und über einander hin- und herschieben. Andere lassen ein Getöse laut werden, indem sie mit gewaltiger Kraft Flüssigkeiten aus Höhlungen ihres Körpers hervorstoßen, wie der Walfisch, welcher brausend Fontainen in die Höhe treibt. Andere erregen das ihnen eigenthümliche Summen und Brummen entweder durch den behenden Flügelschlag oder durch die Reibung, welche die Luft in den Luftlöchern ihres Körpers hervorbringt. Lungenlose Thiere können nur ein Geräusch, einen Schall, einen Ton hervorbringen, welchem der Mensch keine Articulation abgewinnen kann, trotzdem aber muß er sich vor der Behauptung hüten, daß in diesem Geräusche nicht das Mittel zur Verständigung, zur Sprache liege. Wir kennen die Wunder der Thierwelt noch zu wenig, und es ist anzunehmen, daß sogar Thiere niederer Ordnungen, von denen unser grobes Gehörorgan nie einen Laut vernimmt, doch vielleicht Töne besitzen, welche für uns unhörbar sind; wenigstens ist es zweifellos, daß jedes Thier eine Art und Weise besitzt, sich mit Seinesgleichen zu verständigen. Das Gegentheil wäre nur von solchen Thieren zu behaupten, welche, wie viele Arten der Thierpflanzen und Gewürme, sich nicht unter einander begatten, sondern jedes ohne Zuthun eines andern sein Geschlecht durch sich selbst vermehrt. Sie haben nicht nöthig, einander zu suchen oder ihre Triebe zu erkennen zu geben und leben, mit ihren Begierden in sich selbst verschlossen, allein und in tiefster Einsamkeit.

Jede der so unendlich verschiedenen Arten von Geschöpfen, ungeachtet sie allesammt bei und durcheinander wohnen, bildet für sich gleichsam nur ein eigenes Reich, und keine von ihnen versteht die Sprache, die Sitte oder das Zeichen der anderen. Die Ameise hat Verständniß nur für die anordnenden Winke von Ihresgleichen; die Biene unterhält sich nur mit der Biene; der Rabe folgt nur dem Raben, die Schwalbe der Schwalbe, der Storch dem Storche. Gott trennt durch unzerstörbare Schranken, und wie der Mensch nur den Menschen versteht, so auch jede Gattung der Thiere nur die zu ihr Gehörigen. Was in dieser Gattung vorgeht, wie sie denkt, wie sie fühlt, nach welchen Gesetzen sie handelt, wie sie das ansieht, was außerhalb ihres Kreises ist, das weiß kein anderes Wesen, das nicht in diesen Kreis gehört. Alles ist in sich abgeschlossen, und nur der Gottheit bleibt das Verborgenste jeder Creaturenfamilie offenbar. Wäre der Mensch in das Wesen, in die Triebe, Instincte und Mittheilungszeichen nur einer einzigen Thierart eingeweiht, welch' ein unermeßlicher Schatz von neuen Kenntnissen und Ansichten würde da vor ihm aufgethan sein. Das ganze All der Dinge würde ihm neu erscheinen und so manches unerforschte und tief in sein Leben greifende Räthsel enthüllt vor seinem Auge liegen! Das Mährchen konnte die Weisheit Salomo's nicht größer erscheinen lassen, als durch die Behauptung, daß er die Sprachen aller Thiere verstehe.

[222]

[230] Oder sollte die Meinung von der Abgeschlossenheit der einzelnen Thierclassen doch vielleicht eine irrige sein und sich ein gewisses »Einander verstehen« weiter erstrecken, als man gewöhnlich annimmt? Die Forschung steht sehr oft vor Erscheinungen, welche eine sogenannte »unumstößliche Wahrheit« in das Schwanken bringen und dem Wissen neue, bisher ungeahnte Gesichtspunkte öffnen. Es läßt sich nicht leugnen, daß die Thiere Gehör und Beobachtungsgabe besitzen, und wie der Hund die Worte oder Pantomimen seines Herrn richtig zu deuten lernt, so entsteht vielleicht auch zwischen Thieren verschiedener, wohl gar weit entfernter Gattung eine Art von Verständniß für die gegenseitige Sprache und Ausdrucksweise.

Ungemein wunderbar sind die Einrichtungen, welche der Schöpfer zum Hervorbringen der eigentlichen Stimme getroffen hat. Der Bau der Sprachwerkzeuge bringt je nach seiner Verschiedenheit auch eine Verschiedenheit der Stimme hervor, und im Allgemeinen läßt sich das Gesetz aufstellen, daß diese Stimme um so modulationsfähiger sei, als die Gefühle eine größere Entwickelung besitzen. Je größer die Lungen sind, um so kräftiger ertönen die von ihnen ausgestoßenen Laute. Ist die Luftröhre weich, so ist die Stimme matt und dumpf, besteht die Röhre dagegen aus einer Reihe von knorpeligen Ringen, so wird der Ton ein weit mächtigerer, schärferer und schneidenderer sein.

Wie in der Welt der Thiere überhaupt, so zeigt sich auch in den Stimmen derselben die reichste Abwechslung. Jedes Thier hat seine eigenthümliche Stimme, an der es sofort erkenntlich ist, und nur wenigen Vogelarten ist es gegeben, auch fremde Laute nachzuahmen.

Im Sumpfrohre, wo Gazellen und Giraffen trinken, liegt der Löwe und schläft am Tage, bis ihn die nahende Dämmerung weckt. Da richtet er sich auf, reckt die mächtigen Glieder und läßt jenes Gebrüll erschallen, welches die Berge zittern und die Heerden heulen macht. Erst seufzend, dann dumpf röchelnd, schwillt dieser furchtbare Laut, dem kein anderer im weiten Reiche der Töne zu vergleichen ist, in langgezogenen Stößen an, bis er zuletzt mit gewaltigem Donner die Luft erfüllt. »Rad«, d.i. »Donner« nennt daher der Araber den Machtruf des Thierkönigs, dessen Wirkung der Dichter beschreibt:


»Da liegt der Maure unter Palmen,
Vom Sonnenbrand herbei geführt;
Das Dromedar nascht von den Halmen,
Die noch der Samum nicht berührt.
Da trinkt das Gnu sich an der Quelle,
Der lebensfrischen, voll und satt,
Da naht verschmachtend die Gazelle,
Vom wilden Jagen todesmatt.
Da geht der Löwe nach der Beute,
Der König, kampfesmuthig aus,
Und in die unbegrenzte Weite
Brüllt er den Herrscherruf hinaus.
Und Mensch und Thier, Gnu und Gazelle,
Sie zittern vor dem wilden Ton
Und jagen mit Gedankenschnelle
Entsetzt, von Furcht gepackt, davon.«

Das Brummen des Bären durchschauert die Wildniß, die durchdringende Trompetenstimme des Elephanten läßt den Tiger erbeben; das Geheul der Wölfe verbreitet Schrecken über die Steppe und das muthige Wiehern des Schlachtrosses übertönt selbst die dumpfen Schläge der Kanonen, aber all' diese Stimmen können sich nicht messen mit den Lauten, welche der Löwe ausstößt, wenn er seine ebenholzschwarzen Krallen an Fels und Bäumen wetzt, um sich aus dem nächsten Duar (Dorf) den fälligen Tribut zu holen.

Von diesem entsetzlichen Löwendonner durchläuft die Ausdrucksfähigkeit der Thierstimme alle Grade bis zu der wundervollen Lieblichkeit, mit welcher der Gesang der Nachtigall, des orientalischen Bulbul oder des südamerikanischen Bellbird ertönt. Die vollendetsten Stimmwerkzeuge finden sich in den schönen und zahlreichen Classen der gefiederten Thierwelt, und es unterliegt gar keinem Zweifel, daß die Stimme zu der Größe, dem Baue, der Lebensweise und dem Character ihres Trägers in innigster Beziehung steht und als eins der hervorragendsten Merkmale betrachtet werden muß. Das Brüllen des Löwen, das Grunzen des Ochsen, das dumpfe »Ommu, ommu« der Hyäne, das scharfheulende »i–a–u, i–a–u« des Schakals, das Blöken des Schafes, das Miauen und Fauchen der Katze, der wilde, durchdringende Schrei des Raubvogels, das Girren, Trommeln und Lachen der Taube, das Schluchzen der Truthühner, das Schleifen des Auerhahnes, das Glucken und Krähen der Haushühner, aus all' diesen verschiedenen Stimmen läßt sich ganz genau auf den Character des betreffenden Thieres schließen, denn die Lüge hat sich leider wohl der menschlichen Rede, nicht aber der Sprache des Thieres bemächtigen können; die Stimme der Natur redet Wahrheit und führet niemals irre.

Die große Verschiedenheit zwischen den Vierfüßlern und Vögeln ist auch in ihren Stimmwerkzeugen ausgeprägt, und dieser Unterschied wird von der Classe auf die Ordnung, von dieser auf die Familie und von da sogar auf das einzelne Individuum fortgeführt. Die im Wasser lebenden Vögel schnattern und klappern, die von Insecten lebenden haben einen süßen, angenehmen, silberhellen Ton, die von Beeren und Früchten lebenden trillern und die körnerfressenden haben einen vollklingenden, stoßenden Gesang; aber all' diese Eigenthümlichkeiten zusammen ergeben ein vollständig harmonisches Concert, und die zärtlichen, süßklagenden Laute der Nachtigall, der freundliche Schlag der Wachtel, das Jubiliren der Lerche, der fröhliche Ruf des Finken, das kunstvolle Lied der Drossel, das Girren der Taube, der schmetternde, wechselvolle Triller [230] des Kanarienvogels, das Flöten des Pirols und die frischen Strophen des Wasserstaares bilden ebenso ein untrennbares Ganze wie die geschlossene Gesellschaft, der all' diese Individuen angehören.

Der König unter all diesen Sängern ist unbedingt und ohne Zweifel der nordamerikanische Spottvogel. Er hat die Größe einer Amsel und die schlanke Gestalt einer Bachstelze; sein Gefieder ist aschgrau oder dunkelbraun, am Bauche weißlich, der Schwanz weiß. Die Anmuth und Behendigkeit seiner Bewegungen, der lebensvolle Ausdruck seiner Augen, der Wohlklang und die Virtuosität seiner Stimme machen ihn zum Gegenstande der Bewunderung. Er ist aller Tonbiegungen und Wandlungen fähig von dem schmetternden Wirbel des Kanarienvogels bis zum heiseren Geschrei des kohlköpfigen Adlers. Es giebt keinen Laut, keinen Ton, den er nicht ganz genau und in groteskkomischer Weise wiederzugeben vermöchte. Er piept wie ein junges Hühnchen, das man getreten hat, und sogleich eilt die alte Henne glucksend herbei, ihre Brut zu schützen; er pfeift dem Hunde so täuschend, daß dieser schwanzwedelnd an seinem Herrn emporspringt; er kläfft wie der Hund, miaut wie die Katze, blökt wie das Schaf, wiehert wie das Füllen und bringt tausend possirliche Verwechselungen und Ueberraschungen hervor. Deshalb nennen ihn die Mexikaner »Cencontlatolli«, d.h. den Vogel mit 400 Zungen. Am Schönsten aber ist seine eigene Stimme, die an Umfang und Wohllaut nicht ihres Gleichen hat und alle Kehlen des Waldes überbietet.

Einige Vögel haben das Vermögen, Töne hervorzubringen, welche denen der menschlichen Sprache nahe kommen. Unter den Papageien giebt es sogar Arten, welche vielfach menschliche Geberden annehmen und räuspern, gähnen, husten, schnarchen, niesen, seufzen und lachen wie ein wirkliches Menschenkind. Selbst zum Gesange stimmen sie vorher ihre widerstrebende Kehle, und vermöge ihrer Gelehrigkeit geben sie ganze Sätze wieder, die sie gehört haben. Ebenso außerordentlich wie diese Gelehrigkeit ist auch ihr Gedächtniß. Ein Papagei wurde von seinem Herrn, einem Spanisch-Amerikaner, an einen Engländer verschenkt und lernte von diesem mehrere englische Worte und Redensarten. Nach langen, langen Jahren besuchte ein Spanier den Engländer, und beide bedienten sich der spanischen Sprache zu ihrer Unterhaltung. Der Papagei vernimmt nach so vielen Jahren zum ersten Male wieder die Klänge seiner alten Heimath, horcht auf, richtet sich empor, sträubt das Gefieder, stößt mit krampfhafter Heftigkeit einige spanische Worte aus, die er früher gelernt hat, und – stürzt leblos hernieder. Die Aufregung, die Freude hat ihn getödtet.

Es ist kein Wunder, daß die Luft, das leichte, lichte, tonzeugende Element, die vorzugsweise in ihr lebenden Geschöpfe mit der Gabe des melodischen Gesanges ausstattet; hören wir doch auch in der kräftigen, machtvollen aber eckigen und ungelenken Stimme des Landthieres die Eigenschaften seines Elementes characterisirt. Ebenso entspricht es dem Character der kalten, nassen Tiefe, daß ihre Bewohner stumm sind, wie sie selbst; wo aber eine Stimme an ihnen vernommen wird, da flößt sie ebenso Furcht und Schrecken ein, wie das Meer, wenn es laut wird, um mit dem Sturme ein donnerndes Zwiegespräch zu halten. Selten tönt diese Stimme so herzhaft lustig wie bei unserm Frosche, oder so metallisch wie bei manchen südamerikanischen Sumpfbewohnern, darunter ellenlange Frösche mit Ochsengebrüll. Manche Kröten haben nur einen heulenden, klingenden Ton, durch welchen sie an den Ufern von Gewässern mancherlei Sagen vom Glockengeläut im Walde oder von versunkenen Kirchen verursacht haben.

Aehnlich wie Laub- und Wasserfrösche unsere Sommernächte mit ihren wunderlichen Serenaden erfüllen, so ertönen auch die herzzerreißenden Stimmen ihrer liebenswürdigen südlichen Verwandten ganz besonders gern in naßwarmen Nächten, wenn die Luft den nahen Regen verkündigt. Das ist dann ein Quaken und Seufzen, ein Pfeifen und Schwirren, ein Bellen, Blöken und Brüllen, das einen musikalischen Europäer verrückt machen könnte. Aus diesem Wüthen und Toben schneidet das unheimliche Schnarren riesiger Laubfrösche heraus und wird begleitet von dem Basse ungeheurer Kröten, die ihre Wander- und Studentenlieder mit einem schallenden Hohngelächter schließen. Dazwischen tönt die Stimme des Kohlenfrosches wie ein lautes, einförmiges Gehämmer, die Bauskröte heult und klagt zum Verzweifeln, die große Kreuzkröte schreit gellend um Hülfe; die Trapicherokröte antwortet mit einem viertelstundenlangen, schneidenden Grunzen, und die Aqua- oder Riesenkröte giebt mit tiefem Brummen den Grundbaß zu diesem Katzenjammer mit solcher Genauigkeit an, als hätte sie Contrapunkt studirt.

[231]

[238] Auch die Thiere sind auf einander angewiesen; auch bei ihnen gewährt die Bildung von Gesellschaften entweder den besten Schutz gegen störende und vernichtende Natureinflüsse oder eine nothwendige Voraussetzung der Lösung derjenigen Aufgabe, welche ihnen im großen Haushalte der Natur zuertheilt worden ist. Diese Gesellschaften sind kleinere oder größere, je nach der Verschiedenheit der Triebe, von denen sie hervorgerufen wurden, und der äußeren Verhältnisse, unter denen sie sich entwickelten. Auch ihre Dauer ist dem Wechsel unterworfen und ihre Art und Weise eine so unendlich mannigfaltige, daß sie dem Beobachter ein reiches Feld der interessantesten Beobachtungen bietet.

Unter den gesellschaftlichen Trieben stehen der Fortpflanzungs- und der Wandertrieb oben an. Der erstere führt die einzelnen Individuen einander zu und binden sie entweder für eine nur kurze, oft aber auch für eine längere Dauer, zuweilen sogar für die ganze Lebenszeit. Während die Geschlechter gewisser Thierarten sich nur zu ganz bestimmten Zeiten suchen und einander dann fliehen oder wohl gar feindlich gegenüber stehen, beobachten wir bei anderen wieder eine ausdauernde und rührende Anhänglichkeit, wel che nur durch den Tod oder andere gewaltsame Ereignisse aufgelöst werden kann. Man denke z.B. an die Tauben, bei denen Männchen und Weibchen mit einer Treue zusammenhalten, welche ihren Paarungen den Namen »Ehen« gegeben hat, oder an gewisse Stelzfüßler (Storch etc.), bei denen die eheliche Untreue nach einer vorher erfolgten förmlichen Gerichtsverhandlung sogar mit dem Tode bestraft wird, wie man wiederholt beobachtet hat.

Während die meisten Thiere in Monogamie leben, ziehen andere die von unseren Gesetzgebern angefochtene Vielweiberei vor und liefern uns Beispiele einer Haremswirthschaft, wie sie bei den Völkern des Orientes nicht ausgebildeter gefunden werden kann. Da lebt der »Herr des Hofes,« der »hellkrähende,« mit seinen Favoritinnen in einer ewigen Flitterwochenzeit und gebietet als unumschränkter Sultan oder Schah – hin – Schah über das Wohl und Wehe seiner scharrenden, kratzenden, gluchsenden und gackernden Zuleiken und Fatimen. Besonders hegt die Ordnung der Hühner, Schwimm- und Wasservögel mit allen ihr Zugehörigen eine sehr ausgeprägte Sympathie für diese türkischen Zustände, denen der eieressende Mensch die Reichlichkeit eines seiner liebsten und nahrhaftesten Genußmittel verdankt.

Der Wandertrieb greift weiter und vereinigt die Individuen und Ehen zu Horden, welche als fliegende Geschwader, galoppierende Kosakenpulke oder wandernde Zigeunerschaaren entweder der besseren Weide oder einer reichlicheren Tränke, meist aber der Wärme nachgehen, welche ihnen die südlicher gelegenen Länderstriche gewähren. Er liegt ebenso tief in der Natur wie der Geschlechtstrieb und macht sich mit einer Regelmäßigkeit geltend, daß man für gewisse Gegenden unter Berücksichtigung der jeweiligen Witterungsverhältnisse den Aufbruch der »wandernden Gesellen« fast auf den Tag berechnen und vorherbestimmen kann.

Obgleich sich besonders die Vögel, welche man nach der Verschiedenheit der Richtung und des Zieles ihrer Excursionen in Zug- und Strichvögel eintheilt, durch diesen Trieb auszeichnen, finden wir ihn doch auch bei den anderen Classen, von den Säugethieren bis herunter zu den niedrigsten Organismen thätig, und besonders fallen hier diejenigen Wanderungen in das Auge, welche die größeren Vierfüßler vornehmen.

Der nordamerikanische Büffel unternimmt zur Herbst- und Frühjahrszeit Wanderungen, welche Hunderte von Meilen weit gehen und bewegt sich dabei in solchen Massen, daß die Erde unter den stampfenden Tritten der dahinstürmenden Herden, welche nach Tausenden zählen, erzittert. Auch der Mustang, das wilde Pferd der Prairie, wechselt seine Weideplätze und jagt unter donnerndem Hufschlage mit fliegender Mähne und wehendem Schweife zwischen dem Norden und dem Süden in jährlichen Pausen hin und zurück. »Stampedo« nennen die spanisch-sprechenden Amerikaner das dadurch verursachte Getöse, welches, von weitem gehört, dem Rollen des fernen Donners und in größerer Nähe dem Tosen eines schweren Wasserfalles gleicht. Die tolle Truppe rast in stürzender Eile dahin, zerstampft Alles und Jedes, was unter ihre Hufe kommt, und verliert sich, wie ein gespenstisches Phänomen im Dunkel der Nacht, in die Wildnisse der Steppe, dem weiten Schauplatze der stürmenden Jagd. Die afrikanische Gazelle unternimmt Züge, welche diesen Wanderungen ebenbürtig zur Seite stehen, und besonders ist es der Springbock, der in so dichtgedrängten und in Folge des Druckes wehrlosen Schaaren seine weiten Reisen vornimmt, daß die schönen Thiere massenweis mit Prügeln todtgeschlagen werden. Unter den kleineren Landthieren sind es besonders der Flemming und einige Ratten-und Mäusearten, welche oft in gewaltiger Mannhaftigkeit der Wahrheit huldigen: »Wenn Jemand eine Reise thut, so kann er 'was erzählen;« die großartigsten Züge aber gehen in den Tiefen des Meeres vor sich. Hier genügt es, nur auf den Hering zu deuten, welcher von seiner Wanderlust zu Millionen und aber Millionen in die Netze der Fischer getrieben wird. Auch der riesigste Bewohner, der Wal, unternimmt bedeutende »Stromfahrten«; man hat den Potwal oder Cachelot in Schaaren von 5 bis 600 in den äquatorialen Gewässern gesehen, und ein solcher Zug gehört zu dem Großartigsten, was das Auge zu sehen vermag. Als ein Beispiel aus der Insectenwelt möge die Wanderheuschrecke erwähnt sein, deren gefräßige Wolken da, wo sie auffallen, einer jeden Vegetation die sicherste Vernichtung bringen.

Die liebenswürdigsten unter all' den wanderlustigen Geschöpfen sind unsere gefiederten Freunde, deren Scheiden wir stets mit Wehmuth bemerken und deren Kommen stets ein [238] freudiger Gruß entgegentönt. Sie beleben die Zinnen unsrer Thürme, die Giebel und Firsten unserer Häuser, die Bäume und Sträucher unserer Gärten und Wälder und gehören mit solcher Nothwendigkeit in unsere Städte-, Dorf- und Flurenbilder, daß wir sie gar nicht missen können. Der schwatzhafte, liebesselige Staar mit seinen zärtlichen Flötentönen begleitet bei uns das erbliche Amt eines Garteninspectors, die blitzesschnelle Schwalbe producirt sich als Voltigeur und Lufttausendkünstler, der liebe Storch dient sehr geheimen Familienzwecken, sie alle, alle sind uns an das Herz gewachsen und dürfen fest auf die Gastfreundlichkeit des Gebildeten und Naturfreundes rechnen, wenn auch der Gourmand eines eingebildeten Gaumenkitzels wegen die von ihnen empfangenen Wohlthaten mit dem schwärzesten Undanke belohnt und die liebenswürdigen Sänger so rücksichtslos, so ordinär, so profan – verspeist.

Wohl zu unterscheiden von den beiden genannten ist der politische, der echte Gesellschaftstrieb, welcher Stämme und Völker schafft und diese Verbindungen unter Gesetze stellt, nach denen das Ganze als ein wirklicher und geordneter Staat geleitet und regiert wird. Auch hier giebt es Monarchieen und Republiken, wie in der bösen Menschenwelt, wenn es auch die Forschung erst noch entdecken soll, ob sich die öffentliche Meinung auch wie hier in eine gemäßigte und radicale, in eine rechte und linke, in eine conservative und social-demokratische scheidet. Wir finden das menschliche Leben und Treiben in der Welt der Thiere zuweilen so überraschend vorgebildet, daß es gar nicht zu verwundern wäre, wenn die Bienen, Wespen, Ameisen, Termiten, Prairiehunde und Biber auch ihre Bebel's und Liebknecht's, ihre Lasker's und Windhorst's, ihre Beust's und Bismarck's hätten. Wer ein solches Völkchen, z.B. einen Ameisenstaat genau beobachtet, wird Gelegenheit haben, immer neue Merkwürdigkeiten zu entdecken, welche ihn unwillkürlich zu Vergleichen nöthigen. Die mannbare und wehrhafte Ameise gleicht dem alten römischen Bürger, welcher mit dem Schwerdte in der Faust den Beschäftigungen des Friedens nachging und jederzeit bereit war, das Acker- mit dem Schlachtfelde zu vertauschen. Sie führt eine wohleingerichtete Ackerwirthschaft, durch welche sie sich mit den zartesten und wohlschmeckendsten Vegetabilien versorgt und hält sich einen Stall voll der besten Milchkühe, mit deren honigsüßem Ertrage sie sich nach des Tages Last und Hitze erfrischt. Die Blattlaus ist das Melkthier der Ameise; sie wird von ihrer Herrin »eingestellt«, gefüttert, getränkt, gereinigt und gestriegelt und hat für diese sorgsame Pflege nichts weiter zu thun, als jenen süßen Saft auszuschwitzen, welchen die Ameise so vorzüglich schmackhaft findet. Eine nie ruhende Industrie hat in jedem solchen Baue, der von Außen ein bloßer Schmutzhaufen zu sein scheint, ihre Stätte aufgeschlagen und wird unterstützt durch eine bis in das Kleinste gehende Ordnung, welche das Wohlbefinden eines jeden einzelnen Thierchens auf eine wahrhaft beispielswürdige Weise berücksichtigt. Was Wunder, daß die Ameise ihr theures Heim mit allen Kräften und wahrhaft heldenmäßiger Tapferkeit gegen alle feindselige Invasion zu schützen sucht und lieber den ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfelde stirbt, als sich freiwillig in das Joch der Sclaverei begiebt.

Diese Kriege zum Schutze des Vaterlandes entstammen einem man möchte sagen heiligeren Impulse, als die Turniere, welche viele der höheren Thiere zur Zeit der Paarung unternehmen, und sicheren den kleinen Patrioten die wärmste menschliche Theil nahme. Eigenthümlich ist, daß sich grad' das tiefer gestellte Insectenreich durch diese Völker- und Staatenbildung auszeichnet, während die Zusammenschaarungen höher organisirter Thierwesen des eigentlichen politischen Characters entbehren. Das verwilderte Pferd und Rind lebt in Heerden, der Hirsch, der Wolf in Rudeln, das Walroß wurde zu 2000 Stück beisammen gesehen, der Pinguin bedeckt mit seinen Schaaren meilenlange Küstenstrecken, aber eine so zu sagen staatliche Einigung ist bei ihnen allen nicht vorhanden, ebensowenig wie bei den Thieren der niedrigsten Abtheilung, obgleich viele von diesen, wie wir früher gesehen haben, zu Tausenden von Billionen ein Zusammenleben führen, welches nur durch rein äußerliche Ursachen bedingt ist.

Bei der Beurtheilung des Thierlebens muß der Mensch sich vor einem Fehler hüten, in welchen er gar leicht verfällt, weil er als größester der Egoisten alles Irdische auf sich, auf seinen Vortheil zu beziehen pflegt.

Als »Herr der Schöpfung« trachtet er, sich in ihren vollständigen Besitz zu bringen, leugnet ihren Selbstzweck durch den Eigennutz seines Thuns und verhält sich streng so, als sei alles Irdische in das Dasein gerufen nur für ihn, der als Gebieter nicht inner-, sondern außerhalb der Reiche der lebenden Wesen stehe.

[239]

[246] Deshalb ist er geneigt, Alles nur von seinem selbstischen Standpunkte aus zu beurtheilen und kommt so zu oft falschen Ansichten. Das Thier, welches ihm seine Freiheit nicht opfert, nennt er wild, dasjenige, welches sich zuweilen unter seinem Joche noch zu sträuben wagt, falsch und heimtückisch, das sich knechtisch unterwerfende treu, das Raubthier, trotzdem es nur dem ihm innewohnenden Naturgesetze folgt, blutdürftig und grausam, das Rind, das Schaf, die Seidenraupe, die Biene nützlich, die Viper, den Scorpion, die Raupe schädlich, und das Alles nur, weil er sich nicht zu der vorurtheilsfreien Anschauung erhebt, nach welchem jedes Wesen ebenso wie er selbst ein berechtigtes und wohlbegründetes Dasein zu führen hat, um einem weisen Schöpfungsplane zu dienen.

Und doch hat dieser Egoismus auch wieder seine volle Berechtigung, da durch ihn der kräftigste Hebel in Bewegung gesetzt wird, das Thierleben unter den Einfluß der alle feindseligen Gegensätze ausgleichenden Cultur zu stellen und den Frieden auch dahin zu bringen, wo die dem rohen Naturtriebe überlassenen Geschöpfe sich gegenseitig befehden, zerfleischen und vernichten. Der Tiger, welcher sich im Blute seines Opfers berauscht, die Boa, deren Schlund sich selbst für einen Ochsen zu weiten vermag, das Krokodil in seiner abschreckenden Gestalt und häßlichen Gefräßigkeit, sie alle müssen dem Menschen weichen, weil er die bisher von ihnen zu lösende Aufgabe in seine Hände nimmt, um in der Polizeiverwaltung der Natur das Präsidium zu führen und die lebenden Wesen unter eine Regierung zu vereinen, welche den Naturgesetzen Rechnung trägt, indem sie das unversöhnlich Schroffe mildert und in eine weniger rauhe Gewandung kleidet.

Deshalb muß die rohe und ungelenke thierische Kraft der überlegenen Gewandtheit des menschlichen Geistes weichen, und die Mörder und Tyrannen, die Riesen und Recken des Thierreiches flüchten sich vor ihm immer tiefer in die Wildnisse, wo sie früher oder später doch von seiner sicheren Hand erreicht und dem Untergange, dem Aussterben geweiht werden. Die vorsündfluthlichen Saurier und mit ihnen alle jene phantastisch gestalteten Riesengeschöpfe, deren Thätigkeit nur in einem ewigen und erbarmungslosen sich Vernichten bestanden zu haben scheint, sie sind verschwunden; so werden auch Arten, welche die Gegenwart noch kennt, aus dem Dasein scheiden und nur diejenigen Wesen erhalten bleiben, welche der allmäligen Civilisation der Erdoberfläche nicht einen unbeugsamen Widerstand entgegensetzen.

Diese Civilisation legt an die Berechtigung der Existens den Maßstab des Nutzens, welchen ein Geschöpf dem andern, vorzüglich aber dem Menschen bringt. Je größer die Vortheile sind, welche ein Thier dem Letzteren bietet, desto lieber und sorgsamer nimmt er es in seine Pflege, unter seinen Schutz und sorgt für die Erfüllung aller nothwendigen Lebensbedingungen. Mit ihm dem Menschen, entwickelt sich auch das Thier, indem es sich den verschiedenartigsten Veränderungen unterwirft, und es ist gar nicht zu leugnen, daß in Beziehung auf das Thierleben ebenso von einem Fortschritte gesprochen werden kann, wie in Beziehung auf die Zustände der menschlichen Gesellschaft. –

Es gab eine Zeit, in welcher der Mensch einsam stand in der großen, weiten Schöpfung, den anderen und zwar sehr oft feindlichen Daseinsformen gegenüber angewiesen allein auf seine noch unentwickelte geistige Kraft. Ohne äußere Vertheidigungswaffen sah er sich den Angriffen von Thieren ausgesetzt, mit denen er sich in körperlicher Beziehung unmöglich messen konnte und die er in seiner kindlichen Einfalt deshalb mit seinen jungen Begriffen mit einem höheren, göttlichen Wesen in Verbindung brachte: er betete sie an oder stellte sie wenigstens unter den Schutz der Religion, erklärte sie für heilig. Er hatte noch keine Beobachtungen gemacht, keine Erfahrungen gesammelt, hielt sie deshalb für geistig sich ebenbürtig und dichtete ihnen Eigenschaften an, welche ihr Dasein allein nur seiner Einbildungskraft verdankten.

Diese Phantasie blieb auch dann noch thätig, als seine fortgeschrittene Kenntniß einem jeden Wesen längst den ihm angewiesenen Platz angewiesen hatte, und Legende, Sage und Fabel sind bis auf die heutigen Tage thätig geblieben, die Seele des Thieres in eine innigere und nähere Beziehung zu dem Menschengeiste zu stellen, als es die Natur gethan hat. Die Mythologie und Geschichte der Alten kennt zahlreiche Wesen, welche halb Mensch, halb Pferd, halb Fisch oder Vogel waren, und berichtet von Thieren, welche mit den übernatürlichsten Gaben und Eigenschaften ausgestattet sind. Besonders gern thut dies die nordische Mythe, welche das Götterleben mit den wunderbarsten Thiergestalten schmückt und sogar die Seligen in Walhalla mit einem Eber versorgt, dessen Fleisch, wenn es verspeist worden ist, immer wieder lebendig wird, damit es morgen wieder geschlachtet und genossen werden kann. Wie bedauerlich, daß es nur in der Sage und nicht auch in Wirklichkeit solche »Braten ohne Ende« giebt!

Auch die späteren Zeiten haben ihre geheimnißvollen Erzählungen, welche, wie z.B. die Geschichte von der schönen Melusine, ihren eigenthümlichen Eindruck auf das kindliche Gemüth nicht verfehlen. Damals gab es noch Zauberer und Feen, welche arme Menschenkinder in Thiere verwandelten und sie nur unter schwer zu erfüllenden Bedingungen wieder frei gaben; da horstete noch der Vogel Greif über den Wolken, und Drachen, Lindwürmer und anderes furchtbare Gethier forderten die Heldenkraft des Muthigen zum Kampfe heraus. Bis in den heutigen Tag herein klingen diese romantischen Berichte und tauchen hier oder da ganz unerwartet in ihren Reflexionen in der Anschauung des Volkes empor. Mit einem Sperlingsei kann man sich unsichtbar machen; ein Schluck aus der in einem Ameisenhaufen vergrabenen Weinflasche giebt Elephantenstärke; der Zahn einer Fledermaus verleiht ewige Jugend; bei Liebestränken, Amuletten und tausend Geheimmitteln [246] spielen Theile des thierischen Körpers eine hervorragende Rolle, und sogar die Seelenwanderung spukt zuweilen noch in einem dunklen Kopfe, welcher sich zu dem heroischen Entschlusse geneigt finden läßt: »Alles will ich werden, nur kein Droschkengaul!«

Im Gegensatz davon hat auch die heilige Geschichte ihre Thiergestalten von der Schlange des Paradieses bis zu dem


» ..... Kripplein was,
Von dem ein Ochs und Esel fraß,«

bei welchem frommen Reime der weniger Befangene allerdings unwillkürlich an die bekannte A-B-C-Buch-Tragödie erinnert wird: »Ein toller Wolf in Polen fraß den Tischler sammt dem Winkelmaaß.« Lieblicher dagegen klingt die Erzählung von den Tauben Noahs und den Raben, welche den Propheten speisten. »Was hab' ich Dir gethan, daß Du mich schlägst nun zu dreien Malen?« fragt daß zum Verwundern Bileams Leibeselin, und bekannt ist ja, mit welcher ergreifenden Macht die biblische Sprache sich der Beispiele aus dem Thierleben zu bedienen weiß. Die ganze Sehnsucht eines von der Reue gefolterten Herzens ist ausgesprochen in den wenigen Worten: »Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser;« wie erschütternd klingt die Drohung von dem Auge, welches »die Raben am Bache aushacken und die jungen Adler fressen,« und kein bezeichnenderes Wort für Christi Lehre und Character konnte es geben, als den Hinweis: »Siehe, das ist Gottes Lamm.« Wer hat noch nicht gelesen von jenem »Wurme, der nie stirbt,« oder von jener Scheidung in »Schafe und Böcke,« mit welcher der Letzte und Größeste der Propheten das Walten der ewigen Gerechtigkeit illustrirt?

Auch die heiligen Bücher und Traditionen anderer Religionen greifen fleißig in das Leben der Thiere oder nehmen dieselben wohl gar so in Schutz, daß sie die Tödtung derselben verbieten. »Thiur el Djinne,« Vögel des Paradieses nennt der Araber die Schwalben, weil sie, als der Herr den Garten Eden verschloß, an dem flammenden Schwerdte des Engels vorüber flogen, um dem Menschen in das Elend der Verbannung zu folgen; überhaupt versteht es der Orientale gut, in dieser Weise die bekannten Gestalten und auffälligen Erscheinungen des Thierreiches mit seinen religiösen Anschauungen in Verbindung zu bringen und sich mit einer Fülle von Mährchen und Sagen zu umgeben, welche dem realistischen Abendländer erdrückend vorkommen möchte. Dieser liebt die nüchterne, auf Thatsachen fußende Darstellung, und wo seine Dichtkunst sich mit dem Thiere beschäftigt, so thut er es, wie z.B. in dem Epos von Reinecke, dem Fuchse, oder im »Froschmäusler« von Fischart, als Psycholog oder Satyriker.

Das Thierreich ist höchst wohlhabend an psychologischen Characteren, und viele von ihnen sind so scharf gezeichnet, daß sie als Typen Eingang in die vergleichende Redeweise des alltäglichen Lebens gefunden haben. Von der Wachsamkeit des Hundes, der Falschheit der Katze, der Verschlagenheit des Fuchses, dem Fleiße der Biene, der Gefräßigkeit des Hamsters etc. kann man täglich und stündlich sprechen hören, und es ist hier wirklich der Mühe werth, beobachtende Vergleiche anzustellen.

Es giebt oft menschliche Physiognomieen, welche mit denen gewisser Thiere eine auffallende Aehnlichkeit haben, und eine genaue Beobachtung ergiebt dann stets, daß diese Aehnlichkeit sich nicht blos auf das Aeußere, sondern auch auf den Character erstreckt. Ein Gesicht mit eng bei einander stehenden Augen, zurückgebogener, niederer Stirn und schmalen, zugespitzten Zügen hat unbedingt etwas Raubvogelähnliches, zumal wenn der Kopf nach vorn getragen wird, während ein kurzer, starker Nacken, große Ohren, dicker und breiter Schädel, grobzügiges Gesicht mit breiter Nase, kleinen Augen und breiten, gradgeschnittenen und wulstigen Lippen unwillkürlich an jenes Thier erinnert, welchem man, wenn es drischet: »das Maul nicht verstopfen soll.« Mag man solche Vergleiche immerhin als gesucht bezeichnen, der aufmerksame Beobachter spricht mit vollem Rechte von Fuchs-, Mops-, Bullenbeißer-, Eulen-, Affen-, Esels- und anderen Gesichtern, und wenn wir das Recht in Anspruch nehmen, von Adler- und Habichtnasen zu reden, so müssen wir auch auf die Erlaubniß bestehen, andere Körpertheile zu einem Vergleiche heranzuziehen. Der Bau und die Haltung des Körpers, der Gang, der Klang der Stimme, die Art und Weise des Mienenspieles und des sprachlichen Ausdruckes sind hierbei mit in Betracht zu ziehen, und wenn wir hier Storchbeine, Reh- und Gazellenaugen, Stiernacken, Gorillaarme und Bärenschritt bunt untereinander aufzählen, so geschieht dies mit derselben Wahrheit des Vergleiches, mit welcher man z.B. von einem »Fuchsschwänzer« spricht, einem Men schen, der sich durch seine ganze Haltung und jede seiner Bewegungen als das zeigt, was er ist – ein »Schlaupelz,« dem es darum zu thun ist, durch scheinheilige Lobhudeleien seine Zwecke zu erreichen.

Die Frage, ob das Thier eine Seele besitze, ist für den gegenwärtigen Stand unserer Kenntniß eine vollständig überflüssige, wenn auch die Untersuchungen über die Thätigkeit dieser Seele kaum über die Anfänge der thierpsychologischen Forschungen hinaus gediehen sind.

[247]

[254] Instinct oder Ueberlegung? Wie oft hört man diese beiden Worte aussprechen, die doch beide eine geistige Thätigkeit bezeichnen, welche auf die Handlungen des Thieres bestimmend einwirkt. Denn wäre unter dem Instincte ein bloßer, dem Bewußtsein vollständig fremder Naturtrieb zu verstehen, so müßte man von einem solchen auch bei der Pflanze sprechen, welche die Wurzelkeime in die dunkle Erde, die Blätterkeime aber dem Lichte der Sonne entgegentreibt. Instinct hat dann auch der Mensch, welcher tausend unwillkürliche Handlungen begeht, die mit einer berechnenden Absicht Nichts zu thun haben und Ergebnisse derjenigen Naturgesetze sind, denen er mit seinem ganzen Wesen und Leben gehorsamen muß.

Man darf sich wohl vor der Behauptung hüten, daß das Thun des Thieres ein mechanisches, eine Gewohnheitsfolge sei; denn wenn man zugiebt, daß jedes thierische Wesen dasjenige, was es zu vollbringen vermag, erst gelernt haben muß, so fühlt man sich gleich darauf in die Nothwendigkeit versetzt, zu gestehen, daß eben das Lernen eine geistige, eine selbständige Thätigkeit und Anstrengung voraussetzt.

Natürlich ist diese Thätigkeit bei den höher gestellten Geschöpfen eine ausgeprägtere, und darum können wir auch nur bei ihnen von einem wirklichen Character sprechen, der ein um so augenfälliger ist, je mehr die freie Selbstbestimmung hervortritt. –

Das Eingreifen des Menschen in das Leben der Thiere ist meist ein gewaltthätiges. In den zahlreichsten Fällen steht er ihnen als Mörder gegenüber, um mit ihren Körpertheilen des Leibes Nahrung und Nothdurft zu decken und einer Menge von Industriezweigen die nöthigen Producte an die Hand zu geben. Selbst da, wo er, wie z.B. der Landmann, seine thierischen Untergebenen mit dem Namen »Nutzvieh« bezeichnet, ist sein Verfahren von der Selbstsucht geboten, laufen seine sogenannten humanen Bestrebungen auf die Rücksichten des Eigennutzes hinaus und führt seine Pflege doch nur zu einer Schädigung an der Freiheit und dem Leben der in seinem Besitze befindlichen Geschöpfe.

Während in erster Linie hier der Jäger und der Fleischer zu nennen sind, darf das Thun und Treiben des Naturforschers ein weniger feindliches genannt werden, obgleich auch er zuweilen »den Tod im Blicke trägt.« Während bei den Andern der geschäftliche Gewinn als Triebfeder wirkt, folgt er dem edleren Wissensdurste, um die Gestaltungen einer reichbelebten Welt kennen zu lernen, die seinen Betrachtungen eine unendliche Fülle des anziehendsten Stoffes bietet.

Unter allen Menschenkindern aber, welche dem zoologischen Leben ihr Interresse widmen, ist keines demselben so freundlich, so rücksichtsvoll und nachsichtig gesinnt wie der Dichter, welcher selbst mit dem Behemoth und Leviathan innige Freundschaft schließt, nicht ein einziges der unzähligen Würmchen in seinem Rechte kränkt und das verklärende Licht seiner Poesie selbst über das absolut Häßliche und Abstoßende fallen läßt. Er lauscht dem Zirpen der Grille wie dem Brüllen des Löwen, dutzt sich mit Mäusen und Elephanten, parlirt mit Goldfischen und Walthieren und lebt mit all diesen Creaturen auf einem Fuße, der dieselben zur größten Dankbarkeit verpflichtet. Die Ergiebigkeit seiner Phantasie ist wirklich erstaunlich und die Geschicklichkeit, seinen Schützlingen ein beredter Sachwalter zu sein, bewundernswerth. Es giebt keine schlimme That oder Eigenschaft, der er nicht eine Ursache zur Entschuldigung abzugewinnen vermag, und wo ihm auch das nicht möglich ist und er sich alle Vertheidigungsmittel aus der Hand gerungen sieht, fühlt er sich keineswegs in Verlegenheit gesetzt, sondern greift mit stets schlagfertiger Taktik zum Humore, um das allseitige »Gruseln« vor den kleinen und großen Ungeheuern in ein heiteres Lachen zu verwandeln.


»Mich bizt neizwaz, waz mag daz seyn?« 1


fragt in längst verklungener Sprache das alte Lied vom schwarzen Ritter Floh, und wer es gelesen oder gehört, muß schließlich zugestehen, daß der auf verborgenen Wegen wandelnde blutdürstige Held ein galanter Damenfreund ist, der ganz so wie die mittelalterlichen Burgherren und Edelknappen vorzugsweise dem schönen Geschlechte seine Tapferkeit und Minne widmet.

Nur er, der Dichter, bringt das Kunststück fertig, zwei spazierengehende Löwen einander so auffressen zu lassen, daß Nichts übrig bleibt


» ... von den Löwen edel,
Als nur die beiden Wedel.«
Und fast noch Wunderbareres leistet er, wenn er als Arzt seine Heilmittel dem Thierreiche entnimmt:
»Ein Mann, geplagt in seinem Haus,
Riß sich die ganzen Haare aus;
Dem heilt ich auf die kahle Stell
Ein Stückchen schwarzes Pudellfell.
'ne Sängerin litt schon lange Zeit
An ungeheurer Heiserkeit;
Mehlwürmer heilten diesen Fall,
Jetzt singt sie wie 'ne Nachtigall,«

erzählt er von seinen Curen, die gar nicht zu bezweifeln sind, wenn man an die Intimität denkt, in der er zu allen Geschöpfen steht, ihre Sprache kennt und ihnen alle möglichen Geheimnisse ablauscht. Während der prosaische Mensch das Pferd nur wiehern, die Ziege nur meckern und die Katze nur miauen hört, vermag der Dichter all diese Töne in echtes, richtiges Hochdeutsch zu übersetzen und weiß Wort für Wort und Sylbe für Sylbe, was gewiehert, gemeckert und miaut worden ist. Glücklicher Weise leidet er nicht an dem Fehler der Verschwiegenheit, und so erfahren auch andre Menschenkinder die ihnen sonst verborgenen Heimlichkeiten:


[254]
»Der Hahn singt schon in aller Früh
Der Henne vor sein Kikriki;
Sogar der dumme Gimpel schreit
Von Liebesgram und Liebesleid.«

Besonders sind es die zartstimmigen, gefiederten Wesen, denen die Töne seiner Leier erklingen. Er weist ihnen im heiligen Reiche der Liebe die verantwortungsvolle Stellung als Briefträger an:


»O bitt Euch, liebe Vögelein,
Will keines von Euch mein Bote sein?«
läßt sie vor dem Auge des Liebchens als nachzuahmendes Beispiel leuchten:
»Zieht im Herbst die Lerche fort;
Singt sie leis ›ade!‹
Sag mir noch ein liebend Wort,
Eh' ich von Dir geh!«
und stirbt zuletzt gar mit ihnen im Schooße der Holden, welche ihm die Erhörung verweigert:
»Schießt mich ein Jäger todt,
Fall ich in Deinen Schooß;
Siehst Du mich traurig an,
Gern sterb' ich dann!«

Hat er auf diese Weise sein Herz von der Last der Seufzer befreit, so kann er sich den Ansprüchen des materiellen Lebens nicht länger entziehen; auch die Muse muß essen und trinken, wenn sie bei Kräften bleiben will, und dann treibt sie der Appetit sogar in die Nähe jenes Wesens, welches den Juden ein Aergerniß und den Muselmännern ein Gräuel ist:


»Heil Dir, geborstetes,
Ewig geworstetes,
Dutzend geborenes,
Niemals geschorenes,
Köstliches Schwein.
Heil, Heil und dreifach Heil
Dem Schwein und seinem Hintertheil!«

Am besten versteht es der Fabeldichter, mit der Thierwelt zu verkehren und diesen Verkehr besonders für die Jugend fruchtbringend zu gestalten. Auch der Componist ist zuweilen gemüthvoll genug, das geistreiche


»Der Kukuk und der Esel, die hatten ein Streit,
Wer wohl am besten sänge zur schönen Maienzeit.«

in Musik zu setzen, und manches in der Jugend gerngesungene Lied klingt, wie das alte, liebgewordene

»Weißt Du, wie viel Mücklein spielen«


bis in das späte Alter hinüber und hat seinen Einfluß auf die religiösen und sittlichen Ansichten eines mühevollen und prüfungsreichen Menschenlebens unbestritten ausgeübt. Die poetische Anschauung dringt nach und nach in das gewöhnliche Leben ein, beseitigt das Vorurtheil und mildert die Strenge. Sie hebt das Characteristische, das Beachtenswerthe hervor und erwirbt dem Thiere die menschliche Theilnahme und Dankbarkeit, wo es diese sonst vielleicht nicht gefunden hätte.


»Wer hat, wenn ich auf Gottes Welt
Allein mich fand, zu mir sich gesellt,
Wer hat mich geliebt, wenn ich mich gehärmt,
Wer, wenn ich fror, hat mich gewärmt,
Wer hat mit mir, wenn ich hungrig gemurrt,
Getrost gehungert und nicht geknurrt?«

rühmt Chamisso die Tugenden seines Hundes, und vergleicht man mit diesem Bilde den Character des Wolfes, des Fuchses, der Hyäne, die doch dem Hunde verwandt sind, so erkennt man den Einfluß des Menschen auf die in seiner Gesellschaft lebenden Thiere erst in seiner vollsten Stärke und Bedeutung.

Wenn die Bibel sagt, daß sich auch die leblose Creatur nach Erlösung sehne, so darf man dabei nicht an eine Himmelfahrt der Thiere denken, sondern dieses Wort will nur auf den Einfluß hinweisen, welchen der aus den Banden der Finsterniß befreite Menschengeist auf die Verbesserung aller irdischen Verhältnisse und also auch auf die Erscheinungen der verschiedenen Naturreiche auszuüben vermag und auch wirklich ausübt. Die Entwickelung des Menschen zieht alle unsre Daseinsformen in ihren Bereich, baut Stufe um Stufe dem großen Ziele der Vervollkommnung entgegen und führt mit Nothwendigkeit zur allmähligen Erfüllung des alten, biedern Wunsches, daß es


»Hier auf unsrer Erden
Mit Allem möge besser werden!«
[255]

6. Strom und Straße

In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. Nr. 33–36. S. 262–263, 270–271, 278–279 u. 286–287. – Dresden: H.G. Münchmeyer (1876). Reprint in: Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. Mit einer Einführung von Klaus Hoffmann. Hildesheim, New York: Olms Presse 1979.

[262] 6.

Strom und Straße

»Ein friedlich Regiment und eine freie Bahn

Für Alles, was der Mensch gebraucht und schafft,

Das ist es, was der Völker Wohlfahrt gründet.«


Als der Herr der Schöpfung dem Menschen jenen herrlichen Garten baute, in welchem er die ersten Tage seines Daseins in stiller Sammlung verbringen sollte, um sich auf eine thatenreiche und arbeitsvolle Zukunft vorzubereiten, durfte unter den hörbaren Lauten des jungen Erdenlebens auch das Murmeln der Quelle, das Plätschern der Welle, das Brausen des Falles und das Rauschen der Woge nicht fehlen. Und zwar war es nicht der Zweck der Bewässerung allein, welchem die vier Ströme Pison, Gihon, Hidekel und Phrat ihr Entstehen verdankten, sondern das Wasser hat in Beziehung auf den Menschen noch eine andere, eine höhere, man möchte fast sagen eine erziehliche Aufgabe zu lösen.


»Vom Wasser haben wirs gelernt,«


singt der wandernde Müllerbursche, wenn er die Gründe aufzählt, die ihn aus der Heimath in die Fremde geführt haben:


»Das hat nicht Ruh bei Tag und Nacht,
Ist stets auf Wanderschaft bedacht,«

und wer an sich selbst den eigenthümlichen Einfluß empfunden hat, welchen das rastlos zum Meere eilende Element auf das empfängliche Gemüth hervorbringt, dem wird der Glaube an jene Aufgabe nicht schwer werden.

Stellt man sich auf eine Brücke und blickt senkrecht hinunter auf die vorüber eilenden Wellen, so scheint es, als ob das Wasser stehe, während man selbst sich in Bewegung befinde, und recht gut kann man, ohne lächerlich zu sein, diese optische Täuschung zu einem Hinweis machen auf das Sehnen nach der Ferne, mit welchem der Gott der Gewässer die seinem Walten Lauschenden gefangen nimmt.

Der erste Mensch nahm nach seinem Erwachen zum Selbstbewußtsein eine reiche Menge von Gegenständen wahr, durch deren Betrachtung er seine Sinne schärfen und sein Urtheil üben sollte. Die erste Frage, welche er sich stellte, war auf das Wesen dieser Dinge gerichtet, dann aber folgte sofort das Verlangen, ihren Ursprung kennen zu lernen. Lange Zeit hat wohl das paradiesische Elternpaar am Ufer des Flusses gestanden, um Räthsel zu ergründen, welche uns schon seit Jahrhunderten zur offenbaren Alltäglichkeiten geworden sind. Je schwieriger ihrem einfachen und ungeübten Verstande die Lösung wurde, desto mehr hofften sie dieselbe in der Richtung zu finden, aus welcher die Wasser kamen, und so richteten sie ihre Schritte stromaufwärts, bis sie an der Quelle standen und das Räthsel ihnen immer noch Räthsel blieb.

Der forschende Geist kennt keine Ruhe, keinen Stillstand. Thürmt sich ihm ein unüberschreitbares Hinderniß entgegen, so sucht er in andrer Richtung, in andrer Weise sein Ziel zu erreichen. »Das Wasser lockt, die Welle zieht,« heißt es im alten Fischerliede; die flimmernden Strahlen, welche von Streif zu Streif hüpfen, das gesprächige Plätzschern und geheimnisvolle Flüstern an den Ufersäumen, das unaufhaltsame Vorwärtsdrängen der wechselvollen und doch ewig gleichbleibenden Massen, deren Tiefe der Fuß des Unerfahrenen nur zaudernd und zitternd sucht, das spurlose und keine Wiederkehr findende Verschwinden der sich vorüberwälzenden lebenspendenden und doch mit dem Tode drohenden Materie richtet den Flug der Phantasie in das Weite und läßt sie dort die Erklärung des Wunders suchen, welches seine Geburt dem Schooße der Erde, seine Verbreitung dem Gesetze der Schwere und sein stetes Fortbestehen dem Wechsel der Temperatur verdankt.

Fort also, den Wellen nach, immer dem Laufe des Baches, des Flusses, des Stromes entlang bis an die Küsten des nimmersatten, durstigen Meeres wanderte der Mensch, den Lockungen der Nixen und Wassernymphen folgend, denen er sich nicht entziehen konnte. Aber diese Wanderung war nicht in Tagen und Wochen vollendet, sondern sie bedurfte langer Jahresreihen und wurde von zahlreichen Ruhepunkten unterbrochen. Der Sterbliche wollte das Verborgene erkennen, er wollte, wie die Bibel sich ausdrückt, »sein wie Gott;« deshalb mußte er den engen Horizont seiner ursprünglichen Heimath erweitern, mußte das Unbekannte suchen, nachdem er das Bekannte erforscht und begriffen hatte, mußte die Erde mit all' ihren Erscheinungen, Gesetzen und Kräften geistig zu erobern suchen, und ward also von dem Engel mit dem flammenden Schwerdte, von der ihm gewordenen Mission aus dem Paradiese getrieben.

Als er an dem Meere ankam, war er gewachsen, war zum Volke geworden, hatte gelernt, sein persönliches Wohl mit demjenigen der Gesammtheit seiner Brüder zu vereinigen und die Bedingungen zu suchen, von deren Erfüllung dieses Wohl abhängig war. Vor allen Dingen aber hatte er eine werthvolle Erfahrung gemacht, nämlich die, daß die Natur ihm in dem Laufe der Gewässer die besten, kürzesten und bequemsten Straßen bot, welche für die wirthschaftliche und politische Entwickelung seiner Nachkommen unbedingt nöthig waren.

Je mehr die Zahl der Seinen wuchs, desto mehr wuchs in ihnen der Drang nach Ausbreitung über die Erde. Die Gebirge mit ihren Felsenriesen, die Wälder mit ihrer undurchdringlichen Wildniß, die Wüsten mit ihren todesstarren Strecken stellten dieser Ausbreitung noch unbesiegbare Hindernisse entgegen, die fließenden Wasser aber durchbohrten diese Felsenketten, durchbrachen diese Wildnisse, belebten diese Wüsten und luden ihn also ein, treue Kameradschaft mit ihnen zu halten. Und als er dann den ersten schwimmenden Baumstamm gesehen und daraus den Schluß gezogen und zur Anwendung gebracht hatte, daß die Fluth auch ihn und seine Lasten tragen werde, that er den ersten Schritt zu einem [262] Verkehre, welcher seine zahllosen Arme rund um den Erdball schlingt und die entlegensten Fernen mit einander verbindet.

Von dem einfachen Flosse bis zum ausgehöhlten Kahne, dem gezimmerten Boote weiträumigen Schiffe war der Sprung nicht zu groß. Der Fisch mit seinen Flossen wurde ihm zum Modell für Ruder und Steuer, vom Nautilus lernte er das Segeln, und nun es auf diese Weise ermöglicht war, die Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung nach Belieben zu verändern, durfte es der schwache Mensch wagen, den Kampf mit den Wogen und Winden des Meeres aufzunehmen.

Dem Verkehre zu Lande gelang es nicht, mit solcher Raschheit vorwärts zu dringen. Der Nomad veränderte zwar seinen Aufenthalt, so oft es seinen Heerden an der nöthigen Weide gebrach, aber er kehrte doch immer wieder an diejenigen Orte zurück, welche ihm als fruchtbar bekannt waren; er fühlte keinen Bedarf nach Straße, und die Wasserwege legten ihm Schwierigkeiten entgegen anstatt seinen langsamen Zügen förderlich zu sein. Er bewegte sich im offenen Lande, und wo sich ihm der Wald oder das Gebirge entgegenstellte, kehrte er wieder um.

Der Jäger war der Erste, welcher in die Urwildnisse eindrang und von seinem Muthe sich in unbekannte und also gefahrdrohende Gegenden führen ließ. Kehrte er zurück, so rühmte er sich der ausgeführten Großthaten und erregte dadurch die Lust Anderer, ein Gleiches zu thun. Jetzt verbanden sich Mehrere zu weiten Zügen, um Abenteuer aufzusuchen; die gangbarsten Stellen der Wälder wurden gefunden, die Pässe, welche über die Gebirge führten, entdeckt und dadurch Raub- und Kriegszüge vorbereitet, durch welche die geographische Kenntniß der Binnenländer ihre erste Verbreitung erhielt. Ist es doch heut' noch eine der ersten Aufgaben des Feldherrn, diejenigen Länder genau zu studiren, gegen welche sich seine Operationen richten, und vor allen Dingen für gute und genügende Wege zu sorgen, auf welchen seine Truppen sich bewegen können.

[263]

[270] Doch waren dies nur Privatunternehmungen, deren Erfolge keine bedeutenden sein konnten, und oft klang die Kunde von einem entlegenen Lande nur wie eine fremde Sage aus der Ferne herüber. Anders war es, wenn in einem rings von Gebirgen umschlossenen Gebiete sich die Bevölkerung so vermehrt hatte, daß die nöthige Nahrung nicht mehr zu erlangen war. Dann stürzten sich die wehrhaften Krieger wie eine immer größer werdende Lawine von den Bergen herab auf die Tiefländer überschwemmten Strecken, viele Tausende von Quadratmeilen groß, unterjochten die Völkerschaften, auf welche sie stießen und trugen den Sieg auf den Spitzen ihrer Schwerter so weit, bis sie endlich des Kämpfens müde wurden und sich zur Ruhe setzten. Ein solcher Stoß, welchen eine Nation auf die andere ausübte, pflanzte sich oft von einem Erdtheile auf den anderen über, brachte die Menschen mit einander in Verbindung und gab Veranlassung zum Anlegen von Wegen und Straßen, für welche es sonst noch Jahrhunderte lang kein Bedürfniß gegeben hätte.

Solche Züge sind ganz besonders von den Hochebenen zwischen Altai und Himalaya ausgegangen und haben ihre Völkerfluthen bis hinab nach Sibirien, hinüber nach Japan, hinunter nach Indien, herüber nach Europa, ja sogar bis nach Mittelafrika gewälzt. Der Name Mongole hat sich seit jenen Zeiten bis auf die heutige Gegenwart herein in lebhaftem Andenken erhalten.

Als die seßhaften Völker anfingen, Städte zu bauen, stellte sich die Nothwendigkeit heraus, die Ortschaften durch Straßen zu verbinden, um dem gegenseitigen Verkehre die nöthige Förderung zu erweisen. Da die meisten dieser alten Städte an Flüsse gelegt waren, so boten die letzteren die passendste Gelegenheit für den Hin- und Hertransport; freilich war das oft nicht ausreichend genug, und so bildete sich bald ein Nebenverkehr auf Landwegen. Derselbe fand mittelst Lastthieren statt, welche bei der Unsicherheit der damaligen Zeiten in Karawanen versammelt wurden und nur zu gewissen Zeiten ihre beschwerliche Reise antraten.

Diese Art und Weise der Personen- und Güterbeförderung hat sich in Gegenden, deren örtliche Beschaffenheit das Anlegen fester Straßen nicht erlaubte oder deren Bevölkerung sich dem industriellen und commerciellen Fortschritte entzog, bis heut' erhalten, und ganz besonders ist dies bei dem Oriente und den Wüstenstrecken Afrika's der Fall, wo Pferd und Kameel fast ausschließlich noch die Beförderungsmittel bilden.

Das erste, einfachste, aber zugleich kostspieligste Beförderungsmittel war die menschliche Kraft selbst, deren Anwendung eine so naheliegende ist, daß wir ihr selbst in unserer vorgeschrittenen Zeit noch in tausendfältigen Erscheinungen begegnen. Die Anwendung der Schleife bildete den ersten Fortschritt auf diesem Felde und hat sich im Schlitten bis auf uns erhalten. Ein ungleich größerer Schritt aber war der, welchen man von der Schleife zum Rade that. Dieses ist für uns eine der alltäglichsten Erscheinungen, für welche das gewöhnliche Auge kaum mehr einen aufmerksamen Blick übrig hat, und doch gehört die Erfindung desselben zu den einflußreichsten und wohlthätigsten, welche jemals gemacht worden sind. Abgesehen von dem feststehenden Rade, welches als Rolle oder überhaupt Maschinentheil die bedeutendsten Lasten überwältigt und die verschiedenartigsten Arbeiten unternimmt, ist es das fortlaufende, um eine Achse sich drehende Rad gewesen, welches zur Anfertigung aller fortrollenden Transportwerkzeuge, wie Wagen, Karren etc., führte und mit Nothwendigkeit zur Herstellung von Straßen zwang. Die bewegende Kraft mag sein, welche sie wolle, Mensch, Thier oder Dampf, immer muß sie sich des Rades bedienen, und wenn ein neuerer Gelehrter weissagt, daß für die nächsten Jahrhunderte eine Erfindung zu erwarten sei, durch welche der Radmacher und Wagenbauer in Ruhestand versetzt werden müsse, so ist die Erfüllung dieser Prophezeihung mit vollem Rechte zu bezweifeln. Hebel, Rolle, Rad, schiefe Ebene, Keil und Schraube sind die sechs Grundformen aller unserer Werkzeuge und Maschinen; die Mechanik kann nach vorwärts schreiten durch eine neue Anwendung einer, oder eine noch nicht dagewesene Verbindung mehrerer dieser sechs sogenannten »einfachen Maschinen«, nie aber wird sie vermögen, zu ihnen eine siebente zu entdecken, und daher steht eine Verabschiedung des Rades wohl schwerlich zu erwarten.

Die Erfindung desselben fällt jedenfalls in das graueste Alterthum zurück, denn in den ältesten Urkunden fast aller Völker der vorchristlichen Zeit finden wir bereits den Wagen erwähnt und zwar meist in seiner besonderen Anwendung als Kampf- und nach beendeter Schlacht als Siegeswagen. Alle aus jenen Zeiten herüberklingenden Nachrichten sind meist kriegerische und wir dürfen uns nicht wundern, daß wir oft nur auf diesem Wege von Einrichtungen hören, welche vorzugsweise bestimmt sind, dem Frieden zu dienen. Auch das Wort »Heerstraße« enthält einen deutlichen Hinweis darauf, daß der Wegebau sich willig den Gesetzen, welche das Schwert dictirte, fügen mußte, und die alten, berühmten Römerstraßen zum Beispiele waren zunächst für die Zwecke des Krieges angelegt.

Strom und Straße. Bei diesen beiden Worten dürfen wir nicht ausschließlich an Wasserstraßen und Landwege denken. Es giebt Strömungen und Bewegungen, welche einem höheren, dem geistigen Gebiete angehören und hier nicht übergangen werden dürfen.

Eine gewisse Anschauung des Erdenlebens nennt dasselbe eine Pilgerschaft und bezeichnet die Bilder von einem Lebenspfade, einem Lebenswege, einer Lebensbahn als wohlberechtigte Ausdrücke. Auch die Bibel bedient sich dieser sinnbildlichen Sprache, indem sie von einem schmalen und einem breiten Wege spricht, von denen der erstere zum ewigen Leben, der [270] letztere aber zur ewigen Verdammniß führe. Wie das Dasein eines jeden einzelnen Menschen seinen Anfang, seine Richtung und sein Ende hat, so auch die Entwickelung ganzer Völker, des menschlichen Geschlechtes überhaupt, ja des großen irdischen Lebens im Allgemeinen.

»Die Entwickelung der irdischen Verhältnisse folgt dem Laufe der Sterne, geht also von Osten nach Westen,« heißt das erste und oberste Gesetz, nach welchem sich alle fruchtbringende Bewegung auf unserm Planeten regelt. Man hat das Vorhandensein eines solchen Gesetzes von verschiedenen Seiten lebhaft bestritten, aber es ist nicht zu leugnen, daß die Meinung Derer, welche sich zu ihm bekennen, Vieles für sich habe.

Der Osten, also Asien, ist die Geburtsstätte des Menschen, und von hier aus breitete sich die immer wachsende Bevölkerung nach Westen aus und überschritt den Kaukasus ebenso wie die Landenge von Suez, um Afrika und Europa in Besitz zu nehmen. Von Letzterem ward erst Grönland und dann Amerika entdeckt und der Inselkreis des südlichen Weltmeeres in Besitz genommen. Mit dem Menschen wanderte Alles seiner Herrschaft Unterworfene von Osten nach Westen. Die Thiere, welche er zu zähmen verstanden hatte, zogen mit ihm, und die Pflanzen, welche seinem Eigenthumsrechte unterlagen, versetzte er an seinen jedesmaligen neuen Wohnsitz. Beide, Thiere und Pflanzen, lernten, sich acclimatisiren und erlangten nach und nach diejenigen Eigenschaften, durch welche sie befähigt wurden, die Zonenunterschiede in möglichst hohem Grade zu überwinden. Alle unsere Hausthiere, alle unsere Culturpflanzen haben – mit wenigen Ausnahmen – ihre Heimath in Asien und während ihrer Jahrhunderte langen Wanderungen sich die hohe Befähigung angeeignet, uns rund um den Erdball treue Begleiter zu sein.

So lange diese Bewegung sich von Osten nach Westen, nach Süden oder Norden richtet, ist sie eine erfolgreiche, während die umgekehrte Richtung entweder eine sofort verunglückte genannt werden muß oder einen kurzen Segen bringt, welcher sich schließlich in Unsegen verwandelt. Es mag Mühe kosten, die Ursachen dieser Erscheinung zu ergründen, aber die Erscheinungen selbst sind nicht zu leugnen und ebensowenig die Deutlichkeit, mit welcher sie auf ein bestimmtes und unumstößliches Gesetz hindeuten, in Folge dessen sie in das Leben treten.

Wie lange hatten die Eroberungen der alten Babylonier, Assyrer, Meder, Perser, Macedonier und Römer Stand? Warum sind die Chinesen schon seit über tausend Jahren zu einem vollständigen Culturmüßiggang verdammt? Welche Früchte haben uns die Kreuzzüge gebracht und die Römerzüge der Hohenstaufen gegenüber den unermeßlichen Verlusten, die wir durch sie erlitten? Warum mußte Napoleon der Große seine Kaiserkrone verlieren, sobald er sich gen Osten wagte? Warum sind die Völker des amerikanischen Festlandes dem Untergange geweiht? Eine Unzahl ähnlicher Fragen drängt sich dem aufmerksamen Freund der Geschichte auf, und es mag wohl sein, daß bei Beantwortung derselben sowohl örtliche als auch individuelle Gründe in Miterwägung gezogen werden müssen, immer aber wird als Hauptursache das oben angegebene Gesetz zu nennen sein.

Diesem Gesetze gegenüber kann man mit nicht sehr großem Vertrauen an die Zukunft der russischen und englischen Eroberungen in Asien denken. Der Spötter mag immerhin lächeln, aber die Geschichte geht unbeirrt ihren großen, ruhigen Schritt und zeigt wohl zuweilen ein nachsichtiges Schweigen, läßt sich aber nun und nimmermehr einen Ungehorsam gegen ihre eigenen Gesetze abtrotzen. Giebt es doch Gelehrte, welche den Fortbestand der Kartoffel in Zweifel ziehen und dabei auf die Krankheit hindeuten, welcher diese segensreiche Pflanze unterliegt, weil wir sie nicht dem Osten, sondern dem Westen verdanken.

Auch das Leben der Nationen, der Völker hat seine Ströme und Straßen, auf denen es sich ausbreitet oder welche seinen inneren Bewegungen Richtung geben. Der größeste, der gewaltigste Strom verdankt seinen Ursprung der Quelle, die dem dunklen Schooße der Erde entsteigt, aus den von allen Seiten herbeiströmenden Zuflüssen Vergrößerung zieht, durch ihre immer wachsenden Gewässer nach allen Richtungen Segen spendet und nach Lösung der ihr gewordenen individuellen Aufgabe sich mit den Wogen des Meeres vermählt, um nun der großen, allgemeinen Bestimmung des Oceanes sich dienstbar zu machen. So auch das Volk. Seine Anfänge sind klein, und sein Ursprung führt meist in das Dunkel der Verborgenheit zurück. Aber die ihm innewohnende Lebenskraft treibt es vorwärts zwischen den mannigfach gewundenen Ufern, welche ihm von den außer ihm liegenden Verhältnissen gezogen werden, an denen es sich reibt und die ihm innewohnenden Kräfte erprobt, um unter segensvoller Thätigkeit das ihm vorgesteckte Ziel zu erreichen. Denn wie jeder einzelne Wasserlauf für den Nutzen einer besonderen Gegend bestimmt ist, so hat auch jedes einzelne Volk an einer Aufgabe zu arbeiten, die ihre Grenzen innerhalb einer ganz bestimmten Ausdehnung von Zeit und Raum findet.

[271]

[278] Wenn die mit Feuchtigkeit und Electricität geschwängerte Atmosphäre ihre Last nicht mehr zu halten vermag, dann erhebt das Gewitter seine grollenden Donner und durchzuckt mit leuchtenden Blitzen den zur Nacht gewordenen Tag. Hohen Segen vermag es der ermüdeten und lechzenden Erde zu bringen; es erquickt die Natur nach angestrengtem Schaffen und sättigt den Boden mit neuen, fruchttreibenden Kräften. Aber auch das Verderben lauert hinter den hoch auf sich thürmenden Wolken, denn, wie Schiller sagt:


»Doch furchtbar wird die Himmelskraft,
Wenn sie der Fessel sich entrafft,
Einhertritt auf der eignen Spur
Die freie Tochter der Natur.
Wehe, wenn sie losgelassen,
Wachsend ohne Widerstand,
Durch die volksbelebten Gassen
Wälzt den ungeheuren Brand!
Denn die Elemente hassen
Das Gebild der Menschenhand.
Aus der Wolke
Quillt der Segen,
Strömt der Regen,
Aus der Wolke, ohne Wahl,
Zuckt der Strahl.«

Dann frißt das glühende Element die Erzeugnisse der menschlichen Arbeit mit nur schwer zu bewältigender Gier, und die Fluthen, von rapidem Wachsthum über die schützenden Ufer getrieben, rollen über Feld und Flur, ziehen das vergeblich gegen sie ankämpfende Leben in ihre schmutzige Tiefe und verwüsten die Stätten, in denen der Mensch seine Hoffnungen in die Erde legte, damit sie zu einer reichen Erndte heranreifen möchten.

So auch im Leben des Volkes. Auch hier giebt es einen Blitzstoff, welcher sich nach zunehmender Schwüle über gewisse Kreise entladen und entweder Heil oder Unheil bringen kann.


»Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
Da kann sich kein Gebild gestalten;
Wenn sich die Völker selbst befrein,
Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.
Weh, wenn sich in dem Schooß der Städte
Der Feuerzunder still gehäuft,
Das Volk, zerreißend seine Kette,
Zur Eigenhülfe schrecklich greift!
Da zerret an der Glocke Strängen
Der Aufruhr, daß es heulend schallt
Und, nur geweiht zu Friedensklängen,
Die Losung anstimmt zur Gewalt.«

Die Revolutionen mögen immerhin ihre Vertheidiger haben, welche sich Mühe geben, die Nothwendigkeit derselben zu begründen, es wird doch nie zu leugnen sein, daß die Gewalt eine gefährliche Maßregel sei und die, wenn auch langsamere aber friedliche Entwickelung der staatlichen Verhältnisse einer Ueberstürzung vorzuziehen ist, welche rücksichtslos über Glück und Leben zahlreicher Bürger streitet und den wirthschaftlichen Wohlstand ebenso wie die öffentliche Ruhe und Sicherheit erschüttert. Man hat die segensreichen Folgen der französischen Revolution gepriesen; diese Folgen sind allerdings nicht wegzudemonstriren, aber man vergleiche sie mit den Opfern, welche sie gekostet haben, und sie werden bedeutend an Werth verlieren. Die normale Höhe und Geschwindigkeit einer Strömung ist dem Wohlstande stets günstiger als eine Anschwellung der Fluth, welche auf das Signal »Im Hochlande fiel der erste Schuß« von den mit thauendem Schnee bedeckten Bergen mit drängender Gewalt zu Thale treibt.

Nicht alle Flüsse und Ströme ergießen ihre Wasser in das Meer; sie verlaufen sich zuweilen in sumpfiger Niederung oder versiechen im dürren Steppensande. Ein Blick in das Leben der Völker zeigt uns ähnliche Erscheinungen, über die hier nur eine Andeutung gegeben werden soll. Und wie auf höher liegendem Gebiete das Wasser ein lebhafteres Gefälle zeigt als in ebenen Ländern, so ist auch die Entwickelung der Gebirgsvölker eine durchschnittlich raschere als diejenige der tiefer wohnenden Nationalitäten. Die meisten der heilvollen Anstöße, welche die Geschichte des menschlichen Fortschrittes zu verzeichnen hat, sind von den Bergen herab gegeben worden, und wie jene stagnirenden Gewässer, welche wenig oder gar keinen Zu- und Abfluß zeigen, nur in streng von der Außenwelt abgeschlossenen Hochthälern oder auf ebener Niederung vorkommen, so ist auch nur an diesen beiden Punkten die Erscheinung zu bemerken, daß die Bewohner einer besonderen Gegend oder eines ganzen Landes sich dem kräftigen Vorwärtsdrängen der Cultur entzogen sehen.

Auch ein jeder einzelne Mensch hat seine Wege und Straßen, welche er geht, und fühlt den Einfluß gewisser Strömungen, dessen Wirkung er nicht zu annulliren vermag. Die sonnige Höhe einer von freundlichen Blumen geschmückter Flur, die nebelfeuchte Verborgenheit eines dunklen Waldgrundes, die düstere Armuth einer von Trümmern besäeter Felsenschlucht sind Orte, an denen der Quell zu Tage tritt. Ist's nicht mit der Geburt des Menschen dasselbe? Wie die Richtung eines Flusses von der Beschaffenheit seines Quellgebietes abhängig ist, so ist auch der Ort, an welchem ein Menschenkind das Auge erschloß, nicht gleichgültig für die spätere Richtung seines Lebens, für den Verlauf seines Schicksales. Und wie ein jeder Strom sein Dasein doch nur dem Meere zu verdanken hat, welches ihn mittelst der Wolken speist – Yang – tse – kiang, Meer-Sohn-Fluß, also Oceanssohn, nennen deshalb die Chinesen sehr bezeichnend ihren blauen Fluß – so ist auch jedes einzelne Individuum in geistiger und materieller Beziehung ein Kind zunächst [278] seines Muttervolkes und dann im Allgemeinen auch des großen Menschenoceanes, welcher seine Fluthen um den Ball der Erde schlägt. Eine jede Bewegung, welche auf diesem Oceane sich geltend macht, dringt früher oder später bis in die entferntesten Winkel und äußert ihre Kraft in höherem oder geringerem Grade selbst an dem einsamen Kohlenbrenner oder dem Einsiedler, welcher meint, in seiner verlorenen Klause der Welt entfremdet und von ihr abgeschlossen zu sein.

Aus der Quelle des mütterlichen Schooßes fließt das Menschenleben durch den Kreis der Familie und das Gebiet der Gemeinde und des Volkes hinaus in das bewegte Treiben des menschlichen Geschlechtes, überall Zuflüsse aufnehmend, nie ruhend, nie rastend, zu immerwährender Thätigkeit gezwungen, bis es in den Jahren des Alters ermüdet und in immer langsamerem Laufe zögernd seiner Auflösung entgegen geht. Kein Fußbreit des Stromes gleicht dem andern, kein Lebenstag ist ein vollständiges Bild des ihm nächstfolgenden; in reichem Wechsel hat sich die Kraft zu bewähren, und so einförmig auch die Tage irgend eines gewöhnlichen und anspruchslosen Menschen dahinzufließen scheinen, in dem Bette der Alltäglichkeit wirft doch die Strömung ihre Wellen, deren jede bei aller Aehnlichkeit doch so verschieden von der andern ist.

Das Wasser schlängelt sich glitzernd durch die saftige Matte, es springt spielend über die Kiesel des Baches, murmelt träumerisch zwischen buschigen Weiden dahin, rauscht schäumend über die hindernden Wehre, stürzt stiebend und zischend in den Kessel des Falles, fluthet rauschend, bald in gefährlichen Wirbeln, bald in ruhiger, schiffetragender Breite an Städten und Dörfern vorüber und wälzt endlich seine Wogen durch die Mündung, schon längst vorher mit den Gezeiten des Meeres kämpfend. Die Kindheit, das Jünglings-, Mannes- und Greisenalter bieten dieselben Erscheinungen, und überall sehen wir den ordnenden menschlichen Willen in Fehde mit den ungezügelten Gewalten der Natur, welche nur dann des Segens Früchte spenden, wenn sie gezwungen werden, sich weisen Gesetzen unterzuordnen.

Wie oft gleicht das Leben eines Menschen einer breiten, geebneten Chaussee, welche durch lachende Gefilde führt und das Vorwärtskommen beschleunigt, indem sie alle Hemmnisse schon im Vorher glücklich überwunden hat! Solche Menschen, meist hoch oder reich geboren, fliegen von Baum zu Baum, von Blume zu Blume, von Genuß zu Genuß und sehen in dem irdischen Sein nur eine ununterbrochene Reihe von Vergnügungen, in denen sie Glück und Befriedigung zu finden glauben. Und doch ist ihnen das wahre Glück, die wirkliche Herzensbefriedigung versagt, denn das Glück ist kein wirklicher, greifbarer Gegenstand, sondern einzig und allein nur zu finden in dem Ringen nach ihm. Nicht das Ziel ist es, was begeistert, sondern das Streben nach demselben bringt mit jedem neuen Schritte, jedem neuen Erfolge auch immer größere Genugthuung und Beseligung, und ist es erreicht, so schweift der Blick sofort wieder in die Ferne, um sich neue Ziele zu suchen.

Wie oft gleicht das Leben eines Menschen einer angestrengten und mühevollen Wanderung auf steilem, schwindelndem Pfade, der an Abgründen und Schluchten vorüber in das Land des Jenseits führt! Solche Menschen scheinen von der Vorsehung bestimmt, den Fluch: »Im Schweiße Deines Angesichtes sollst Du Dein Brot essen« in ganz besonderer Weise zu tragen; aber grad' die Leiden sind die besten Gaben des Himmels, und in den schmerzensreichen Geschicken ruht eine tiefe göttliche Weisheit und Liebe. Freilich wer das Leben von dem Standpunkte des Vergnügens aus betrachtet, will sich zu dieser Anschauung nicht bequemen; »laßt uns heut essen und trinken, denn morgen sind wir todt,« ist der Wahlspruch, welcher in der Vertheilung der irdischen Gaben eine Ungerechtigkeit des Himmels erkennt und die wohlthätige, erziehende Macht der Noth und der Sorge leugnet.

[279]

[286] Wie der Landmann eines Weges bedarf, um auf den Acker, die Wiese und in seinen Forst zu gelangen, so kann auch die Bodencultur im Großen und Ganzen der Verkehrsstraßen nicht entbehren, durch welche sie den Bezug ihrer Bedürfnisse und den Absatz ihrer Erzeugnisse ermöglicht. Und ebenso ist es mit der Industrie und dem Handel, welche in der Landwirthschaft ihre eigentlichste Basis finden und von ihr in hohem Grade beeinflußt und in Abhängigkeit gestellt werden.

Bei der rasch fortschreitenden Entwickelung aller unsrer geschäftlichen Verhältnisse macht sich vorzugsweise das eifrige Bestreben geltend, die Schranken möglichst zu überwinden, welche Zeit und Raum dem menschlichen Fleiße entgegenstellten. Zeit ist Geld, und mit dem Raume wachsen die Kosten. Während also die Einrichtung aller unserer heutigen Verkehrsmittel dahin zielt, den Verkehr zu beschleunigen und der Bewegung die erreichbarste Geschwindigkeit zu geben, ist die Construction unserer Wege und Straßen dahin berechnet, dieses Bestreben zu unterstützen, indem man den Raum zu verkürzen, zu verkleinern sucht.

Die Herstellung solcher dem Verkehre dienender Wege und Mittel erfordert zwar gegen früher ein ganz bedeutend höheres Anlage- und meist auch Betriebscapital, aber die Einnahmen stehen mit diesen Ausgaben auch in einem geraden und befriedigenden Verhältnisse, denn der Aufschwung des Verkehres zieht ganz nothwendiger und natürlicher Weise auch einen Aufschwung der Arbeit nach sich und bricht die Fesseln, welche den Menschen an die Scholle binden, auf welcher er geboren ist: Er tritt aus seinen engen Schranken heraus und wird Weltbürger; die Verhältnisse nivelliren sich; die Gegensätze gleichen sich aus, und mit der Erweckung neuer Bedürfnisse geht ihre schnelle und billige Befriedigung, welche der Civilisation zu Nutzen arbeitet, Hand in Hand.

Strom und Straße. Welche Fülle von interessanten Bildern und Erinnerungen wecken diese beiden Worte in uns! Von der Forelle im kühlen Waldbache und dem Krebse in den Höhlungen seiner Ränder bis hinunter zum riesigen Stör an den Mündungen des Meeres verfolgen wir eine Reihe Erscheinungen aus dem Tierreiche, welche schon die Phantasie des Knaben lebhaft beschäftigen und sowohl der Wissenschaft als dem Gaumen auch des erwachsenen Mannes nicht gleichgültig sind. Von dem kleinen Papierschiffe, welches das spielende Kind, sich als großer Seecapitain oder gar Admiral dünkend, der seichten, klaren Welle anvertraut, bis zum mächtigen Flosse oder dem feuersprühenden Dampfer, der den Verkehr des Binnenlandes mit den entferntesten Gestaden vermittelt, schweift das Auge über eine reiche Zahl von Einrichtungen, welche der menschliche Geist erfunden hat, um sich das tägliche Brod zu erwerben, welches freilich seine anspruchslose Gestalt sehr oft auch in die eines feineren Gebäckes verwandelt und zur Delicatesse wird. Auch müssen wir an die mythologischen und phantastischen Gestalten denken, mit denen die Alten und der Aberglaube späterer Zeiten die Bäche, Flüsse und Ströme belebte.

Bei den reichen Segen, welchen ein Fluß seinen Anwohnern, ja ganzen, weitgedehnten Länderstrecken gewährte, war es kein Wunder, daß die Völkerschaften des Alterthums, die ja jeder Idee gern eine persönliche Gestaltung gaben, auch den Strömen Wesen unterstellten, in deren Character die Eigenschaften des flüssigen Elementes einzeln oder im Verein zur Geltung kamen.

Jedes strömende Wasser, war es noch so klein oder auch noch so groß, hatte einen Gott oder eine Göttin, und so geschah es, daß man wohl gar beide als gleichbedeutend nahm und dem Flusse göttliche Verehrung erzeigte. Noch bis in die neueste Zeit hat sich diese Heilighaltung, wenn auch in verschiedener Weise und verschiedenem Grade, erhalten, und es mag hier nur genügen, auf den Nil und den Ganges zu zeigen, womit zugleich darauf hingewiesen ist, daß das Gesagte besonders auf die Völker des Orients Bezug findet.

Auch bei uns beschäftigt der Aberglaube sich mit Vorstellungen, welche die Wasser von übernatürlichen Wesen bewohnen lassen. Um auch hier von der See zu sprechen, so hat der Matrose seinen Klabautermann, seinen Windstillenseegeist, seine Gespenster-, Nebel- und Feuerschiffe, seinen fliegenden Holländer, seinen schwarzen Piraten, deren Zahl um viele gespenstische Capacitäten vermehrt werden könnte. Der Nordländer hat seinen »Stromgeist«, der Westländer seinen »ghost of the river«, der Binnenländer seine Wassernixen, und wenn heut' auch Jedermann die Sage von der Wirklichkeit wohl zu unterscheiden weiß, so sind diese Sagen doch unumstößliche Beweise früherer Kriterien.

Aber nicht blos im Wasser, sondern auch zu Lande auf den Wegen treibt allerlei Spuk sein Wesen. Besonders sind es die Kreuzwege, welche in Verruf gerathen sind, weil auf ihnen zu gewissen Zeiten heilloses Teufelsgezücht versammelt ist oder man auf ihnen Bannungen und Citationen vornehmen kann, wie die schwarze Magie sie ihren leichtgläubigen Jüngern lehrt oder vielmehr weißmacht. Fast jede Stadt, jedes Dorf hat in seiner Umgebung irgend einen Weg, auf welchem es »nicht richtig ist«, auf welchem es »umgeht«, und dergleichen dumme Dinge wurzeln viel tiefer und fester in dem Hirne des Volkes, als man meinen sollte.

Ein anderer, aber doch auch ein Spuk war der, welcher auf allen Wegen und Stegen und bei hellem, lichtem Tage unter der Devise: »Entschuldigen Se, een armer Reesender« seine unzähligen Anfälle auf Männlein und Weiblein machte. Gegen diese Erscheinungen half kein »Alle guten Geister loben ihren Meister«, half kein Kreuzschlagen, kein Paternosterseufzen, sondern die einzige Rettung bestand in einem[286] Griffe in die Tasche, dessen klingender Erfolg der Herr Urian dann kratzfußend mit einem »'schamster Diener« oder »Vergelts Gott zwanzig Tausendmal« quittirte.

Man sieht, diese Art Wesen fürchtete sich nicht, Gott im Munde zu führen, und aus einer Begegnung mit ihnen war also keine Gefahr für das Heil der Seele zu befürchten, vielmehr war ihre leibliche, ihre körperliche Ausstattung gar oft dazu angethan, Gefühle zu erwecken, welche ein Zeichen der wahren Frömmigkeit sind, aber ihr Anblick erinnerte doch zuweilen an die Sceggemy leggemy, die »armen Burschen« Ungarns, welchen jedmänniglich gern aus dem Wege geht, sintemalen ihnen wenig Gutes, wohl aber mancherlei schlimmer Schabernack zuzutrauen ist.

Diese Species stammte von »zu Hause«, hatte seine Heimath »bei Muttern«, nahm Absteigequartier »in der Herberge« und bereiste fechtbummelnd Böhmen, ohne einen Satz böhmisch, Frankreich, ohne ein Wort französisch, Dänemark, ohne eine Sylbe dänisch, und Polen, ohne einen Laut polnisch sprechen oder verstehen zu können. Kenntlich war das Individuum an dem zersessenen, ackerfurchigen Hute, den nach Luft schnappenden Stiefeln, dem graubraungrüngelben Hemdenkragen, den charpiefaserigen Hosen und Rockärmeln, dem »Berliner«, dem Knotenstocke, dem schlendernden »Komm-ich-heut-nicht-, komm-ich-morgen-gang« und einem Wanderbuche, in welchem sich die liebe Polizei durch gar manche holdselige Bemerkung wegen des »Bettels« verewigt hatte.

Auch dieser Spuk hat der unbarmherzigen Aufklärung weichen müssen; keine halb verschmachtete Nordhäuserkehle flötet mehr auf der staubigen Chaussee ihr klagendes


»'nen alten Gottfried hab' ich noch,
Der hat im Arm een großes Loch,
O Jemine, o Jerum!«
oder das beschaulich-erbauliche
»Wenn ich so off der Straße steh'
Und mir mein kleenes Geld beseh,
Da finde ich's, potz Sapperlot
Keen Bischen weiß, 's ist Alles roth!«

Es kann gar nicht geleugnet werden, daß in dem frischen, fröhlichen Wanderleben ein Reiz liegt, welcher den Fuß nach kurzer Ruhe immer wieder hinauszieht in die schöne, reiche Gotteswelt; auch waren die Anschauungen und Erfahrungen, welche der »Handwerksbursch« von seiner Wanderschaft mit in die Heimath brachte, von nicht geringem Werthe für ihn und Diejenigen, mit denen er in Berührung kam; aber die Gegenwart duldet nicht mehr den Bummelschritt der Vergangenheit; sie hält es für eine Sünde gegen die Pflichten des menschlichen Berufes, die kostbare Zeit und Arbeitskraft auf die Landstraße zu werfen, und bietet einem jeden arbeitslustigen und nach Erfahrung strebenden Menschen der Mittel und Wege genug, ohne Verschwendung des Augenblickes und der ihm innewohnenden Gaben zum Ziele zu gelangen.

Mag man immerhin die verloren gegangene Poesie des »Lebens auf der Walze« beklagen, eine große Anzahl der diesem Leben und Treiben Ergebenen waren Verehrer des süßen Nichtsthuns, lebten aus der Tasche Anderer und mußten moralisch als die Verbreiter von Gesinnungen genannt werden, welche mit der Zucht und Sitte nicht im Einklange stehen.

In der sittlichen Verkommung kann niemals eine Poesie liegen, und wer will es wohl wagen, das gigantische Ringen der jetzigen Zeit, den selbst die gewaltigsten Hindernisse überwältigenden, stolzen Flug des alle Versäumniß hassenden Menschengeistes poesielos zu nennen? Unsere Ströme werden schiffbar und tiefer, unsere Straßen breiter und kürzer, unser Jahrhundert schlendert nicht, nein, es rauscht auf den Fittichen des Dampfes seinen Zielen zu, und einem Jeden gilt der Mahnruf: »Rasch einsteigen, die Glocke hat zum dritten Male geläutet!«

[287]

7. Stadt und Land

In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. Nr. 37–41. S. 294–295, 302–303, 310–311, 318–319 u. 326–327. – Dresden: H.G. Münchmeyer (1876). Reprint in: Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. Mit einer Einführung von Klaus Hoffmann. Hildesheim, New York: Olms Presse 1979.

[294] 7.

Stadt und Land

»Wohl dem Manne, welchem es gelang, im Kreise seiner Mitbürger festen Fuß zu fassen; er hat sich aus der Brandung des Lebens gerettet auf den sichern Felsen eines heimathlichen Herdes!«

B. Franklin.


Der Vergleich des Lebens mit einer Brandung hat seine volle Berechtigung. Die gewaltigen Wogen der Zeit umrauschen den winzigen Planeten, welcher auf seiner zerbrechlichen Kruste das Volk der Menschen trägt; sie thürmen sich hoch empor an den Grenzen des irdischen Lebens, lecken und nagen an der trügerischen Festigkeit alles Bestehenden und lassen ihre Donner über den ganzen Kreis der Erde erschallen. Jahre, Monden, Wochen, Tage und Stunden fluthen in endlosem Drange über die Scene und wälzen aus ihren unergründlichen Tiefen jene zusammenhängende Reihe von Ereignissen an die Sonne, welche den Inhalt und Gegenstand der Geschichte bilden. Das gährt und treibt, das wallt und gebährt, das kocht und sprudelt, das spritzt und zischt, und kein einziger dieser Tropfen ist ohne Inhalt, jede dieser Wogen birgt ihre Thatsachen, und unerforschliche Gesetze geben dem scheinbar Getrennten und Beziehungslosen innigen Zusammenhang.

Wie in der Brandung eine Welle die andere verdrängt, eine Woge mit der andern kämpft, so zeigt auch das Leben einen nicht endenden Kampf des Nahenden mit dem Verschwindenden, des Zukünftigen mit dem Bestehenden, des Einen mit dem Anderen. Nur der Geist hat eine ewige Berechtigung, das Körperliche, das von ihm Geschaffene und ihm Unterthänige darf nur für diejenige kurze Zeit bestehen, welche zu seiner Reife erforderlich ist und muß nach erfülltem Zwecke verschwinden, um neuen fruchtbaren Erscheinungen Platz zu machen. Im Branden thürmen sich die Wasser, im Ringen wächst die Kraft, und wie die gestaltlose Zeit selbst die festesten Welten zerbröckelt, so schreitet auch in dem Turniere zwischen Stoff und Idee, zwischen Körper und Geist der letztere von einem Siege zum anderen und unterwirft sich wie spielend physische Kräfte, deren Bezwingung unmöglich zu sein schien.

Dieser Alles bewältigende Geist hat seine siegreiche Macht nur einem einzigen irdischen Wesen, dem Menschen, verliehen und ihm damit die hohe Aufgabe ertheilt, das Todte zu beleben, das Formlose zu gestalten, das Starre zu bewegen und den Triumph des Gedankens über Land und Meer zu tragen. So wird der Mensch der Held der irdischen Schöpfung, obgleich er äußerlich nicht für dieses Heldenthum ausgestattet zu sein scheint. Für den Krieg der Geschöpfe gegen einander ist fast jedes derselben mit einer Waffe ausgestattet worden, welche sich entweder für den Angriff, die Vertheidigung oder auch zu beiden zugleich eignet. Der Löwe hat seine Pranken, der Bär seine Tatzen, der Elephant seine Klugheit und Stärke, der Affe seine Gelenkigkeit, der Fuchs seine List, der Stier seine Hörner, der Hirsch seine flüchtigen Läufe, das Krokodil, der Hai seinen fürchterlichen Rachen, der Vogel seine Schwingen, die Schlange ihr Gift, der Krebs seine Schere, die Muschel ihr schützendes Gehäuse, und selbst diejenigen Thiere, denen eine Waffe zu fehlen scheint oder auch wirklich fehlt, werden durch ihre Farbe und Aehnliches vor Gefahr oder durch hohe Fruchtbarkeit vor dem Aussterben geschützt. Jedenfalls aber steht keines derselben unter einer so langjährigen Hilfsbedürftigkeit, wie diejenige ist, mit welcher das menschliche Kind auf die unausgesetzte elterliche Pflege und Bevormundung angewiesen wird.

Es ist ein weiter und schwieriger Weg von dem lallenden Wickelkinde bis zum stolzen »Herrn der Schöpfung«, und nur durch unausgesetzte Anstrengung des Geistes führt er zum Ziele. Der Einzelne kann ihn unmöglich selbstständig zurücklegen; er ist an die Hilfe, die Lehre und den Rath zahlreicher Anderer gewiesen und vermag sich nur durch sie die Erfahrungen der verflossenen Jahrhunderte anzueignen, um so mit einem Schritte die Vergangenheit zurückzulegen und die Spitze der allgemeinen Entwickelung zu erreichen.

Und nicht blos in geistiger, nein, auch in rein äußerer, in körperlicher Beziehung ist er an die Angehörigen seines Geschlechtes gebunden. Nur durch sie und ihre Errungenschaften findet er Schutz und Schirm gegen die Feindseligkeiten, denen er vom ersten Tage seines Lebens bis zum letzten Augenblicke desselben ausgesetzt ist, und darum ist von Anbeginn der Geschichte an das Streben des Einzelnen, mit Seinesgleichen in Vereinigung zu treten, zu beobachten. Die natürlichste und engste Vereinigung findet im Kreise der Familie statt, und von ihr aus ziehen sich immer weitere Kreise, bis der letzte und größeste derselben die ganze Menschheit umfaßt.

Schon der Alleinstehende suchte Schutz vor dem Unbill der Witterung und zahlreichen anderen Fährlichkeiten unter dem Dache einer Wohnung, die er seinen Bedürfnissen gemäß einrichtete. Bald aber kam er zur Erkenntniß, daß er seinen Zweck durch die Vereinigung mehrerer und wo möglich vieler Wohnungen leichter und vollständiger erreiche. Dieser Gedanke gab den Anstoß zur Gründung dessen, was wir jetzt eine Gemeinde nennen; es entstanden gesellige Niederlassungen, welche nothwendiger Weise bald einen politischen Character annahmen und zuweilen zur Entstehung wichtiger Staaten, ja, gewaltiger Weltreiche führten.

Die Gegenwart hat auch in Beziehung auf das Gemeindewesen herrliche Fortschritte hinter sich, aber in Beziehung auf die Großartigkeit der Niederlassungen finden wir schon im grauen Alterthume höchst augenfällige Beispiele. Es sei hier nur an Babylon und Ninive erinnert.

Die erstere der beiden Städte lag am Euphrat, der sie in zwei Theile schied, und bildete ein Viereck, dessen Umfang nach Herodot 12 deutsche Meilen betrug. Die über 2 Millionen betragende Einwohnerschaft wurde beschützt durch eine [294] rings um die Stadt gehende, 200 Ellen hohe und 50 Ellen breite Mauer, auf welcher 6 Wagen bequem neben einander fahren konnten und durch welche 100 Thore von Erz in das Freie führten. Die graden Straßen liefen mit dem Flusse parallel und wurden von anderen rechtwinkelig durchkreuzt, wodurch 625 kleinere Vierecke entstanden. Unter ihren Prachtgebäuden, zeichneten sich die beiden Königspaläste und die Gärten der Semiramis aus, vor allen Dingen berühmt war aber der Thurm zu Babel, von welchem schon 1. Mos. 11 Erwähnung gethan wird. Hier ist freilich die Sage wohl von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Die Talmudisten machten ihn 70 Meilen hoch, nach orientalischer Ueberlieferung betrug seine Höhe 10000 Klaftern, nach der Meinung noch Anderer soll er 25000 Fuß gemessen haben, und zugleich wird behauptet, daß 1 Million Menschen 12 volle Jahre daran gearbeitet hätten. Gewiß ist nur, daß sich auf der Ostseite des Euphrat wirklich ein thurmartiges Gebäude befunden hat, dessen Basis 360000 Quadratfuß und dessen Höhe 600 Fuß betragen haben soll. Das oberste der 8 Stockwerke war ein Tempel des Baal, in welchem sich ein goldener Tisch und ein prachtvolles Bett befand. Im untersten Stockwerke stand eine 12 Fuß hohe goldene Bildsäule des Gottes; die Treppen, mittelst deren der Thurm erstiegen wurde, führten von außen empor. Noch jetzt findet man dort einen 198 Fuß hohen und 1525 Fuß im Umfange haltenden Steinhaufen, in welchem man die Trümmer des Thurmes zu sehen glaubt.

Ninive, die Hauptstadt Assyriens hatte einen Umfang von 12 geographischen Meilen; die Mauer war 100 Fuß hoch und so dick, daß darauf 3 Wagen neben einander fahren konnten. Auch sie liegt heut in Trümmern, und ungeheure Ziegelhaufen sind die einzigen Zeugen einer längst verschwundenen Pracht und Herrlichkeit.

Außer diesen hervorragenden Beispielen war im Alterthume die Anlegung von Städten eine höchst einfache. Ob politische und religiöse Gründe oder auch Rücksichten des Handels zum Anbau nöthigten, war es fast immer ein Tempel, um welchen sich die Häuser ordnungslos gruppirten; später kam dazu ein Theater, ein Gymnasium, ein Versammlungshaus für obrigkeitliche Personen, ein Markt und einige Brunnen, und zum Schutze wurde das Ganze mit einer Mauer umschlossen.

Merkwürdig waren in Italien die Gebräuche der Etrurier beim Städtegründen. Es wurde nämlich zunächst eine Grube gegraben, in welche man die Erstlinge von allen Naturproducten warf, und dann gab Jeder, der die Stadt beziehen wollte, eine Handvoll Erde seines Heimathslandes hinein. Darauf spannte der Gründer einen weißen Stier rechts und eine weiße Kuh links an einen Pflug und zog in einem Vierecke eine ununterbrochene und gleichmäßig fortlaufende Furche, wobei er die Schollen nach inwendig warf, deren Anhäufung die zu erbauende Mauer und deren Vertiefung den Graben vorbildete. Wo ein Thor stehen sollte, wurde der Pflug aufgehoben und über die Stelle weggetragen.

In Deutschland, besonders dem westlichen, entstanden schon frühzeitig Städte aus den römischen Lagern und Castellen. Im östlichen Deutschland entstanden die meisten Städte zur Zeit Heinrichs des Voglers, welcher den je neunten Mann aller wehrhaften Leute von den Landbauern trennte und zur Anlegung und Erhaltung von Städten bestimmte, um bei den Einfällen der Ungarn und Slaven Zufluchtsorte zu besitzen. Dieser weisen Einrichtung verdankte der nun besondere Stand der Städter seine Entstehung.

Später, im elften Jahrhunderte, gewannen die Städte durch republikanische Verfassung, Handel und Ordnung ein hohes Ansehen. Dies erregte die Eifersucht des Adels, der außer- oder sogar auch innerhalb der Städte besondere Befestigungen bewohnte, und so entspannen sich bald blutige Fehden zwischen Adel und Städten. Dies gab Veranlassung zu größeren Vereinigungen von Städten zum Zwecke gegenseitiger Hilfe. Das erste Beispiel hiervon gab der Bund der lombardischen Städte, welche sogar den deutschen Kaisern furchtbar wurde. Ihm folgte der rheinische Städtebund und der Bund der schwäbischen Städte.

[295]

[302] Der mächtigste dieser Bunde war die Hansa, zu welcher die Länder der Nord- und Ostsee, des Rheins, Westphalen, Niedersachsen und Preußen ihre Contingente lieferten. Sie umfaßte nach und nach von der Schelde bis nach Esthland 85 Städte und konnte es wagen, mit mächtigen Reichen Krieg zu führen. Sie besiegte Dänemark und Norwegen, gab ihre Macht dem Könige von Frankreich zu fühlen, eroberte mit 100 Schiffen Lissabon, zwang England, den Frieden mit ihr mit 10000 Pfund Sterling zu erkaufen und hatte sogar die Macht, den König Magnus von Schweden abzusetzen.

Während dieser Vereine gewann das Ansehen der Städte so, daß sie mit zur Berathung der Stände zum Besten des Landes gezogen wurden. Später bildeten die größeren Städte fast den einzigen Besitz des Kaisers; die größeren Landesbesitzer machten sich zu unabhängigen Fürsten und zogen mittelst Politik oder der Gewalt der Waffen und des Geldes die Städte in ihren Besitz.

Wie das Schicksal der Pflanze, des Thieres und auch des Menschen zum großen Theile abhängig ist von dem Boden, dem sie angehören, so wird auch das Gedeihen menschlicher Niederlassungen wesentlich mitbedingt von der Lage, die sie einnehmen, und den Verhältnissen, unter denen sie errichtet werden. Während es Tausende von Dörfern, Flecken und Städten giebt, welche Jahrhunderte hindurch ihren Umfang nicht vergrößert, ihr Ansehen nicht verändert haben und sich vollständig gleich geblieben sind, wachsen an anderen Orten kleine, anfänglich unbedeutende Ansiedelungen mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit zu großen, reichbevölkerten Städten empor und lassen schon nach wenig Jahren das Bild ihres anfänglichen Bestehens nicht mehr erkennen. Worin liegt der Grund?

Bei den unsicheren Verhältnissen der Vergangenheit war der Schutz gegen feindselige Uebergriffe einer der Hauptgesichtspunkte, welche man bei dem Baue der Wohnstätte in das Auge nahm. Der Ritter errichtete seine festen Schlösser und Burgen auf den Spitzen steiler, unzugänglicher Berge; der Städter erbaute seine Häuser ebenso an einem möglichst geschützten Orte und sorgte noch außerdem durch Anlegung von starken Mauern und breiten Gräben für seine Sicherheit. Der Bewohner des platten Landes legte seine Wohnung so, daß er durch Sumpf und Moor, durch dichte Waldung oder sonstige Terrainbeschaffenheiten von Anderen möglichst abgeschlossen war und eine Schädigung an Leib und Leben, an Gut und Habe nicht zu fürchten hatte. Sie alle sorgten vor allen Dingen für ihre Sicherheit und suchten dieselbe durch die örtliche Abschließung von der Außenwelt zu erlangen.

Der Hufschlag gepanzerter Rosse ist verhallt, Harnisch und Sturmhaube rosten unter eingefallenen Mauern, in den grasbewachsenen Burghöfen schleicht die Unke und nistet die Eule, und die kräftige Faust hat längst den eisernen Handschuh abgestreift, um Pflug, Hammer und Feder zu führen. Die dunklen, furchterweckenden Schatten des Mittelalters sind verschwunden, und hellere, freundlichere Bilder ziehen über den Vorhang, hinter welchem die nie ruhende Geschichte ihre Gestalten bildet. Zwar wird, so lang die Erde lebende Geschöpfe trägt, auch Kampf und Feindschaft auf ihr herrschen, aber der Einzelne hat nicht mehr den Einzelnen zu fürchten, und wo ein Streit entbrennt, wo das Schwert aus der Scheide fährt und der Schlachtentod seine blutigen Erndten hält, da giebt es Gesetze, Rechte oder doch ein gegenseitiges Uebereinkommen, und die früher rohe Gewalt wird in Rücksichten gekettet, denen sie sich nicht entwinden kann. –

Wo früher die räuberische Selbstsucht im Hinterhalte lag, um sich zerstörend auf den friedlichen Erwerb zu stürzen, da singt jetzt nur noch die Sage ihre romantischen Balladen, und auch sie muß sich immer weiter zurückziehen vor dem nüchternen Sinne der Alltagswelt, welche im fleißigen Schaffen ihre bedeutendste Aufgabe erkennt. Und ist das Raubritterthum nicht ausgestorben, so hat es sich modernisirt und sucht durch geistige Mittel zu erreichen, was es durch Anwendung von Gewalt nicht zu erlangen vermochte. Es hat in dem Gesetze einen furchtbaren und übermächtigen Feind bekommen, den es früher nicht kannte oder zu fürchten hatte und welcher seine nicht ungestraft zu übersteigenden Barrikaden um die Interessen eines jeden Bürgers errichtet.

So ist der wirthschaftlichen Thätigkeit der weite Plan gesäubert; ein Jeder weiß, daß er bei vorsichtigem Wirken die Früchte seiner Anstrengung sich nicht aus der Hand gerungen sehen, sondern selbst genießen werde, und getrost darf er sein Zelt da aufschlagen, seine Hütte da errichten, wo er von der Arbeit seiner Hände oder seinem geistigen Schaffen den besten Erfolg erwartet.

Daher kommt es, daß bei der Anlegung neuer und der Erweiterung schon bestehender Ortschaften in den meisten Fällen nur die Rücksichten des Friedens und die auf den gewerblichen Wohlstand zielenden Berechnungen in Betracht kommen, und wo dieser Wohlstand in Aussicht steht, da sammeln sich die Kräfte, da beginnt ein frisches, fröhliches Schaffen und wirft seine befruchtenden Wellen in die weitesten Kreise, ja selbst in die entlegenste Ferne.

Auf ehrlichem Wege etwas verdienen oder selbst reich werden wollen, ist sicher kein zu verdammendes Bestreben; das Trachten nach Lohn und Gewinn erweckt die im Menschen schlummernden Kräfte, schärft seinen Verstand, stählt seinen Arm und macht ihn zur Ueberwindung großer Hindernisse, zum Ertragen aller Entsagungen und Entbehrungen geschickt. Nur darf dieser Drang nicht zu Unvorsichtigkeiten und Ueberstürzungen führen oder gar in Krankheit ausarten. Er sucht ohne Ermüden nach Verbesserungen und neuen [302] Hilfsmitteln, schreitet von einer Erfindung und Entdeckung zur andern, sucht aus dem Weggeworfenen noch Nutzen zu ziehen, erklimmt die höchste Spitze der wissenschaftlichen Erkenntniß, steigt in die gefährlichen Tiefen der Erde, kämpft mit den Gewalten der Elemente und bohrt selbst die öden Strecken der Wüste an, um ihnen das keimende Gras, die wehende Palme zu entlocken. Er dringt in die fernen Steppen, um der Cultur dort eine bleibende Stätte zu erringen, durchsucht die Schluchten und Höhen unbekannter Gebirge nach dem Reichthum der Metalle, um einem Strome nachfluthender Arbeitskräfte Bahn zu brechen, und selbst da, wo ein Ort bisher keine Hoffnungen auf volkswirthschaftlichen Fortschritt geboten hat, forscht er nach möglichen Hilfsquellen und sucht ihn wenigstens durch die Verbindung mit dem Außenleben in den großen, allgemeinen Verkehr zu ziehen und in den Mitgenuß der Früchte anderer Arbeitsfelder zu bringen.

So sind in fremden Welttheilen jene Städte entstanden, welche in den ersten Tagen ihres Bestehens kaum einige armselige Baracken aufzuweisen hatten und doch in verhältnißmäßig kurzer Zeit ihre Einwohner nach Tausenden und Hunderttausenden zählten. So blühen auch hier im alten Lande an früher ganz unbeachteten Orten plötzlich Niederlassungen empor, deren rauch- und rußgeschwärzte Bevölkerung mit jeder Stunde wächst, und die Speculation legt einen ihrer Eisenstränge um den andern hinaus in das Land, damit jedes Einzelwirken hereingreife in das Getriebe der großen, allgemeinen Arbeit und kein strebsames Bemühen in der Abgeschlossenheit verkümmere.

Es ist nicht mehr der Wunsch nach Schutz und persönlicher Sicherheit, welcher die Wohnungen der Menschen zusammenlegt, sondern die Nothwendigkeit der gegenseitigen Unterstützung für die Erreichung friedlicher Lebenszwecke, die jetzt um so schneller und leichter erreicht werden, als bei der immer fortschreitenden Erweiterung des Horizontes es Jedermann ermöglicht ist, Ort, Zeit und Weise seiner Thätigkeit seinen Wünschen und Befähigungen anzupassen. Daher war die Einführung der Freizügigkeit und die Aufhebung des Zunftwesens von allen Seiten als eine Nothwendigkeit zu erkennen und mit Dank zu begrüßen.

Die Bibel erzählt von Kain und Abel als den Ersten, welche sich einer bestimmten Berufsthätigkeit hingaben. Kain war Jäger und Abel ein Ackersmann. Während die Jagd längst zu einer Nebenbeschäftigung, ja zu einem Vergnügen geworden ist, wird man in der Landwirthschaft zu allen Zeiten die eigentliche Grundbedingung gewerblicher Thätigkeit und volkswirthschaftlichen Wohlstandes erkennen. Die Bodencultur liefert nicht nur den verschiedensten Gewerben die nöthigen Materiale und Producte, sondern ist in Beziehung auf die Erbauung unsrer Nahrungsmittel der Menschheit vollständig unentbehrlich und giebt in den Preisen, welche sie für dieselben fordert, den Werth aller Arbeitserzeugnisse an. Je mehr oder weniger man für Getreide etc. zahlt, desto höher oder tiefer stellt sich auch der Betrag, welchen man für alles Uebrige zu entrichten hat.

In der Landwirthschaft ergreift der Mensch Besitz von der Erde, die ihm von dem Schöpfer übergeben worden ist. Er macht sie sich zum unanfechtbaren Eigenthum und zwingt sie, ihn als Trägerin seiner Wohnstätte und Erzeugerin seiner sämmtlichen Bedürfnisse dienstbar zu sein. Darum wurde der Ackerbau bei allen alten Völkern hoch geachtet, sodaß selbst Könige vom Throne stiegen und in feierlichem Aufzuge den Pflug durch den Acker führten.

[303]

[310] Hochberühmte Männer rief der bedrängte Staat vom furchenziehenden Joche hinweg, zu welchem sie zurückkehrten, sobald sie das siegreiche Schwert aus der Hand gelegt hatten, und noch heut' kommt es hier und da wohl vor, daß ein Regent den Landbau durch die ceremonielle Führung eines pflügenden Gespannes ehrt.

In den ersten Zeiten war der Landwirth gezwungen, nicht nur sein Haus selbst zu bauen, sondern auch alle Werkzeuge und Geräthe, deren er bedurfte, mit eigener Hand zu fertigen. Dadurch wurde seine Zeit und Arbeitskraft zersplittert und zum ansehnlichen Theile dem eigentlichen Berufe entzogen, auch abgesehen davon, daß eine solche Zersplitterung immer verhindert, in einem bestimmten Fache etwas wirklich Nennenswerthes zu leisten. Sobald sich aber eine größere Anzahl Landbewohner zusammenfanden, trat die besondere Geschicklichkeit eines jeden Einzelnen für eine bestimmte Arbeit hervor und es war leicht einzusehen, daß es gerathen sei, diese Geschicklichkeit für sich und Andere nutzbar zu machen. So legte sich der Eine auf die Holz-, der Andere auf die Eisenarbeit; ein Dritter fertigte Haus- und Zimmergeräthschaften; ein Vierter wurde bei dem Bau von Wohnungen zu Rathe gezogen, und jeder von ihnen erhielt seinen Lohn oder den Preis für seine Erzeugnisse in den Producten des Ackerbaues ausgezahlt.

So entwickelte sich nach und nach eine Arbeitstheilung, welche mit der Zeit zur Bildung bestimmter Handwerke führte, deren Zahl sich um so mehr vergrößerte, je zahlreicher die Bevölkerung und mithin auch die Bedürfnisse wurden. Das gegenseitige Ineinandergreifen der Gewerbe fand zunächst auf dem Wege des Tausches statt; doch stellten sich hier bald Schwierigkeiten heraus, die man zu umgehen suchen mußte. Der Besitzer einer Heerde von Kameelen, Rindern und Pferden konnte natürlich blos mit diesen Thieren bezahlen, und das, was er kaufte, hatte in den wenigsten Fällen einen Werth, welcher grad' und genau für dieses Zahlungsmittel paßte. Eins seiner Thiere war mehr werth, als der Bogen, den er brauchte, oder die Decke, welche ihm angeboten wurde, und selbst wenn er von einem dieser Gegenstände mehr nahm, als er eigentlich bedurfte, so war die Ausgleichung doch immer mit Schaden für einen der handelnden Theile verknüpft. Es stellte sich also die Nothwendigkeit eines allgemeinen Werthzeichens heraus, mit welchem es möglich war, Alles zu kaufen und genau zu bezahlen: man schritt zur Einführung des Geldes.

Als solches wurden zunächst die verschiedenartigsten Gegenstände angewandt, wie man ja heut' noch bei vielen uncivilisirten Völkerschaften mit Muscheln, Salz, Perlen, Kattunstücken etc. bezahlt. Aber diese Tauschmittel waren entweder zu schwer transportabel oder einem baldigen Verderben unterworfen; man suchte deshalb nach einem Stoffe, der sich in alle Werthe fügte, leicht geführlich und dauerhaft war, und fand ihn in den Metallen: man prägte Münzen.

Erst von diesem Augenblicke an konnte der Handel einen gesunden Aufschwung nehmen, die Arbeit des Einen fruchtbringend in diejenige der Andern eingreifen und die verschiedenartigsten Leistungen sich lückenlos ergänzen. Erst jetzt begann daher die rege Gewerbsthätigkeit, welche wir schon bei den Völkern des Alterthums bewundern und welche zu Leistungen führte, welche von einer Geschicklichkeit in manchen Fächern zeugte, die selbst die neueste Zeit sich noch nicht wieder angeeignet hat.

Die Arbeit ist das festeste Band, welches sich um die Glieder der menschlichen Gesellschaft schlingt; sie duldet kein Absondern, keine Einsiedelungen, kein abgeschiedenes Dahinträumen, sondern stellt jede gesunde Körper- oder Geisteskraft eng und freundschaftlich neben die andere und weiß ihre hohen und schönen Ziele durch die Macht der Vereinigung zu erreichen. Je weiter sie sich bei den Völkern entwickelte, desto enger und umfassender wurde auch die Vereinigung und gab sich äußerlich durch das Zusammenrücken der Wohnplätze zu erkennen.

Wer nicht, wie der Landmann, an die Scholle gebunden war, der suchte im Weichbilde der immer zahlreicher anwachsenden Städte Gelegenheit zur gewerblichen Ausbildung, um durch dieselbe seine Gaben zu verwerthen und eine sichere und geachtete Lebensstellung zu erlangen. Es zog sich ein Riß zwischen Stadt und Land, welcher Jahrhunderte überdauert hat, trotzdem die Mauern der Städte längst zerfallen, ihre Wälle planirt und ihre Gräben ausgefüllt worden sind, ein Riß, welcher sich in den verschiedenartigsten Beziehungen geltend machen wird, so lange man überhaupt zwischen Stadt und Land unterscheidet.

Schon oft haben wir darauf hingewiesen, daß der Mensch sowohl von dem Boden, welcher ihn trägt, als auch von den Verhältnissen, in denen er geboren und erzogen wird, in hohem Grade abhängig sei. Die Trennung, welche sich in rein örtlicher Beziehung zwischen Stadt und Land vollzog, hat einen bedeutenden Gegensatz der Verhältnisse zur Folge gehabt, welcher seinen Einfluß bis sowohl auf das Aeußere als auf die geistigen Eigenschaften des Stadt- und Landbewohners zu erkennen giebt.

Werfen wir zunächst einen Blick auf Letzteren.

Mögen die Träume des Frühlings noch so beseligend und verlockend über die Fluren ziehen und die stummen und doch so beredten Mysterien des Waldes ihre rauschenden Fittige noch so erquickend und beruhigend um die heiße Stirn des Wanderers schlagen, mag das Liebeslied der Nachtigall noch so süß am Waldessaum erklingen und der Blumenduft die Sinne des Athmenden berauschen, die Natur ist nicht ein weiches, zartes, sentimentales Weib, welches sich in behaglicher Ruhe auf die grünenden Matten streckt, sondern [310] eine ernste, strenge Göttin, welche nur nach des Tages Last und Hitze dem kühlen Abende erlaubt, sich auf die Erde zu senken und die Stimme des sorglichen Lebens schon beim Grauen des Morgens wieder erwachen läßt. Sie läßt sich ihre Gaben nur durch angestrengtes Werben entlocken und giebt ihre Blüthen und Früchte nur Demjenigen zum Genusse, welcher sie sich durch mühevolle Arbeit zu verdienen weiß. Die langen Wälderstreifen, welche sich wie dunkelknorrige, kraftzuckende Sehnen über und zwischen das steinigte Skelett der Erde spannen, die fruchtbaren Bodenmuskeln, welche dem Körper unseres Planeten Fülle, Gestaltung und Physiognomie verleihen, sie theilen ihren Character unwiderruflich auch Demjenigen mit, dessen Fuß durch ihre Laub- und Nadelgänge oder über ihre Furchen schreitet.

Die Natur ist schön, aber ihre Schönheit ist eine urwüchsige, ist nicht nach den Gesetzen der Aesthetik gebildet, und der Stift des Landschafters ebenso wie die Scheere des Gärtners machen sich der Versündigung gegen ihre heilige Eigenthümlichkeit schuldig. Der Jäger, welcher sich seinen Weg durch das Dickicht des Waldes bahnt, der Fischer, welcher am einsamen Ufer des See's seine Netze trocknet, der Bauer, welcher unter rinnendem Schweiße mit der Härte und Sterilität des Bodens kämpft, sie sind Söhne der Natur in höherem oder geringerem Grade und können sich ihrem Einflusse nicht entziehen. Kraft wohnt in ihren Sehnen, Stärke in ihren Muskeln, fest und widerstandsfähig ist ihr Körper geformt; ihr Angesicht kennt nicht jene feinen, durchgeistigten Züge, wie sie der Maler der Civilisation seinen Gestalten so gern mittheilt; ihr Auge hat nicht jenen schmachtenden oder blasirten Blick, dem wir bei den verzärtelten Bewohnern der Städte so oft begegnen; ihre Hand ist rauh und hart, ihr Gang fest, ihr Schritt laut und gewichtig, und in ihrer ganzen äußeren Erscheinung prägt sich jene unveräußerliche Derbheit aus, welche ihnen die Thüren der feinen Gesellschafts Salons verschließt.

Und diese Derbheit geht auch auf ihre geistigen Manieren über, nimmt ihre Ansichten, Meinungen und Gefühle in Beschlag und giebt sich bei jeder ihrer kleinsten Verhandlungen kund. Sie hüllt den Neugebornen mit kräftigem Drucke in die grobleinenen Windeln, lacht über die zeternde Stimme des Säuglings, überläßt das Kind getrost dem selbsterfundenen Spiele, jagt den Knaben und das Mädchen hinaus in das wehende Schneegestöber, läßt das Tanzhaus unter den wuchtigen Tritten des Jungvolkes erzittern, führt Mann und Weib mit klatschendem Handschlage und schallendem Kusse zusammen und begleitet den Menschen durch die Freuden und Sorgen des Lebens mit unveränderter Treue bis zum Grabe. Man sehe nur, wie der Modeheld mit schmachtenden Geberden vor seiner »Angebeteten« liegt, und blicke dagegen auf den Bauerburschen, der seiner Herzallerliebsten einen Puff in die Rippen beibringt, daß sie schier die Balance verliert, und dann kurz fragt:

»Na, Stine, wie wär't denn? hihihihi!«

Das Mädchen reibt sich, nach dem ausgegangenen Athem schnappend, die blauanlaufende Stelle und antwortet:

»I na, Jochem, dat kun ja woll sin! hihihihi!«

[311]

[318] Wenn draußen im Walde der Wind durch die engverschlungenen Zweige rauscht und der Wasserfall seinen monotonen Kanon plätschert, dann ertönt wohl eine tiefe, kräftige Stimme:


»Ich schieß den Hirsch im wilden Forst,
Im tiefen Wald das Reh,
Den Adler auf der Klippe Horst,
Die Ente auf dem See.
Kein Ort, der Schutz gewähren kann
Wo meine Büchse zielt,
Und dennoch hab' ich harter Mann
Die Liebe brennend heiß gefühlt.
Campire oft zur Winterszeit
In Sturm und Wettersnacht,
Hab', überreift und überschneit,
Den Stein zum Bett gemacht.
Auf Dornen schlief ich unbewußt,
Vom Nordwind unberührt,
Und dennoch hat auch meine Brust
Die Liebe brennend heiß gespürt.
Der wilde Falk ist mein Gesell,
Der Wolf mein Kampfgespann,
Der Tag geht mir mit Hundsgebell,
Die Nacht mit Hussa an.
Ein Tannreis schmückt statt Blumenzier
Den schweißbedeckten Hut,
Und dennoch schlug die Liebe mir
In's wilde, heiße Jägerblut,«

und wie das Lied die Rauheiten des unmittelbaren Verkehres mit der Mutter Natur, welche ihre Kinder nicht verweichlichen läßt, ganz treffend schildert, so weist es auch hin auf die ungeminderte Kraft, mit welcher sich die Regungen des Gefühles eines Menschenherzens bemächtigen, dessen Träger seine Arme den Fesseln der sogenannten verfeinerten Sitte noch nicht dargeboten hat. Wie kein menschlicher Wille dem Sturme seine Richtung, Dauer und Stärke vorzuzeichnen oder den zuckenden Funken des Blitzes zu halten vermag, so stehen auch die seelischen Meteore des Naturmenschen unter keiner beengenden Herrschaft und machen sich in kräftigerer Weise geltend, als da, wo Convenienz und Dehors den Schritt des lackbeschuhten Fußes lenken.

Und doch, so wie der Wald nach seinem Character so verschieden ist von der offenen Flur, so trägt auch der in ihm Beschäftigte, der Jäger, der Holzhauer, ein von dem Ackerbauer verschiedenes körperliches und geistiges Gepräge an sich. Die Mysterien des Forstes haben ihren Schleier auch über ihn gelegt und der poesievolle Duft der dunklen Tannenwipfel webt seine Träume auch um seine Person.

Der Bauer, meist auf dem Stückchen Erde geboren, welches er bewohnt, zieht nur aus seinem Acker das, was ihm zum Leben und Bestehen nothwendig ist. Er legt den Samen in das Land und ist, wenn er die Früchte erndten und genießen will, fest an den Ort gebunden. Dieses Beharren und Festhalten ist ihm auch zur geistigen Eigenthümlichkeit geworden.

Schon in körperlicher Beziehung ist er nicht leicht beweglich; sein Schritt ist ein langsamer und sicherer, seine Haltung eine jederzeit ruhige und bedächtige, und es muß eine Leidenschaft in ihm erweckt worden sein, wenn ja einmal seine Bewegungen ein lebhafteres Tempo zeigen. Ansichten, zu denen er sich bekennt, und Meinungen, die er einmal gefaßt hat, hält er mit erstaunenswerther Zähigkeit fest; er hat sie von seinen Eltern geerbt und trägt sie wieder auf seine Kinder über. Was der Großvater für recht und gut erkannte, das hält noch der Enkel für heilig, gleichviel, ob es bis dahin veraltet ist. Von Neuerungen ist er kein Freund, und daher bringt er allem Unbekannten ein Mißtrauen entgegen und hat die Vorsicht zur Mutter seiner Klugheit gemacht. Was Andere thun und treiben, das geht ihm wenig oder gar nichts an, wenn sie nur ihn in Ruhe lassen und nicht etwa gar verlangen, daß er seinen Grütze mit ihnen theile. Er steht eben unter dem unmittelbaren Einflusse des festen, unbeweglichen Elementes, welches er bearbeitet, und wie dasselbe trotz all dieser Arbeit sich doch immer gleich bleibt, so ist auch er das Urbild eines ächt Conservativen, welchem es vor Allem graut, was irgend einer Veränderung ähnlich sieht.

Darum dringt die Wissenschaft mit ihren Erfolgen viel langsamer in das praktische Leben des Landwirthes ein, als in dasjenige anderer Berufszweige, und wenn wir auch sagen müssen, daß in diesem kräftigen und oft nur pietätvollen Beharren bei dem einmal Bestehenden eine der bedeutendsten nationalen Stützkräfte zu erkennen sei, so kann doch nicht geleugnet werden, daß die Zähigkeit einer zahlreichen Volksklasse einen hemmenden Einfluß auf die allgemeine Entwickelung ausüben müsse.

Es gab eine Zeit, in welcher man mit wirklichem Rechte von dem »dummen Bauer« sprach; er war in Folge seiner Liebe zum Hergebrachten bei dem allgemeinen Drängen nach Vorwärts zurückgeblieben und bildete neben den gewandten Gestalten der Anderen nicht selten eine sogar oft komische Figur. Er war das enfant terrible aller Spaßvögel und Witzfabrikanten und der bevorzugte Operationsgegenstand Derjenigen, welche sich zu dem unguten Wahlspruche bekennen: »So lange es noch Dummheit giebt, braucht ein Gescheidter nicht zu arbeiten.«

Das ist nun freilich anders geworden. Durch Schaden wird man klug, und die angeborene Bedächtigkeit des Bauern hat sich zu einer scharfsinnigen Vorsicht zugespitzt, welche [318] nur schwer zu übervortheilen ist. Es liegt in dem festen Besitze auch eine geistige Macht; dem nach festen Gesetzen vor sich gehenden Drängen nach Aufklärung kann sich Niemand auf die Dauer entziehen, und wie der Landmann treu am Alten hält, so energisch nimmt er auch das Neue in die Hand, wenn er es einmal als vortheilhaft erkannt hat. So ist es gekommen, daß der »dumme Bauer« mit der Zeit ein Pfiffikus geworden ist, der »es hinter den Ohren hat« und Manchem zu rathen aufgiebt, welcher mit Stolz und Zurücksetzung auf ihn herabblickte.

Weit entfernt von den Erscheinungen des Landlebens sind die Eindrücke, unter denen der Bewohner der Stadt emporwächst.

Während der Sohn des Bauern seine ersten Anschauungsübungen an Gegenständen versucht, welche sich einer unausgesetzten Realinjurie gegen Auge, Nase und Gehör schuldig machen, öffnet das Kind der Stadt sein Auge entweder inmitten einer schönen Häuslichkeit oder doch in einer Umgebung, welche dem Blicke Anderes bietet, als die nackten Unschönheiten, wie sie die Kehrseite eines Dorfes zeigt. Zeit und Kraft der Familienglieder werden hier nicht von den harten Anforderungen der schweren Handarbeit so vollständig absorbirt, daß die einzige Erholung »Schlaf,« das einzige Vergnügen »Wirthshaus« heißt und die Einsamkeit des Lebens jene Ungefügigkeit hervorbringt, welche man vorzugsweise an dem biedern Landmanne zu beobachten pflegt.

Die Stadt ist aus Gesellschaftsrücksichten entstanden und trägt seit dem ersten Augenblicke ihres Bestehens das Gepräge der Geselligkeit an sich, der Geselligkeit, in welche ein jeder ihrer Bewohner sich bewußt oder unbewußt hineingezogen fühlt. Wer da glaubt, daß es Eltern und Lehrer allein sind, welche an der Erziehung eines Kindes wirken, der irrt sich gar sehr, denn hinter ihnen steht eine Hofmeisterin, welche, Jahrtausende alt und doch ewig jung, ihre Bemühungen unterstützt oder auch ihnen entgegen zu wirken vermag: das Leben mit seinen unzähligen Erscheinungsarten und immer wechselnden Ereignissen. Der Einfluß, welchen es auf die Erziehung des Kindes übt, wird von Vielen, Vielen gar nicht erkannt oder doch nur wenig beachtet und gewürdigt, und doch vermag ein einziges kleines Vorkommniß den ganzen Bau elterlicher Anstrengungen in Trümmern zu stürzen. Ist nun das Leben einer Stadt so verschieden von demjenigen auf dem Lande, so müssen auch die von ihm bewirkten Eindrücke mehr oder weniger ungleiche sein, und diese Ungleichheit wird sich im ganzen Wesen der Bewohnerschaft aussprechen.

Die Mannigfaltigkeit der Bilder, wie sie das Stadtleben zeigt, bewirkt größere Erfahrung; die Schnelligkeit, mit welcher diese Bilder einander folgen und ablösen, schärft den Blick und führt zur Geistesgegenwart. Ein zehnjähriger Berliner Schusterjunge hat bedeutend mehr gesehen, als ein neunzigjähriger Greis, welcher nicht aus Kuhschnappel oder Lämmershausen hinausgekommen ist, und wie sich die Erfahrungen häufen, so auch die Hindernisse, an denen sich der Muth, das Selbstvertrauen und die Unternehmungslust stählt.

Wie die Scenerie der Stadt eine lebhaftere ist als diejenige des Dorfes, so ist auch der Bewohner der ersteren körperlich und geistig beweglicher als der Dörfler. Auf dem Lande liegen die Besitzungen auseinander und bilden meist ein für sich abgeschlossenes, durch Raine, Zäune und Hecken wohlverwahrtes Ganze; so schließt sich der Bauer gern nach Außen ab und lebt innerhalb seiner vier Pfähle als Alleinbeherrscher eines Reiches, in dessen Angelegenheit kein Anderer etwas zu sprechen hat.

Anders ist es in der Stadt. Da schmiegt sich ein Haus eng an das andere; es bilden sich Gassen, Straßen und Plätze; der Raum wird kostbar, und der Einzelne muß mit den Anderen zusammenrücken, obgleich das Ganze wächst und sich immer weiter ausbreitet. Die Menschen werden einander nahe gebracht, berühren sich in ihren Gesinnungen und Verhältnissen und eignen sich dadurch jene Abrundung an, welche so vortheilhaft gegen das eckige, scharfe Wesen des Ländlers absticht.

[319]

[326] Die Beweglichkeit, welche eine nothwendige Folge dieser Abrundung ist, macht den Städter geschickt, sich in die Verhältnisse zu fügen, von den Schlägen des Schicksals sich schnell zu erholen und ertheilt ihm eine Elasticität des Geistes, welche Alles in ihren Bereich zu ziehen sucht und vor nichts Schwierigem zurückbebt, sobald es überhaupt durch Menschenkraft erlangt oder ausgeführt zu werden vermag. Das bereits Gewonnene und Eroberte wirft er leicht hinter sich und schreitet gern von einem Ziele zum andern.

Freilich hat diese Beweglichkeit auch ihre Gefahren. »Andre Städtchen, andre Mädchen« sagt ein altes Sprüchwort und bezeichnet jene Unbeständigkeit, der man in den Straßen der Städte weit öfterer begegnet als auf den Wegen des Dorfes. Während wir den Bewohner des Letzteren conservativ nannten, fügt sich der Bewohner der Stadt leichter in einen Wechsel der Verhältnisse und ist ebenso leicht zu einer anderen Ansicht und Meinung zu bestimmen. Politische Aenderungen, Umgestaltungen, Revolutionen etc. sind wohl kaum jemals vom platten Lande ausgegangen, sondern die eigentlichen Herde solcher Umwälzungen waren fast immer jene großen, reichbevölkerten Städte, in denen sich die Meinungen begegnen, reiben und, eine von der andern getragen und gehoben, zu Gewalten anwachsen, denen sich selbst die geheiligtsten Einrichtungen unterwerfen müssen.

Da es vorzugsweise die Städte sind, in denen die Cultur des Geistes ihre Wohn- und Werkstätten sich errichtet, so treten hier auch alle diejenigen Mißstände, welche eine leider unvermeidliche Folge unserer Civilisation sind, am ersten und augenfälligsten hervor. Die »Barbarei der Gesittung,« wie man jene Mißstände genannt hat, macht sich am liebsten da geltend, wo bei dem Zusammenleben vieler Menschen das Geschick des Einzelnen der allgemeinen Beachtung entgeht oder den Interessen der Gesammtheit zum Opfer fallen muß. Hier liegen auch die verborgenen Winkel und Höhlen, aus welchen die sittliche Corruption, das Laster und Verbrechen sich auf seine Opfer stürzt oder, unter Puder und Schminke verborgen, seine Netze auswirft, um den Leichtsinnigen und Unerfahrenen in scheinbar süße, aber verderbenbringende Bande zu schlagen. –

Stadt und Land. Es liegt ein Gegensatz in diesen beiden Worten, und wie die Gegensätze sich gewöhnlich anzuziehen pflegen, so findet auch hier eine beiderseitige Anziehung statt, welche man fast täglich beobachten kann.

Wenn der Rauch und Staub der Straßen, das Geräusch und Gewühle des Verkehres dem Städter einmal zu lästig wird, dann greift er nach Parapluie und Ueberzieher, hängt seiner schönern Hälfte die schwarzseidene Mantille über den Arm, stellt die Schaar seiner hoffnungsvollen Sprößlinge in Reih und Glied und wandert in pleno seines Weges fürbaß, bis ihm zwischen in natürlicher Unbefangenheit sich präsentirenden Bauergütern der vielgeprüfte Thurm einer alten Dorfkirche entgegenblickt. Hier wird, mag es nun zur Zeit der »Boombluth,« der Rettigsbirnen oder des »grauen Mostes« sein, die Amtsmiene und städtische Ehrwürdigkeit auf einige Stunden in Ruhestand versetzt; das Schild über der Thür des Wirthshauses ist zwar seit dreißig Jahren nicht mehr ganz genau zu buchstabiren, aber man weiß aus Erfahrung, was es zu bedeuten hat; es findet sich diese und jene edle Seele, diese und jene redselige Gevatterschaft zusammen oder es treffen sich ganz unvermuthet ein paar sehr nahe Verwandte – »aus sieben Ranzen eine Haare« – die sich seid Olims Zeiten nicht mehr gesehen oder einander früher gar nicht gekannt haben, und da man mit dem festen Vorsatze gekommen ist, sich unter allen Umständen ein Vergnügen zu machen, so ist der Spaß bald an allen Ecken und Enden los, man findet Alles gut und vortrefflich, und wenn auch auf dem Rückwege der eingedrückte Hut dem Herrn Gemahl etwas im Genicke sitzt, die Frau Gemahlin nicht mehr ganz genau weiß, ob sie ihn oder er sie führt, und die liebenswürdigen Kleinen in allen Dur- und Molltonarten lachen, singen, pfeifen oder nach dem Bette weinen, man ist doch auf dem Lande gewesen, und die Partie war wirklich köstlich, gottvoll heute!

Ebenso freut sich der Bewohner des Landes schon lange Zeit vorher auf den Tag, an welchem er mit den Seinen »zur Stadt« geht. Besonders sind es die Jahrmärkte und Vogelschießen, welche magnetisch wirken. Der beste »Staat« wird hervorgesucht; in der Tasche klimpern die wohlgeputzten Thaler, und auf allen Wegen sind behäbige Gestalten zu sehen, die im süßen Gefühle, daß die Kartoffeln gut gerathen werden und der Hafer aufgeschlagen ist, im Vollbewußtsein ihrer ein-, zwei-, drei- und vierspännerlichen Bedeutung gemessenen Schrittes aus allen Richtungen herbeiwallfahrten. Und wenn nach all' den ausgestandenen Rippenstößen und Fußtritten der Heimweg angetreten wird, so ist man glücklich, sich einmal gründlich umgesehen und dem Städter gezeigt zu haben, daß »hinter dem Berge auch noch Leute wohnen.«

Während auf diese Weise ein kleines Landstädtchen für seine Umwohner den Inbegriff alles Schönen und Wünschenswerthen, den Mittelpunkt alles geschäftlichen und gesellschaftlichen Verkehres bilden kann, giebt es unzählige wanderlustige Seelen, die bei dem Beginne des Sommers ihre Schwingen rüsten, um hinauszufliegen in die schöne, weite Gotteswelt, ein Fleckchen Erde nach dem andern zu durchstreichen und Land und Leute recht gründlich kennen zu lernen. Da giebt es denn bestimmte Land- und Ortschaften, welche sich der Gunst dieser ruhelosen Wandervögel ganz besonders erfreuen und sich deshalb mit jedem neuen Jahre auf neuen, zahlreichen Besuch einrichten. Da sind es Residenzen oder sonst bedeutendere Städte, Badeorte, Inseln oder ganze Gegenden, welche in Folge ihrer Naturschönheiten oder der in ihnen angesammelten Kunstschätze sich eines vortheilhaften Rufes [326] erfreuen und den Sammelpunkt der Fußreisenden und Passagiere erster, zweiter, dritter und vierter Wagenclasse bilden.

Kein Wunder, wenn die Bewohner solcher Länder, Gegenden oder Städte mit Stolz von ihrer Heimath sprechen und mit anhänglicher Liebe ihr zugethan sind! »Das heilige Reich der Mitte« nennt der Chinese sein Land, als ob die anderen Länder als werthlose Anhängsel sich nur so um dasselbe gruppirten, und wenn er zu noch so vielen Tausenden nach dem fernen Amerika auswandert, um dort einem spärlichen und genügsamen Erwerbe nachzugehen, er bleibt doch ein treuer Sohn der heimathlichen Erde und sorgt mit Aufbietung aller Kräfte dafür, daß wenigstens seine Leiche in derselben zur Ruhe bestattet werde. »La belle france,« das schöne Frankreich, nennt der Franzose sein Vaterland und vergleicht es mit diesem Ausdrucke einer Schönen, mit welcher keine Andre zu vergleichen ist und der er Treue geschworen hat bis in den Tod. »Ich hab' mich ergeben mit Herz und mit Hand,« singt mit eben solcher Treue der Deutsche; »nach Sevilla, nach Sevilla!« ruft der Spanier; »Wangenglanz des Weltenangesichtes, o Istambul!« redet der Türke sein Constantinopel an; »Cahira, die Unvergleichliche,« nennt der Eypter sein Cairo; »die Königin des Meeres« hieß das stolze Venedig bei seinen früheren Bewohnern, und


»Du bist die weitberühmte Stadt,
Von Glanz und Ruhm erhellt,
Der man mit Recht gegeben hat
Den Namen ›Goldne Welt‹«,

sagt Ramiers von dem berühmten Brügge. An solchen individualisirenden Bezeichnungen ist stets etwas Wahres, denn jede Stadt, ja überhaupt jede Ortschaft hat ihren eigenen Character und stellt sich, wenn dieser Ausdruck hier erlaubt ist, als eine Persönlichkeit dar.

Aber nicht blos positive, sondern auch negative Eigenschaften sind es, welche gewissen Gegenden und Oertern einen hellen Nimbus verleihen. Man denke nur an das wundervoll geistreiche Lied:


»Die Pinzgauer wollten wallfahrten gehn
Und wollten schön singen und konnten's nit schön:
Zschiha, Zschihu, Zschiho,
Die Pinzgauer sind schon do!«

oder an die berühmten Schildbürger und Bewohner von Krähwinkel, wenn nicht gar an das weltbekannte Tripsdrille, »wo die Pfütze über die Weide geht.«

Wie man früher possierlicher Weise die Orgeln in ganze, halbe, Viertel- und Achtel-Orgeln eintheilte, so spricht man auch von Städten ersten, zweiten, dritten, vierten etc. Ranges, und jeder Ort strebt, in dieser zweifelhaften Stufenordnung eine höhere Stelle einzunehmen. Und ist gar die Hunderttausendzahl der Einwohner voll, so steuert man mit vollen Segeln auf die »Weltstadt« zu, und doch beweist die Geschichte, daß sehr oft ein kleines, unbedeutendes Städtchen oder Dörfchen größeren Einfluß auf die Richtung und Gestaltung des Völkerlebens ausübte, als die bevölkertste Metropole. Die Riesenstädte der Vergangenheit liegen unter Schutt und Trümmer, und die Babels und Ninive's der Gegenwart breiten ihre Häuserreihen über Orte, an denen damals der Bär mit dem Auerochsen kämpfte. So folgt in dem großen, allgemeinen Entstehen und Vergehen Eins dem Anderen, und wie kein Mensch sein Schicksal vorauszusehen vermag, so liegt auch die Geographie der Zukunft hinter dichtem, undurchdringlichem Schleier verborgen.

[327]

8. Haus und Hof

In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. Nr. 42–46. S. 334–335, 342–343, 350–351, 358–359 u. 366–367. – Dresden: H.G. Münchmeyer (1876). Reprint in: Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. Mit einer Einführung von Klaus Hoffmann. Hildesheim, New York: Olms Presse 1979.

[334] 8.

Haus und Hof

»Siehe, wie fein und lieblich ist es,

Daß Brüder einträchtig bei einander wohnen!«

Ps. 133,1.


Dieses Wort des Israelitenkönigs David hat nun fast drei Tausend Jahre überdauert, ist mit der Bibel in fast alle Sprachen der Erde übersetzt worden, der Weise sowohl wie auch der geistig Träge und Unbeholfene erkennen die hohe Wahrheit an, welche in ihm enthalten ist, und dennoch schwebt der Genius der Eintracht noch zwischen den Wolken und darf sich nur zuweilen herniederlassen auf ein bescheidenes und abgelegenes Plätzchen, um für kurze Zeit ausruhen zu können vom ermattenden Flügelschlage. In der Natur sowohl wie im Menschenleben ist ein unausgesetztes Gegeneinanderwirken der Kräfte und Gaben zu bemerken; aus dem Verschwinden und Vergehen des Einen zieht das Entstehen und Emporwachsen des Anderen seine Nahrung, um später selbst einer neuen Entwickelungsform zu weichen, und während die Geister sich aneinander reiben, unterliegt auch der Stoff einem ewigen Wechsel zwischen Leben und Sterben. Es ist wirklich, als sei das irdische Dasein nur durch ein kämpfendes Aufeinanderwirken der verschiedenen körperlichen und geistigen Kräfte ermöglicht, als biete das unausgesetzte Ringen der Naturgewalten nur ein Vorbild der Friedlosigkeit, welche sich durch alle menschlichen Verhältnisse zieht, und fast scheint es, als sei eine Ausgleichung der Gegensätze, eine Ruhe nur im Tode zu finden.

Und doch möchte das Herz gern an eine Zeit glauben, in welcher das Schwert zur Sichel wird und die Weissagung der himmlischen Heerschaaren: »Friede auf Erden« in Erfüllung geht. Die Religion der Liebe, das Christenthum, hat trotz ihres neunzehnhundertjährigen Bestehens der Welt noch den ersehnten Frieden nicht gebracht; ihre eigenen Anhänger standen und stehen sich noch heut in zahlreichen Heerlagern feindselig gegenüber, und ihre Geschichte ist fast von Episode zu Episode mit blutigem Stifte geschrieben. Und hegen selbst die Muhamedaner den schönen Glauben, daß Isa Ben Marryam, Jesus, der Sohn Mariens, vom Himmel herabsteigen und sich auf die Moschee der Ommijaden zu Damaskus niederlassen werde, um das große und ewige Reich des Friedens zu gründen, so muß selbst der Nichtmuselmann die Erfolglosigkeit dieser islamitischen Hoffnung bedauern.

Nur eine Macht giebt es, welche, über allen Parteien stehend, nach Milderung und Versöhnung strebt, sich allen religiösen und politischen Zerwürfnissen von Tag zu Tage immer mehr überlegen zeigt und den Menschenfreund veranlaßt, den Gedanken eines Völker-, eines Erdenfriedens festzuhalten: die Humanität. Aus ihr, der Grundbedingung aller menschlichen Wohlfahrt, müssen die geistigen und auch die geistlichen Lebenssäfte emporsteigen in die Aeste und Zweige der Gesellschaft, wenn die erwünschten Früchte reifen sollen, welche man in Liebe erntet und in Sicherheit genießt, »ein Jeglicher unter seinem Dache.«

Das mag wohl sanguinisch gesprochen sein, aber das, was uns die Wirklichkeit nicht bieten will, dürfen wir wenigstens träumen, und ein Traum, welcher uns, wenn auch nur für eine kurze Stunde, liebe Gaben spendet, ist er denn so gar Nichts gegenüber einem Wachen unter unerfüllten Wünschen? Und ist es etwa nicht möglich, daß der Einzelne mit Erfolg wenigstens für seinen Frieden sorgen und sein Leben mit Eintracht schmücken kann? In den Räumen des großen Prachtbaues, dessen Flur die Erde den schönsten ihrer Gaben schmückt und dessen Kuppel das Firmament mit Millionen von Sternen beleuchtet, klirren die Waffen und wogt der Kampf bald hin, bald her. Die politischen Bauten, in denen die Nationen und Völkerschaften sich von einander absondern, sie sind errichtet wie jene Wohnungen der Juden zur Zeit der Richter und Makkabäer, mit dem Schwerte in der Faust, beherbergen den Zwist im eigenen Innern und bedürfen zu ihrem Fortbestehen einer steten Vertheidigung. Aber die Wohnung, welche der Mensch für sich und die Seinen erbaut, um die Lieben am Feuer des häuslichen Herdes zu versammeln, sie kann eine Stätte des Friedens und der Einigkeit sein, wenn es der gegenseitigen Zuneigung gelingt, die Geister der Zwietracht fern zu halten.

Es liegt ja in dem Zwecke und Wesen des Hauses, seine Bewohner nach Außen hin vor schädlichen Einflüssen sicher zu stellen und das Glück der Familie in Schutz zu nehmen. Es soll Alles fernhalten, was die innere und äußere Entwickelung seiner Bewohner benachtheiligen könnte, und den Blumen des Herzens die zu ihrer Entfaltung nöthige Abgeschiedenheit und Ruhe gewähren. Die Stürme des Lebens sollen über seine Firste dahinbrausen und an seinen Mauern abprallen, die Verderben bringenden Elemente Abwehr finden und nur die goldenen Strahlen der Sonne und die Leben gebenden Fluthen der Atmosphäre Zutritt erlangen.

Der Schutz gegen schädliche Natureinflüsse war der erste Zweck, welchen der Mensch verfolgte, als er zum Baue einer Wohnung schritt. Diese bestand zunächst aus einer Hütte, welche er sich von den Zweigen der Bäume errichtete, oder wohl aus einer Höhle, in deren Räumen er sich ein Lager bereitete; doch besaß die Erstere nicht die wünschenswerthe Dauerhaftigkeit, und auch die Letztere zeigte Uebelstände, welche ihn veranlaßten, um ein besseres Obdach besorgt zu sein. Er löste den Rasen von der Erde und trug sich Steine herbei, welche ihm ein festes und dauerhaftes Material boten. Die vier Wände erhoben sich bald, auf Stangen ruhte das aus Geäst oder langen Blättern hergestellte Dach, und – das erste architectonische Meisterwerk war vollendet.

Schon 1. Mos. 4,12 wird von Kain erzählt: »Und er baute eine Stadt, die nannte er nach seines Sohnes Namen Hanoch.« Und Vers 20 heißt es: »Und Ada gebar Jabel; von dem [334] sind hergekommen, die in Hütten wohnen und Vieh zogen.« Wenn wir auch unter der Stadt Hanoch nicht eine Zusammenstellung von Straßen und Häusern zu verstehen haben, wie wir sie uns jetzt bei dem Begriffe »Stadt« vorstellen, so soll durch die erstere Stelle doch wohl eine Gruppirung mehrerer Wohnungen zur Erreichung gemeinschaftlicher Zwecke angedeutet werden, und unter den Hütten, in denen die wohnten welche Vieh zogen, sind kaum etwas Anderes als Zelte zu verstehen. Der Besitzer von Heerden war Nomade und konnte nur solche Wohnstätten gebrauchen, die sich leicht abbrechen und an jedem beliebigen Orte wieder aufrichten ließen.

Natürlich hat die Baukunst mit der Entwickelung der menschlichen Verhältnisse immer gleichen Schritt gehalten und von ihren primitiven Anfängen bis zu ihrer gegenwärtigen Ausbildung eine wechselvolle und gestaltungsreiche Bahn durchlaufen. Von dem Baume, unter dessen herabhängenden Zweigen sich Adam und Eva verkrochen oder den Moos- und Schilflagerstätten der ersten Menschen bis zu den Palästen und Hotels der Gegenwart mußte ein weiter und ruhmvoller Weg zurückgelegt werden, von dem wir eine deutliche Vorstellung erhalten, wenn wir noch die jetzigen Wohnungen der auf verschiedenen Stufen sich befindenden Völkerschaften mit, einander vergleichen. Noch heut' giebt es ja Troglodyten welche sich in Felsenhöhlen verkriechen, noch heut' hängt der Indianer des nordöstlichen Südamerika's gleich dem Affen zwischen den Zweigen der Bäume, noch heut' zieht der Mongole mit seinen schmutzigen Filzzelten durch die Steppen Hinterasiens, noch heut' giebt es in China und Hinterindien Abertausende, welche ein gebrechliches Floß oder einen alten morschen Kahn ihre einzige Heimath nennen, und gar manche unserer glänzenden Städte kann in ihren dunkleren Straßen noch Baracken aufweisen, die dazu erhalten zu sein scheinen, die überwundenen Annehmlichkeiten früherer Jahrhunderte zu illustriren.

Die Art und Weise der Wohnung, welche sich der Mensch errichtet, hängt nicht allein von seiner Ansicht und seinem Geschmacke, sondern auch von vielen außer ihm liegenden Verhältnissen ab, unter denen das Klima die erste Stelle einnimmt. In der strengen Kälte des Nordens ist Abwehr der winterlichen Rauhheit und Erzeugung einer wohlthuenden Wärme die Hauptsache, während in der Gluth des Südens die festeste Constitution ohne eine erquickende Kühle zu Grunde gehen muß. In regenreichen Hochländern baut man anders als in Gegenden, denen es an den befruchtenden feuchten Niederschlägen mangelt, im Gebirge anders als in der sumpfigen Niederung, und auf sicherem Grunde wieder anders als auf einem Boden, der, wie der mittelamerikanische, oft von Erdbeben heimgesucht wird.

Je mehr menschliche Wohnungen zusammenrücken, desto inniger werden auch die gegenseitigen Beziehungen, und es ist dann allerdings für das Wohl des Einen oder der ganzen Gesammtheit nicht gleichgültig, wie der Andere baut und sich einrichtet. Dann muß die Gesetzgebung gewisse Bedingungen vorschreiben, nach denen ein Jeder sich zu richten hat, und es ist Aufgabe der Baupolizei, darauf zu sehen, daß weder das Gesammtinteresse noch die Verhältnisse des Einzelnen durch irgend einen Umstand geschädigt werden.

Innerhalb des durch diese Vorschriften umschlossenen Raumes nun kann allerdings Jedermann seinem eigenen Geschmacke Rechnung tragen, und daher kommt es, daß, wie wir später deutlich sehen werden, der Character der Bewohner sich mit einer gewissen Sicherheit aus dem Character der Wohnung schließen läßt.

[335]

[342] Schreiber dieses fand in der Nähe eines Dorfes ein zweistöckiges Häuschen, unter dessen Dache sich die Inschrift hinzog:


»Ich kehr' mich nicht daran
Und laß die Leute klügeln;
Man kann nicht Jedermann
Das böse Maul verriegeln!«

und es hätte, um auf den Besitzer schließen zu können, dieses allerdings etwas kräftigen Bekenntnisses gar nicht bedurft, denn das Gebäude war von einem hohen Stackete eng umschlossen und so dicht von Bäumen umgeben, daß kaum eine einzige der kleinen Fensterscheiben zwischen den Zweigen hindurch zu lugen vermochte und nur ein mit der Welt verfeindetes Gemüth sich in dieser einsiedlerischen Abgeschlossenheit wohlbefinden konnte.

Da, wo eine dünngesäete Bevölkerung sich über weite Flächen zerstreut, hat gewöhnlich auch das Gespenst des Pauperismus seine dunklen, kalten Schwingen noch nicht über die Häupter der Menschen gebreitet, und ein Jeder, auch der ärmste Tagelöhner, hat sein eigenes Haus, seine eigene Hütte, in welcher er als alleiniger und selbstständiger Herrscher waltet. Da aber, wo, wie in großen Städten oder dicht bevölkerten Industriebezirken der Mangel an Raum sich so bemerklich macht, daß die Häuser sich in langen Reihen eng aneinander legen und mit zahlreichen Stockwerken in die Höhe streben, da ist es nur für die Wenigsten möglich, ein eigenes Heim zu besitzen, und es bilden sich jene Verhältnisse aus, welche wir mit dem Worte »Wohnungsmiethe« bezeichnen und zusammenfassen. Der Reichthum oder die Spekulation bemächtigen sich des Bodenbesitzes, »Zinshäuser« und »Kasernen« entstehen, der Miethcontract treibt sein beängstigendes Wesen und auf einer Wanderung vom Souterrain bis zum Mansardenstübchen, vom Straßenbalkon bis zum feuchten Kämmerchen des Hinterhauses erlangt man einen Ueberblick der verschiedensten socialen Verhältnisse in derselben Weise, wie z.B. die Besteigung des Chimborasso gestattet, einen Einblick in die Vegetationsformen der verschiedenen Zonen zu nehmen.

Und doch berühren sich auch hier die Extreme. Je weiter die Menschen auseinander wohnen oder je dichter sie zusammengedrängt werden, desto weniger tritt eine vertrautere Bekanntschaft zwischen ihnen ein. Auf den weitgedehnten Strecken der Haiden und Moore erhebt nur selten eine einsame Wohnstätte ihr schmutziges Dach, der Verkehr ist erschwert, und nur wie eine dunkle Kunde dringen die Ereignisse des Völkerlebens oder die Nachrichten über näher liegende Verhältnisse von Nachbar zu Nachbar. Je bedeutender die Entfernung, desto größer auch die Trennung. – In den himmelanstrebenden Wohngebäuden unserer Metropolen gehen die Hausbewohner fremd und kalt an einander vorüber, kein Gruß ertönt, keine Mittheilung wird ausgewechselt und kaum weiß der Eine den Namen und Stand des Anderen, welcher mit ihm unter gleichem Hausreglement steht. Je enger das Zusammendrängen, desto größer auch die Trennung.

Während in den älteren Zeiten das Haus nur den Zweck hatte, dem Menschen die nöthigen Wohn- und Wirthschaftsräume zu bieten, haben sich bei der vorgeschrittenen Entwickelung der »Erdenbürger« die Bedürfnisse erweitert und jetzt erheben sich unzählige Gebäude, welche früher ganz ungekannten Zwecken dienten.

Wenn der Wanderer vormals seinen Stab auf fremde Erde setzte, so durfte er um eine Ruhestätte und Alles, was zur körperlichen Pflege gehört, keine Sorge tragen, denn in jedem Hause war er willkommen als ein Gast, an dessen Erzählungen und Berichten man sich erfreute und durch sie in Verbindung mit der Außenwelt trat. Er genoß die schönen und geheiligten Rechte der Gastfreundschaft, selbst die Glieder der Familie traten gegen ihn zurück, und wenn er den Fuß weiter setzte, so überhäufte man ihn mit Dank und den Gaben, deren er auf seiner Reise bedurfte. Die »Rechnung« war noch von keinem speculativen Columbus entdeckt worden, und die Schlußstrophe von Uhlands »Apfelbaum«


»Und frag ich nach der Schuldigkeit,
So schüttelt er den Wipfel;
Gesegnet sei er allezeit
Von Wurzel bis zum Gipfel!«

hatte in Beziehung auf die gastlichen Verhältnisse ihre vollste Bedeutung. Noch heut' giebt es abgelegene Gegenden, in denen dem Reisenden das Glück geboten ist, auf der »Vetterstraße« zu wandern und dasjenige Taschenmöbel zu schonen, von welchem Sophokles oder sonst einer der griechischen Classiker sagt:


»Ist dann der liebe Zahltag da,
So sind die Thalers flöten,
Der Beutel kriegt das Podagra
Und stickt in tausend Nöthen
Und ich bin ein geschlagner Mann,
Dem kein Chirurgus helfen kann.
O Jemine, o Jerum!«

Während aber in den erwähnten Zeiten und Gegenden die Zahl der Reisen den nur eine unbedeutende war und ist, befindet sich jetzt und innerhalb derjenigen Länder, die in den allgemeinen Verkehr gezogen sind, die eine Hälfte der Bewohnerschaft unterwegs, während die andere Hälfte entweder sich von einer zurückgelegten Tour ausruht oder schon wieder im Begriffe steht, die Reisetasche zu packen. Die gegenwärtigen Geschäftsverhältnisse erfordern ein tüchtiges Zusammen- und Durcheinanderschütteln der lieben Menschenkinder, und ebenso zahlreiche wie großartige Einrichtungen dienen einzig und allein nur dem Zwecke, dieses Zusammenschütteln zu erleichtern und ihm den größtmöglichen Umfang zu geben. Es kommt bei besonderen Veranlassungen vor, daß einem Orte[342] an einem einzigen Tage zehn, zwanzig und noch mehr Tausende von fremden Wandervögeln durch die Locomotive zugeführt werden, und es ist leicht einzusehen, daß es gar keines so monströsen Verkehres bedarf, um die alte patriarchalische Gastfreundschaft zu einem Dinge der Unmöglichkeit zu machen. Da ist denn nun dafür gesorgt, daß sich hier und da, hüben und drüben, an allen Ecken und Enden, wohin sich nur irgend eine hungrige, durstige oder ermüdete Menschenseele verirren kann, ein einladendes Zweiglein herausstreckt, ein verführerisches Schild mit der frommen Inschrift


»Mein Haus, das steht in Gottes Hand
Und wird ›zum weißen Roß‹ genannt«

schauen läßt oder gar ein stattliches Haus erhebt, welches seinen Namen »Hotel zur goldenen Bratwurst« in großen und glänzenden Lettern weithin blitzen läßt. Hier fluthet nun eine kleine Völkerwanderung vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen ein und aus, ißt, trinkt, liest Zeitungen, Journale und Gazetten, spielt, raucht, schläft, nimmt sich den geistreichen Sinnspruch:


»Die Rose riecht, der Dorn der sticht,
Wer gleich bezahlt, vergißt es nicht,«

welcher über der Thür des Gastzimmers angebracht ist, zu Herzen oder sucht die Bedeutung der egyptischen Hieroglyphe zu enträthseln, die dunkel und drohend von der Wand herunterblickt:


»Hier wird nicht gepumpt!«


O, ihr schönen und wohlfeilen Tage der Vergangenheit, an denen Methusalem mit seinem Esel vor dem ersten besten Zelte oder der ersten besten Hütte Halt machen und seinen Regenschirm zusammenklappen konnte, um ohne Paß und sonstiges Geschreibsel gemüthlich »unterzukriechen!« Ihr seligen Zeiten vom lieben Erzvater Isaak und Jacob, an denen man zu Rebecca trat mit der Bitte: »Neige Deinen Krug und gieb mir zu trinken!« oder Rahel bei dem Kopfe nahm und Kuß auf Kuß auf ihre vollen, mesopotamischen Lippen drückte. Ihr herrlichen Erfahrungen von Josua und Caleb, den beiden Kundschaftern, welche nach Bab Escol kamen, im Lande, da unverdünnte Milch und echter Bienenhonig fleußt, von keinem Droschkenkutscher geprellt, von keinem Kellner betrogen, mit keiner Fremdenbuchsinjurie beleidigt wurden und ohne Angst vor Arretur eine Traube abschnitten, die sie »alle Zween auf einem Stecken« tragen mußten! Wo seid ihr hin? Ach, verschwunden, verschwunden und vergangen auf Nimmerwiederkehr. Jetzt hat man kaum den Kopf durch die Thür gesteckt, so steht ein dicker Wirth vor Einem und fragt in einem Athem: »Wer sein mer denn? Woher kommen mer denn? Wohin wollen mer denn? Was betreiben mer denn? Wie lange bleiben mer denn? Haben mer denn auch Geld?« Oder wo diese Fragen nicht offen ausgesprochen werden, da liegen sie im Blicke, man sieht sich in die Gewalt der Bedienung gegeben, vom Oberjüngling bis herunter zum Knechte des Hauses, und wird durch tausenderlei Ungemüthlichkeiten zu der bedauerlichen Erkenntniß getrieben: »Daheim ist doch Daheim; bei Muttern ist's am Schönsten!«

Ja, die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Menschen sammt ihren Verhältnissen! Die Gegenwart bedarf der Häuser, welche dem wandernden Individuum ihre gastlichen Thore öffnen, und mit einem einfachen »Vergelts Euch Gott« ist es jetzt nicht mehr abgethan. Wer die Bequemlichkeit der Heimath auch in der Fremde nicht missen will, der muß sich auch die vollgeschriebenen und »theuren« Zettel gefallen lassen, an deren unterm Rande oftmals die Bemerkung steht: »Trinkgelder nach Belieben,« oder »Service gleich mit eingeschlossen!« Ein nordisches »Gastgifwaregärdar« oder ein südländisches Karawanserai ist billig zu beziehen, aber – sie sind auch darnach! Der Wirth einer spanischen oder südamerikanischen Venda macht schon einige Ansprüche, obgleich meist nur die vier nackten Wände geboten werden; wer aber das Vergnügen hat, eines jener Monstrehotels zu betreten, welche, wie in den Vereinigten Staaten oder auch einigen unserer europäischen Großstädte, dem Reisenden alles nur Menschenmögliche bieten, der muß auch gefaßt sein, höheren Ansprüchen gerecht zu werden.

[343]

[350] Mit unseren letzten Betrachtungen haben wir das Gebiet der »öffentlichen Häuser« betreten. Während das Haus eigentlich und ursprünglich als Schutz- und Sammelstätte für die Familie dienen soll, nimmt es Theil an dem Wachsthume und der Ausbreitung derselben und öffnet seine Thore dem öffentlichen Leben ebenso, wie die Familie sich öffnet, um dem gesellschaftlichen Leben Rechnung zu tragen.

Sobald der häusliche Kreis sich zur Gemeinde erweitert, treten bauliche Bedürfnisse ein, deren Befriedigung im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt liegt und zur Hebung sowohl der materiellen als auch geistigen Wohlfahrt dient. In erster Linie sind hier diejenigen Gebäude zu erwähnen, welche es mit der Bildung des inneren Menschen zu thun haben: Kirche und Schule.

Schon die Völker des Alterthums besaßen ihre Gotteshäuser, Tempel genannt (von dem lateinischen Worte Templum). Anfänglich allerdings hielt man die Gottesdienste in heiligen Hainen oder auf geweihten Plätzen, in und auf denen sich Altäre befanden. Sobald aber die Baukunst über die ersten Anfänge ihrer allmäligen Entwickelung hinaus war, wandte sie sich sofort zur Erbauung von Gebäuden, welche der Pflege religiöser Anschauungen dienten.

Die Tempel in Egypten zeigten einen einfach grandiosen Styl; Alleen von Widder- oder Sphinxkolossen bildeten den Zugang zu ihnen und vor dem Hauptgebäude standen gewöhnlich zwei Obelisken. Die irdischen Tempel sind von hohem Alter, und es reicht ihr Ursprung wohl bis 3000 Jahre vor Christo hinauf. Noch heut lassen ihre Ruinen die Riesenhaftigkeit bewundern, durch welche sie sich auszeichneten. Die Grottentempel bildeten oft ganze unterirdische Städte, und der aus schwarzem Felsen gehauene Elephant auf der Insel Elephanta z.B. enthält in seinem Innern einen Tempel von über 130 Fuß Länge.

Unter den Tempeln Vorderasiens ist der von Salomo zu Jerusalem erbaute am erwähnenswerthesten, an welchem volle sieben Jahre gebaut wurde. Die Bibel giebt eine ausführliche Beschreibung seiner Herrlichkeit. Im Jahre 587 vor Christo durch Nebucadnezar zerstört, wurde er unter Cyrus wieder aufgebaut. Bei der Zerstörung Jerusalems unter Titus wurde er mehr durch die Juden selbst als durch die Römer in Brand gesteckt. An seine Stelle baute im Jahre 644 nach Christi der Kalif Omar eine Moschee.

Die griechischen Tempel lassen sich in dorische, jonische und korinthische unterscheiden. Ihr Umfang war meist nicht groß, da sie bestimmt waren, nur den opfernden Priester mit seiner Begleitung aufzunehmen, und erhielten nur durch die Säulenhallen, in denen sich das Volk versammelte, eine größere Ausdehnung. Ihre Architectur ging später auf die römischen über. Die Germanen verehrten ihre Gottheiten zwar an freien Orten, doch finden sich bei den Deutschen auch Spuren alter Tempel, und in Skandinavien gab es Privatcapellen, welche nur dem häuslichen Gottesdienste gewidmet waren.

Die Tempel der Christen werden Kirchen genannt. Der Grundriß derselben war fast immer ein lateinisches oder griechisches Kreuz, doch jetzt hält man sich nicht mehr so streng an diese Figur. Eine nicht wesentliche aber fast allgemeine Verzierung der Kirchen sind die Kirchenthürme. Anfangs hatten die Christen keine Kirchen, sondern versammelten sich, so lange sie noch nicht von den Juden getrennt waren, in Tempeln und Synagogen, später in Privathäusern, und unter der Verfolgung in Höhlen oder an sonstigen verborgenen Orten. Erst im zweiten Jahrhunderte finden sich die ersten Spuren von Kirchen in unserem Sinne, und von da an mehrte sich ihre Zahl mit der Ausbreitung des Christenthums in der Weise, daß z.B. Rom im dritten Jahrhunderte schon 40 große Kirchen hatte. Jetzt hat fast ein jedes Dorf sein Gotteshaus.

Wollte man berechnen, welch' eine ungeheure Summe die Erbauung aller Tempel und Kirchen der Erde gekostet hat, so würde man auf ein Capital kommen, von welchem die ganze Menschheit auf eine geraume Weile ernährt und verpflegt werden könnte. Die Frage, ob diese ungeheuren Ausgaben mit dem Zwecke, welchen sie verfolgten, im Einklange stehen, muß unbedingt bejaht werden, ob aber dieser Zweck erreicht wurde, ob die auf dem Gebiete der Religion erzielten Erfolge in ein befriedigendes Verhältniß zu den Anstrengungen zu bringen sind, welche unsere Kirchenbauten erforderten, das ist eine schwer zu beantwortende Frage.

Wie viele kleine Ortschaften giebt es, besonders in südlichen Ländern, auf welche der stolze Thurm einer prachtvollen Kirche herabblickt, deren Erbauung viele Tausende gekostet hat, und um das »theure« Gotteshaus gruppiren sich einige Dutzend armseliger Hütten, die kaum den nothwendigen Schutz gegen die Unbilden der Witterung gewähren und deren Bewohner mit Noth und Sorge kämpfen. Die Häuser sind schadhaft, die Gärten verwahrlost, über die fast unwegbare Straße läuft der Abfluß der Düngerstellen und verbreitet seine Wohlgerüche bis in das Innere des kirchlichen Heiligthums. Hier wird der volkswirthschaftlich Gebildete sich denn doch vielleicht eines leisen Kopfschüttelns schuldig machen.

Eine allgemeine Erfahrung ist es, daß neben den Räumen, welche den heiligsten Zwecken gewidmet sind, sich gewöhnlich ein Häuslein erhebt, in dem man Gelegenheit hat, weniger ernsten Absichten nachzustreben. »Wo der liebe Gott ein Haus baut, da setzt der Teufel eine Hütte daneben,« sagt ein altes Sprüchwort, und es soll auch gar nicht geleugnet werden, daß zwischen den Kirchengängern einerseits und den Priestern des Bacchus und Gambrinus andererseits fast stets eine gewisse Anziehungskraft thätig ist.

[350] Diese Anziehungskraft wird trefflich illustrirt durch die Anekdote von jenem Herzoge von Braunschweig, bei dem der Pfarrer eines Dorfes sich beschwerte, daß er so wenig Kirchgänger habe, weil seine Bauern sich lieber in das Wirthshaus setzten, als sich an seiner Predigt erbauten. Der fromme und energische Landesvater beschloß, die Sache zu untersuchen und kam während des Gottesdienstes in das Dorf, ging in das Gasthaus und fand richtig fast alle Bauern um eine lange Tafel beim Biere sitzen. Ein großer Krug, welcher stets neu gefüllt wurde, sobald er den Boden zeigte, ging rundum; Jeder trank und gab ihn dem Nachbar mit der Aufforderung: »Gif's weiter!« Der Herzog setzte sich mit an die Tafel, aber als der Krug zu seinem Nebenmanne kam, drehte dieser ihm den Rücken zu, trank und reichte den Krug wieder zurück mit den Worten: »Prost, gif's wieder so 'num!« Das fuhr dem Herzog in die Nase, er erhob sich, gab sich zu erkennen und hielt nun den durstigen Leuten eine Rede, die sich gewaschen hatte, und deren Schluß ungefähr also lautete, daß sie des Sonntags in die Kirche gehörten, aber nicht in das Wirthshaus. Dabei holte er aus und langte seinem Nachbar zur Linken eine Ohrfeige, daß es schallte, und herrschte ihn dabei an: »Gif's weiter!« Wohl oder übel mußte der gute Mann Gehorsam leisten; die Ohrfeige ging mit dem Rufe: »Gif's weiter!« von Einem zum Anderen um die ganze Tafel herum und als sie an den Nachbar zur Rechten kam, der ihm vorhin den Schluck nicht gegönnt hatte, langte er ihm eine neue Auflage hinter die Ohren mit der Aufforderung: »Prost, gif's wieder so 'num!« Die Maulschelle wanderte also wieder zurück, und leider verschweigt die alte Chronik, wie oft sie noch »so 'rum« und »wieder so 'num« gegangen ist, das wird aber bestätigt, daß die Bauern von jetzt an sehr fleißig in die Kirche gegangen sind.

Wahr ist's, daß man in der Natur den Herrn ebenso verehren wie in der Kirche; aber dazu gehört ein Verständniß und ein Gemüth, wie es die Wenigsten besitzen. Die Kirche hat ihre volle Berechtigung, so lange ihre Ansprüche nicht störend in die geistige und wirthschaftliche Entwickelung des Volkes eingreifen. Die Güter, welche uns im Heiligthume gespendet werden, sind hoch und wichtig; sie lassen sich nicht mit der Hand erfassen und durch Maaß oder Gewicht bestimmen, aber man kann sie mit dem Herzen ergreifen, und ein solches Herz ist dann geschützt gegen den Schmutz und Staub des irdischen Lebens. Darum bekennt der alttestamentliche Dichter: »Herr, ich habe lieb die Stätte Deines Hauses und den Ort, da Deine Ehre wohnt,« oder er ruft mit sehnendem Herzen: »Eins bitte ich vom Herrn, das möchte ich gern: daß ich im Hause des Herrn bleiben möchte mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste und seinen Tempel zu besuchen!«

Wer hätte nicht jenes eigenthümliche Gefühl empfunden, welches das Kind beschleicht, wenn es um ersten Male die Kirche betritt! Und dieses Gefühl verläßt den Menschen nicht, so lange er lebt, selbst wenn er mit dem Glauben seiner Kinderjahre vollständig gebrochen hätte. Man sage nicht, daß es allein nur in der Art und Weise des Baues liege, solche andächtige und widerstandslose Empfänglichkeit zu erwecken, denn es giebt auch außerhalb des kirchlichen Gebietes ehrwürdige und mächtige Bauwerke, welche diesen Eindruck nicht hervorbringen; der Grund liegt vielmehr in dem Bande zwischen Vater und Kind, zwischen Schöpfer und Creatur, dessen Knoten tief im Innersten des Menschen geschlungen ist, und welches nie zerreißt, selbst dann nicht, wenn das schwache Geschöpf seinen allmächtigen Erzeuger verleugnet. Wem die Kirchenglocken ein einzig Mal erklungen sind, dem klingen sie fort, denn wie die friesische Sage erzählt, daß die Glocken der Dörfer, welche von den gefräßigen Fluthen der Nordsee verschlungen wurden, sich laut und deutlich hören lassen, sobald der Nebel droht, die Wogen sich ballen und der Sturm seine Verderben drohenden Schwingen erhebt, so läuten die Saiten des Herzens zum Gebete, wenn der irdische Boden zu wanken beginnt und die Brandung der Ewigkeit sich fern vernehmen läßt.

[351]

[358] In engster Beziehung zur Kirche hat seit jeher die Schule gestanden.

Wem fällt bei letzterem Worte nicht jener verhängnißvolle Tag ein, an welchem er von der fürsorglichen Mutter unter tröstlichem Zureden in jenes Haus geführt wurde, aus dessen geöffneten Fenstern während der wöchentlichen Singstunden die berühmten Compositionen


»Es tanzt ein Pu – Pa – Putzemann
In unserm Haus herum didum«
oder
»Wer meine Gans gestohlen hat,
Der ist ein Dieb,
Wer mir sie aber wiederbringt,
Den hab ich lieb«

in die Ohren der aufmerksam lauschenden Straßenjugend erschallten? Dem armen Schulbankcandidaten war so »duselig und gruselig« zu Muthe bei den Blicken, welche der Herr »Magister« über die Brillengläser hinweg ihm zuwarf; räthselhafte Gegenstände – riesige schwarze Tafeln, gigantische Lineäler, Besorgniß erregende Buchstabenkästen, Schwamm, Kreide, wandgroße Landkarten – blickten ihm entgegen, und dort auf dem Pulte lag auch jenes liebenswürdige Ruthengeflecht, von dem der Volkswitz singt:


»Der Hansjörg ist bekannt
In ganz Schlesingerland;
Wenn er gleich betrunken ist,
Hat er doch seinen Verstand«,

oder der ominöse Haselstock, dessen holdes Dasein den Dichter zu der anerkennenden Betrachtung begeistert:


»Trägt der Knabe seine ersten Hosen,
Steht schon ein Pedant im Hinterhalt,
Der ihn hudelt, ach, und ihm der großen
Römer Weisheit auf den Rücken malt.«

Dunkle Ahnungen stiegen in dem kleinen sechsjährigen Herzchen empor, und die beengenden Gefühle desselben machten sich erst in einem leise versuchenden Schluchzen und sodann in lautem Weinen Luft, welches allerdings beim Anblicke der gebräuchlichen und verheißungsvollen Zuckerdüte einem seligen Lächeln weichen mußte.

Dieses thränende Lächeln ist für eine ganze Reihe von Jahren des Lernens, ja, wohl für die ganze Lebenszeit von prophetischer Vorbedeutung gewesen. Ueber unser kurzes Dasein ziehen der Wolken gar viele, und die Lichtblicke des Glückes sind seltener, als der Sterbliche sie wünscht. Nur durch Arbeit gelangt er zu den Zielen, deren Erreichung der Zweck seines Lebens ist und ihm ermöglicht wird durch die Ausbildung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten, wie sie die Aufgabe der Schule ist.

Da die wenigsten Eltern die nöthigen Fähigkeiten und Kenntnisse besitzen, oder die Zeit haben, um ihren Kindern diejenigen Eigenschaften mitzutheilen, welche zur allgemeinen menschlichen Bildung sowohl, als auch zu ihrer künftigen Bestimmung nothwendig sind, so ist die Errichtung von Schulen eines der hervorragendsten Bedürfnisse, und dem Staate, welcher die Verpflichtung hat, seine Angehörigen zu tüchtigen Menschen und Bürgern zu bilden, ist die Aufgabe ertheilt, für Gründung, Erhaltung und Verbesserung der Schulen nach besten Kräften zu sorgen.

Oeffentliche Anstalten zu einer geordneten Jugendbildung entstanden erst mit der fortschreitenden Entwickelung der Menschen, und in den ältesten Zeiten war der Besuch der Schulen ein Vorrecht für besondere Stände, während das eigentliche Volk davon ausgeschlossen blieb; so in Indien, China, in Babylon, bei den Chaldäern und Medern, Egyptern, Juden, Griechen und Römern. Bei den germanischen Völkern gab es keine Schulen.

Das Christenthum leitete eine neue Epoche des Schulwesens ein. Seinem ganzen Geiste und seiner Tendenz nach mußte es die innere Ausbildung aller Menschen bezwecken, und so geschah es, daß mit der Anstalt der christlichen Kirche allenthalben Schulen verbunden wurden, aus denen sich das entwickelte, was wir die eigentliche Volksschule nennen. Christus selbst sammt seinen Aposteln gehörte dem Volke an, und seine Lehre erstreckte sich nicht nur auf die Erwachsenen, sondern drang bald auch in die jugendlichen Kreise. Die erste christliche Knabenschule gründete der Presbyter Protogenes gegen Ende des zweiten Jahrhunderts zu Edessa. Jetzt hat auch der geringste, der abgelegenste Ort seine Schule, und es giebt keinen sicherern Gradmesser für den Bildungszustand eines Volkes, als den Stand seiner Schulen und die Aufmerksamkeit, welche den letzteren von Seiten des Staates gewidmet wird.

Von den Volksschulen sind die Fach- und Gelehrtenschulen zu unterscheiden, welche höhere oder enger begrenzte Zwecke verfolgen als die ersteren.

Eine ähnliche Aufgabe, wie die der Schulen, wird in denjenigen Häusern verfolgt, welche der zwangsweisen Erziehung, der Besserung gewidmet sind. Hier berühren wir einen wunden Punkt in dem Körper der menschlichen Gesellschaft, dessen Heilung trotz aller Anstrengung erfolglos erstrebt worden ist. Die Sünde, das Verbrechen frißt wie ein böses Geschwür an der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Nationen, und die Strafgesetzgebungen werden fast von Jahr zu Jahr paragraphenreicher. Wer die Geschichte dieser Gesetzgebungen schreiben wollte, müßte seine Feder in Jammer tauchen und dennoch würde es ihm nicht gelingen, ein treffendes Bild jenes Elendes zu entwerfen, welche sich wie ein Sumpf zu beiden Seiten der menschlichen Irrwege dahinzieht.

Aber warum betritt der denkende Mensch diese Wege? Der Denkende? nein, der irrig Denkende betritt sie, und eine Anklage darf sich weniger gegen ihn als vielmehr gegen diejenigen [358] Umstände und Verhältnisse richten, durch welche er irre geleitet wurde. Darum betrachtet der Gesetzgeber der Gegenwart den Verirrten nicht mehr als ein aus der Gesellschaft gestoßenes wildes Thier, sondern als einen durch falsche Erziehung Mißgeleiteten, welcher durch die Sühne zur Besserung geführt werden soll.

»Dunkle Häuser« nennt Gustav Rasch die Anstalten, welche den Uebertretern des elften Gebotes: »Du sollst Dich nicht erwischen lassen« zum Aufenthalte dienen; aber es wird heller und lichter hinter den Mauern; die eisernen Gitterstäbe sind schon längst nicht mehr die Sinnbilder einer ausgesprochenen Hoffnungslosigkeit, und wenn das Thor sich öffnet, so geht gar mancher brauchbare Mensch daraus hervor, welcher mit einer beklagenswerthen Vergangenheit abgeschlossen hat, um einer besseren und schuldfreien Zukunft zu leben. Möchte doch auch das Vorurtheil nach und nach schwinden, welches sich solchen Leuten oft so gewaltig hindernd in den neubetretenen Weg stellt!

Weit, sehr weit würde es uns führen, wenn wir auch nur einen oberflächlichen Blick auf all' die Häuser werfen wollten, welche anderen als familiären Zwecken dienen. Ihre Zahl ist Legion. Bald ist ihre Firma eine friedliche, bald eine kriegerische, bald treten sie anspruchsvoll an die Oeffentlichkeit, bald ziehen sie sich bescheiden in die Verborgenheit zurück, bald schwingt in ihnen der Segen sein fruchtbringendes Scepter, bald brütet der Fluch in ihren finsteren, schmutzigen Winkeln; kehren wir zurück zur traulichen, heimischen Stätte, deren Fenster hell und einladend im Strahle der untergehenden Sonne flimmern, und wo uns ein freundlich Häuslein winkt, da wohnt gewiß auch freundlicher Sinn und offene Herzlichkeit unter seinem Dache, denn wie der Teich, so der Frosch, wie das Loch, so die Maus, wie die Höhle, so der Bär, und wie das Haus, so der Mensch.

Das scheint sehr viel behauptet zu sein, und doch ist's wahr.

Der stolze Aristokrat, welcher sich hoch erhaben dünkt über dem Manne des arbeitenden Volkes, wo baut er sein Haus hin? Hinauf auf die Spitze des Berges. Gleicht es nicht ihm selbst? Unzugänglich ist der Felsen, auf welchem es steht – unzugänglich ist der Stolz seines Besitzers. Millionen hat es gekostet, den Prachtbau zu errichten – wieviel Lebenskraft haben wohl die Wurzeln, Aeste und Zweige eines einzigen Geschlechtes dem ährentragenden Felde, dem arbeitenden Volke entzogen? Hoch erhebt es seine Zinnen, dem Sturme Trotz bietend – auf den höchsten Stufen der Gesellschaft bewegt sich der Bevorzugte, und doch – der Sturm der Zeit hat manche Burg zertrümmert und manchen Stammbaum in den Staub gelegt.

Der nach Gewinn strebende Geschäftsmensch, wie baut er? Dunkle Speicher füllen ein breites Areal – dunkel wie so manches Geschäft ist, und breit, wie sich ihr Besitzer macht. Thüren und Fenster gehen nach innen, außen starrt die nackte Wand – der Egoismus schließt sich ab und ist nach außen hin sowohl im Worte als auch in der That ohne Mittheilsamkeit. Riesige Fabrikräume erheben sich oder strecken sich in die Länge; schwarz und schmutzig legt der Rauch seine Spuren an ihre Mauern; nur der Arbeit gewidmet, entbehren die Säle und Zimmer aller auf Ruhe und Bequemlichkeit deutenden Einrichtungen – so auch der Besitzer. Der Arbeitsdrang baut sein Project in die Höhe oder Breite; die Realität des alltäglichen Lebens gebietet über seine Gedanken und Gefühle, und ruhelos treiben ihn seine Pläne durch ein Dasein, welches nur selten von höheren Rücksichten erleuchtet und verschönert wird.

So baut ein Jeder nach seiner Absicht, seinem Gusto, der Reiche anders als der Arme, der Hochmüthige anders als der Demüthige, der Prahler anders als der Bescheidene, und sollte das Aeußere eines Hauses nicht mit Sicherheit auf den Character seiner Bewohner schließen lassen, so wird dieser Schluß nach einem Blicke auf das Innere sehr bald zu ziehen sein.

Es ist mit der Wohnung fast ebenso wie mit einem Menschenangesichte. Man begegnet irgend Jemandem, den man noch nie gesehen und der Einem auch nie Etwas zu Leide gethan hat, und doch fühlt man sofort, daß man ihm nie Liebe und Vertrauen schenken könnte, ja, es zuckt Einem vielleicht gar in der Hand, als wünsche sie unwillkürlich, mit seinem Gesichte in Berührung zu kommen. Saphir nennt solche Gesichter sehr bezeichnend »Ohrfeigengesichter«. Und ebenso kommt man mit einem vollständig Unbekannten zusammen, mit dem man noch nie ein Wort gewechselt, noch nie etwa Gutes von ihm gehört oder an sich selbst erfahren hat, und doch fühlt man sich zu ihm hingezogen und möchte ihm gleich vom ersten Augenblicke an nur Freundlichkeit und Liebe erweisen. – Ebenso betritt man eine Wohnung, in der man noch nie gewesen ist; man kennt weder ihre Einrichtung noch den täglichen Verlauf der wirthschaftlichen Vorkommnisse, und doch weiß man sofort: hier ist nicht gut sein; adieu Madame, ich und das Zimmer und vielleicht auch ich und Sie, wir passen nicht zusammen. Oder man sieht sich eine Stube an und erkennt auf den ersten Blick, daß es sich hier ganz ausgezeichnet wohnen müsse; es kommt Einem Alles so anheimelnd, so traulich vor, es ist, als hätte man das Alles schon längst gehabt und mit gemüthlicher Bequemlichkeit genossen, und ehe man sich's selbst versieht, hat man den apostolischen Entschluß gefaßt: Herr, hier wollen wir Hütten bauen.

[359]

[366] Das Wort Haus erscheint in sehr zahlreichen Zusammenstellungen mit anderen Wörtern und hat auch an für sich eine gar verschiedene Bedeutung.

Hauswirth, Hausherr, Hausfrau, Hausmann, Hausknecht, Hauszwist, Hausfriede, Hausgeräth, Haushaltung, Hausrath, das sind so einige von den erwähnten Wortverbindungen, keine von ihnen aber ist von einer so hohen Wichtigkeit, keine von ihnen greift so tief in die verschwiegenen und zarten Verhältnisse des Privatlebens ein, wie die drei Silben »Hausschlüssel.«

Welch eine Fülle von guten und schlimmen, ernsten und heiteren, glücklichen und schauderhaften Erinnerungen dieses inhaltsschwere Wort zu erwecken vermag, das weiß ein Jeder, sei er nun jung oder alt, »behauskreuzt« oder unbeweibt, und wenn die Hausschlüssel reden oder gar schreiben könnten, so würde in kurzer Zeit die Welt von einer wahren Sturmfluth von offenbarten häuslichen Geheimnissen überschwemmt werden, welche Jedermann zur Warnung, Abschreckung und – Nachahmung dienen könnten.


»Wer nie zu lang im Wirthshaus saß,
Wer nie durchklapperte des Winters Nächte,
Weil er den Passepartout vergaß,
Der kennt euch nicht, ihr Schicksalsmächte!«

Da die menschliche Wohnung den ursprünglichen Zweck hatte, die Glieder einer Familie zu vereinigen, so wird das Wort Haus oft gleichbedeutend mit Familie gebraucht. »Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen,« lautet in dieser Beziehung ein bekannter biblischer Ausspruch. Eine weitere Bedeutung bekommt das Wort, indem es im Sinne des »Geschlechtes« gebraucht wird und alle Neben- Seitenverwandten der Familie mit ihren Ahnen bis zurück auf den Stammvater umfaßt. »Das Haus Wlfe, das Haus Bourbon etc. hat aufgehört zu regieren!« lauteten die Dictate Bonaparte's, dem nachher selbst die Strophe gedichtet wurde:


»Und zu derselben Stunde
Schließt auch das Grab sich schon;
Das war die letzte Stunde
Vom Haus Napoleon!«

Solch' ein Geschlecht, solch' ein Haus hat oft eine ganz bedeutende politische, ja weltgeschichtliche Aufgabe zu erfüllen; die Traditionen erben von Glied zu Glied immer weiter fort, und jedes neu hervorsprossende Reis des gewaltigen Baumes sucht Blüthen und Früchte zu treiben. Mit den Kräften wachsen auch die Ziele, und wo das Kind an dem geistigen Vermächtnisse des Vaters hält und demselben die jeweiligen Verhältnisse dienstbar zu machen sucht, da erstarkt der Stamm selbst auf sonst unfruchtbarem Boden, und es wachsen jene kraftvollen Dynastieen heran, von welchen diejenige der Hohenzollern ein lautzeugendes Beispiel ist.

Auch die Bildersprache hat sich des Wortes Haus bemächtigt, wie man sich zum Oefteren überzeugen kann. »Du bist ein altes, gutes, treues Haus!« hört man zuweilen sagen, und es ist diese Redensart keine gedankenlose, denn man will damit im Character eines Menschen diejenige Traulichkeit und Gemüthlichkeit andeuten, welche vorzugsweise Eigenschaften solcher Wohnungen sind, deren Behaglichkeit mit dem Alter gewachsen ist.

»Haus und Hof,« denn zu einem Hause gehört ein Hof, und wer's möglich machen oder erschwingen kann, der hängt auch noch ein Gärtchen d'ran, von wegen der Zwiebeln und Petersilie für die »theure« Hausfrau, oder auch um etwas Levkoj und Reseda zu »erbauen.« So ein Blumen- und Gemüsegärtchen bietet der Annehmlichkeiten gar viele, und wer's nun gar noch zu einem Rettigsbirnen- und Franzapfelbaume bringt, der ist schier zu beneiden.

So ist's in der Stadt. Auf dem Lande freilich sind die Verhältnisse anders; da nehmen die Höfe ganz andere Dimensionen an, und die Gärten dehnen sich oft über sehr bedeutende Areale. Daß hier der Hof von größerer Bedeutung ist, beweisen die Bezeichnungen Pachthof, Bauernhof etc., und sehr oft wird die ganze Besitzung nach dem Namen ihres Inhabers Ruppertshof, Uhligshof, Petershof oder in Beziehung auf sonstige Umstände Teichhof, Berghof, Lindenhof, Tannenhof etc. genannt.

Daß der Hof nicht eine zufällige Einrichtung ist, sondern einer Naturnothwendigkeit entspricht, beweist der Umstand, daß sogar der Mond einen hat, und wer die Einrichtung desselben kennen lernen will, der mag sich nur getrost direct an den alten Nachtschwärmer selber wenden, weil der jedenfalls die beste Auskunft darüber geben kann. Dem haben es jedenfalls die Kaiser, Könige, Herzöge, Fürsten, Grafen und sonstigen großen Herren abgelauscht, die sich mit einem Hofe umgeben, dessen Glanz und Pracht oft mit recht elegischem Schimmer in den Säckel gewisser Nichthöfler hineinleuchtet. So ein Hof ist etwas gar grausam Vornehmes, und wer die Erlaubniß bekommt, sich »Hofzweckenschmied« oder »Hofwichslieferant« zu nennen und zu schreiben, der darf ohne Bedenken sich an die Brust schlagen und ausrufen: »Gott Lob, ich bin ein großer, ein gemachter Mann!«

Wer da etwa glaubt, daß man unter einem Hofe nur so ein prosaisches Ding zu verstehen habe, auf welchem die Frau Nachbarin ihre Wäsche trocknet und ihre Kartoffeln putzt, der mag sich einmal erklären lassen, was es heißt, irgend Jemandem »den Hof machen.« Ob diese bildliche Redeweise von dem französischen cours d'amour abzuleiten ist, oder ob man das dabei zu beobachtende Gebahren dem befiederten Sultan abgelauscht hat, welcher, mit dem rothen Fez auf dem Haupte und den Rittersporen an den Füßen, mit herablassender Würde oder cavaliermäßiger Tournüre sich um die Gunst seiner gackernden Huldinnen bewirbt, das [366] haben die Gelehrten noch nicht entschieden. Soviel aber ist gewiß, daß sich gar manch Eine den Hof gern machen ließe, aber es ist ein großer Fehler dabei, nämlich der, daß sich Keiner dazu finden will. –

Haus und Hof, beide gehören zusammen und ergänzen sich bei der Befriedigung derjenigen Ansprüche, welche der Mensch an seine Wohnung etc. macht. Daher ist es kein Wunder, wenn man das Eine oft für das Andere gebraucht und z.B. statt Gasthaus Gasthof, statt Pack- und Schlachthaus Pack- und Schlachthof sagt. Selten wohl wird es ein Haus geben, welches wirklich keinen Hof aufzuweisen hätte, haben doch sogar diejenigen Häuser, welche der Freiheitsentziehung gewidmet sind, die Gefängnisse, ihre Höfe, durch welche es den Insassen ermöglicht ist, zuweilen auf liebevolles Commando »in Ostra's Schattenau sich zu ergehn.«

Auch die hervorragendsten unter allen Häusern, die »Gotteshäuser«, haben oder vielmehr hatten ihre Höfe. Die religiöse Pietät umgab die Kirchenplätze gern mit Mauern, zwischen denen die entschlafenen Erdenwanderer zur Ruhe bestattet wurden. Ihr erster Lebensgang hatte zur Kirche geführt, wie Schiller in seiner »Glocke« sagt:


»Denn mit der Freude Feierklange
Begrüßt sie das geliebte Kind
Auf seines Lebens erstem Gange,
Den es in Schlafes Arm beginnt;«

jeder bedeutende Moment ihres Daseins rief sie in das Gotteshaus, dessen eherne Zungen ihnen auch zum letzten Valet läuteten, und so versammelte man die Hüllen der Abgeschiedenen an dem Orte, an welchen ihren unsterblichen Seelen der Weg empor zum Himmel gewiesen worden war. Die Gegenwart mit ihren auf das Praktische gerichteten Bestrebungen hat trotz aller Achtung vor den religiösen Traditionen erkannt, daß die ewige Seligkeit nicht durch die Schmälerung irdischer Rechte erhöht werden könne, und eines der hervorragendsten unter diesen Rechten bezieht sich auf die Gesundheit des Körpers, welche durch die Miasmen der Fäulniß arg geschädigt wird. Deshalb greift die Sanitätspolizei mit unnachsichtlicher Hand hinein in die alten Gebräuche, um Dasjenige zu entfernen, was dem körperlichen Wohlbefinden schädlich ist. Man möge den häßlichen Prozeß der Verwesung immerhin durch blumengeschmückte Hügel dem Auge entziehen, aber man lasse diesen gesundheitswidrigen Vorgang nicht inmitten reichbevölkerter Orte stattfinden, wie es bisher der Fall war. Der Ort der letzten Ruhe soll fortan nicht ein am Gotteshause liegender »Kirchhof«, sondern ein im Freien befindlicher »Gottesacker« sein, zu dem die Frömmigkeit ihre Schritte lenkt, um Zeuge jener großen Erndte zu sein, deren Garben ihre Früchte für das Jenseits spenden.

Hier sind in »Haus und Hof« unsere Betrachtungen an dem Punkte angekommen, von welchem sie ausgingen, an dem Punkte, wo »Himmel und Erde« sich vereinen, einen unsterblichen Geist für kurze Zeit in irdische Gewandung zu hüllen, um ihn zum Erklimmen einer höheren Daseinsstufe zu befähigen. Im Gottes-»Hause« vernahm er die Kunde seiner himmlischen Abstammung, und dem Kirch-»Hofe« übergab er das vom Staube geliehene Kleid, um den freien Flug über die Berge hinweg zu lenken, deren Spitzen im Morgenrothe einer anderen Welt erglühen.

Der Tod ist nicht ein Aufhören alles Lebens, sondern nur der Uebergang aus einer Daseinsform in die andere. Ist diese andere eine höhere, eine beglückendere? Die Bibel beantwortet diese Frage mit den Worten:

»Der Geist spricht: Ihre Werke folgen ihnen nach!«

[367]

[Fußnoten]

1 »Mich beißt Etwas, was mag das sein?«

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TextGrid Repository (2012). May, Karl. Aufsätze, Reden, offene Briefe und Sonstiges. Geographische Predigten. Geographische Predigten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2E9E-E