[741] Nach Sibirien. Von Emma Pollmer
Von Emma Pollmer

1. Der Diamantenraub

1.

Der Diamantenraub

Es war das prächtigste Haus von Ustjug Weliki, welches die alte, fromme Gräfin von Smirnoff mit ihrer wunderschönen Tochter Paulowna bewohnte, und die schwer solide Einrichtung dieses gräflichen Hauses war ganz geeignet, ein sprechendes Zeugniß von dem unerschöflichen Reichthume der beiden Damen zu geben.

Der Sommer neigte sich zur Rüste, und der Herbst begann, mit seinem Früchtesegen die Aeste und Zweige der Obstbäume zu beschweren, so daß sie sich tief herab zur Erde beugten und, um nicht zu brechen, fester Stützen bedurften. Paulowna promenirte in den Gängen des hinter dem Hause gelegenen Gartens. An ihrer Seite schritt ein Mann, welcher sich bemühte, sie mit einem angelegentlichen Gespräche zu fesseln.

Er mochte am Ende oder am Anfange der dreißiger Jahre stehen, war groß, kräftig und schlank gebaut, hatte eine Adlernase, vielleicht nur ein wenig zu aristokratisch lang, einen etwas scharfen Blick, eine hohe, breite Stirn, frische, volle Lippen, und glänzend schwarzes Haar. Es war ein schöner Mann, aber er machte nicht den Eindruck eines angenehmen Mannes, nicht etwa, als wenn er ein schöner Mann gewesen wäre, von dem man hätte sagen müssen, er sei eben nichts als ein schöner Mann, im Gegentheile, es lag vielleicht nur zu viel Geist und Kraft in diesem Gesichte. Aber allerdings konnte man sich nicht klar werden, ob ein gewisser, allzustark hervortretender Zug des Bewußtseins geistiger Ueberlegenheit, oder ein nicht zu verkennender Ausdruck von Spott, oder ein zugleich lauernder und durchbohrender Blick der schwarzen Auges, ober was sonst dem Gesichte den Eindruck des Unbehaglichen, um nicht geradezu zu sagen, des Unheimlichen verlieh.

Es war der Oberst Graf Milanow, von dem man sich erzählte, er sei der erklärte Günstling des Zaaren und – in seinen Vermögensverhältnissen so derangirt, daß er Mühe habe, sich dem Drängen seiner unzähligen Gläubiger zu entziehen. Wäre seine fromme Tante, die Gräfin Smirnoff, ohne Erbin gewesen, so hätte ihm deren Hinterlassenschaft einst zufallen müssen; da dieser Weg der Rettung ihm aber nicht zu Gebote stand, so befand er sich gegenwärtig auf Urlaub bei ihr, um seinem Glücke auf eine andere Weise unter die Arme zu greifen: er befand sich im besten Zuge, Paulowna zu erklären, daß er ohne sie und ihre Gegenliebe nicht zu leben vermöge.

Sie hatte ihr kleines, weißes Händchen auf seinen Arm gelegt und hörte ihn mit einer Miene an, die so still, so unbeweglich war, daß man hätte meinen sollen, der Gegenstand ihres Gespräches sei ein profaner, so alltäglicher, daß es sich nicht der Mühe verlohne, darüber auch nur eine Wimper zu zucken.

»Wie gesagt, theures Cousinchen, ich sterbe vor Begierde, Dich als mein ewiges Eigenthum betrachten zu dürfen. Soll ich mit Mama sprechen?«

»Sage vorher, mein theurer Cousin, wie viele Minuten die Ewigkeit eines Offiziers zu dauern pflegt?«

»Du scherzest, bei einer so hochwichtigen Veranlassung, Paulowna?«

»Sind Eure Ewigkeiten wirklich so sehr wichtig? Mir sind sie, aufrichtig gestanden, zu kurz, und daher scheint es mir übel gethan zu sein, die dauernde, wenn auch ruhige Zuneigung eines liebenswürdigen Vetters mit der bald verlöschenden Flamme eines nach Abwechselug strebenden Anbeters umzutauschen.«

»Du behauptest, daß ich veränderlich sei?«

»Nichts Anderes. Ich kenne Dich; ich kenne Euer bewegtes Leben am Hofe und fühle in mir nicht die geringste Begabung für das Interessante und Abenteuerliche. Ich werde Deine Ansprüche nie befriedigen können und trete das Glück, welches Du mir bietest, an eine Würdigere ab.«

»Ist dies Deine feste Entschließung, Paulowna?«

»Meine feste. Es wäre mir lieb gewesen, Du hättest sie errathen, als mich zur Mittheilung derselben zu veranlassen.«

Er antwortete nicht, aber aus seinem dunklen Auge zuckte ein Blitz auf sie hernieder, der ganz geeignet war, ihr Besorgniß einzuflößen, wenn sie ihn bemerkt hätte.

Ein Zeitlang noch schritten sie schweigend neben einander her; dann verabschiedete sich Paulowna, um die Mutter aufzusuchen, der Graf aber schritt dem hinteren Theile des Gartens zu, welcher von dichtem Gebüsch bestanden war. Kaum hatte er das Dickicht erreicht, so ertönte aus demselben der krächzende Ruf eines Kolkraben. Er klatschte leicht in die Hände, und sofort drängte sich zwischen den Zweigen ein junger, schmächtiger Mann hervor, aus dessen Zügen die verkörperte List und Verschlagenheit zu lesen war.

»Alles besorgt, Iwan?«

»Alles, Herr.«

»Den Brief geschrieben?«

»Ja.«

»Und abgegeben?«

»Auch.«

»In der neuen Livree?«

»Die mir ganz vortrefflich paßt,« nickte der Gefragte.

»Du verstehst Dich auf das Frisiren?«

»Ausgezeichnet.«

»Das Fräulein wird der Gräfin ähnlich sehen?«

»Vollständig.«

»Du hast alles Nöthige bei Dir?«

[741] »Es fehlt nicht das Geringste.«

»Und Du kennst die Pforte, welche vom Garten direct in den Keller führt?«

»Die Nachschlüssel waren schon gestern fertig. Ich habe mir heut Nacht jeden Winkel des Hauses ganz genau betrachtet.«

»Gut, so geh an Deinen Posten. Für Eure Sicherheit werde ich die beste Sorge tragen. Du bist in Petersburg der Polizei entsprungen. Gelingt der Streich, erhältst Du von mir eine hinreichende Summe, im Auslande zu verschwinden; gelingt er aber nicht, so liefere ich Dich zurück und Du bist verloren.«

Es war Iwan Wessalowitsch, der berüchtigte Petersburger Gauner. Er verbeugte sich mit slavischer Demuth vor dem Günstling des Kaisers, bei dem er, der Verbrecher, Zuflucht gefunden hatte, und verschwand dann lautlos wieder im Gebüsch.

Der Graf kehrte langsam in das Wohnhaus zurück und ließ sich bei der Gräfin Mutter melden, um ihr seinen Morgengruß darzubringen. Sie empfing ihn mit jener conventionellen Freundlichkeit, welche man für entfernte Verwandte zu haben pflegt, ohne ihnen weitere Rechte einzuräumen. Er schien diese Zurückhaltung, welche die alte, solide Dame dem verschwenderischen Neffen gegenüber zeigen zu müssen glaubte, nicht zu bemerken und nahm an einem der Fenster Platz, um der Vorlesung, die er unterbrochen hatte, scheinbar aufmerksam zuzuhören.

Die Gesellschafterin der Gräfin, ein junges Mädchen von derjenigen Schönheit, welche einen meist nur vorübergehenden, aber desto glühenderen Eindruck zu machen pflegt, las mit wohlklingender, salbungsvoller Stimme aus einer prachtvoll gebundenen Heiligenlegende vor, die gewöhnliche Lectüre der Gräfin, und es erforderte einen so ausgezeichneten Menschenkenner, wie der Graf es war, um hinter den gläubig frommen, kindlich einfältigen Zügen des schönen Wesens Etwas zu vermuthen, was mehr auf den Genuß des irdischen Lebens als auf den Gewinn der einstigen Seligkeit gerichtet war.

»Bis hierher, meine gute Wanka,« meinte endlich bei einem Abschnitte die Gräfin. »Lege Dir das Zeichen ein, damit wir diese herrliche Geschichte morgen nicht verfehlen. Findest Du sie nicht auch außerordentlich tröstlich für die Leiden dieses Daseins? Der Herr ist allezeit bei uns mit seiner Hülfe und thut Großes über unser schwaches Verstehen, wenn wir ihn im rechten Glauben darum bitten.«

»So ist es, meine gnädige Gräfin,« antwortete das Mädchen mit einem unwiderstehlich innig reinen Aufschlage ihres seelenvollen Auges. »Der Herr erhalte Ihnen dies selige Gottvertrauen in der Einsamkeit, die meine schwache Kraft vergebens Ihnen zu erleichtern sucht!«

»Ich danke Dir, mein liebes Kind! Leider hast Du Recht. Meine Tochter ist leider dem Wege des Heils entfremdet und nimmt nur ungern Theil an unsern religiösen Uebungen. Bis jetzt haben alle meine Gebete nichts gefruchtet, das verlorene Schäflein dem treuen Hirten wieder zu gewinnen, aber mit Deiner Hülfe wird es noch gelingen. Laß uns nur zusammenhalten in Bitten und Flehen, dann wird der Herr uns noch mit seiner Hülfe begnadigen. Jetzt aber ist es Zeit, zur Kirche zu fahren. Heut ist es an Dir, unsre täglichen Krankenbesuche zu machen.«

Mit einem gnädigen Neigen ihres Kopfes verließ sie das Zimmer. Mit einigen raschen, leisen Schritten stand der Graf vor der Gesellschafterin.

»Wanka, einen Kuß!«

Sie bot ihm lächelnd die vollen, rothen Lippen. Er zog sie fest an sich und küßte sie wiederholt.

»Du bist ein listiger Satan, Wanka! Hast Du noch Muth?«

Ihr Auge blitzte jetzt ganz anders, als es vorher geblickt hatte.

»Muth? Pah! Ist Alles vorbereitet?«

»Alles.«

»Und mein Antheil?«

»Wird Dir noch heut ausgezahlt.«

»Dann vorwärts! Ich habe für die Alte den Wagen zu bestellen; ich für mein Theil aber verzichte auf einen solchen. Demuth erhöht die Werke der Liebe.«

Es war ein höhnisches und zugleich schadenfrohes Lachen, welches ihre schönen Züge entstellte.

»So geh. Ich werde die Dienerschaft beschäftigen, bis der Coup gelungen ist.«

[742]

[757] Wanka ging in ihr Zimmer, zog sich zum Ausgehen an und verließ in demselben Augenblicke das Haus, an welchem die Gräfin in den Wagen stieg. Einige Zeit lang die Straße verfolgend, bog sie sodann in ein schmales Seitengäßchen ein, welches hinter den Gärten dahinführte. Bald gelangte sie an ein kleines Pförtchen, welches sie passierte und hinter sich verschloß. Sie befand sich im Garten des gräflichen Hauses.

»Wanka!« flüsterte es neben ihr im Busche.

»Iwan!«

Er trat hervor, faßte sie bei der Hand und zog sie, immer gedeckt von den Zweigen, fort bis an die Kellerthür. Er öffnete diese mit dem Nachschlüssel und zog sie durch Keller, Flur und über die Treppe, bis wieder in ihr Zimmer zurück, welches sie unbemerkt erreichten. Hier öffnete er das Paquet, welches er unter dem Arme mitgebracht hatte. Es enthielt eine Perrücke, Locken, eine falsche Nase und verschiedene Büchsen und Schächtelchen.

»Schnell, setze Dich. Wir haben nur noch zehn Minuten Frist.«

Sie nahm auf einem Stuhle Platz, und unter seinen kunstfertigen Händen hatte sie sich bald in eine alte Dame verwandelt, welche bei einigermaßen schwacher Beleuchtung recht gut für die Gräfin gehalten werden konnte.

»Nun das Kleid.«

Sie eilten in das Boudoir der Gräfin. Wanka legte ein seidenes Kleid derselben an und Iwan warf sich in eine Livree, welche sein Packet noch enthalten hatte. Dann stellte er sich an das Fenster, um durch die feinen Gardinen die Straße zu beobachten.

»Bisher ging Alles ganz vortrefflich,« meinte das Mädchen. »Die Hauptsache ist, daß der Graf die Domestiken beschäftigt.«

»Trage um ihn nur keine Sorge. Es ist ja in seinem eigenen Interesse, daß er sein Möglichstes thut.«

»Und das gnädige Fräulein? Wenn sie uns überrascht!«

»Auch daran habe ich gedacht; aber sie ist unschädlich. Der Deutsche ist bei ihr.«

»Wirklich?«

»Ich sah ihn kommen.«

»Dann werden sie so in die Zärtlichkeiten vertieft sein, daß sie für nichts mehr Augen und Ohren besitzen. Aber schau, da kommt der Juwelier. Rasch an die Thür, Iwan, daß er nicht klingelt!«

Leise, kaum hörbare Schritte ließen sich einige Augenblicke später auf dem mit einem dicken Teppiche belegten Vorsaale bemerken. Der Diener trat in das Vorzimmer, hinter ihm ein Herr, welcher einen kleinen Miniaturkoffer trug.

»Ich werde Sie sofort anmelden!« meinte der Erstere, indem er im Sprechzimmer verschwand.

Als er zurückkehrte, winkte er dem Juwelier zum Eintreten. Dieser sah sich der Gräfin gegenüber. Mit einer tiefen Verbeugung trat er auf sie zu.

»Gnädige Frau hatten heut die Güte, durch Dero Diener mir ein Billet zu handen zu stellen, in welchem – –«

»In welchem ich Sie ersuchte,« fiel sie ihm strafend, daß er die Unterredung begonnen habe, in das Wort, »mir Einiges von Ihren Vorräthen zur Ansicht zu bringen. Ich bin nämlich in der Lage, Ihnen mittheilen zu können, daß meine Tochter sich in nächster Zeit verheirathen wird, eine dringende Veranlassung für mich, Ihre kunstfertige Hand in Anspruch zu nehmen. Leider verhinderte mich ein kleines Unwohlsein, Sie in Ihrem Atelier aufzusuchen, daher sandte ich Ihnen mein Billet mit dem Wunsche, Sie bei mir zu sehen.«

»Dieser Wunsch war mir Befehl. Ich habe das Beste ausgelesen, um es Hoheit vorzulegen.«

»So kommen Sie!«

Sie führte ihn in das abgelegene Boudoir. Er merkte nicht, daß der Diener ihm leise durch die sammetnen Portièren folgte, und öffnete das Kofferchen. Kaum aber war dies geschehen, so erhielt er einen Schlag über den Kopf, daß er sofort besinnungslos zu Boden stürzte. Iwan beugte sich über ihn.

»Gut getroffen! Herunter mit der Maske. Dort steht die Waschtoilette!«

Er vertauschte die Livree im Handumdrehen mit seinem vorigen Anzug und half dann Wanka bei dem Reinigen ihres von den verschiedensten Farbestoffen entstellten Gesichtes.

»Nun fort, und zwar schnell. Du mußt zu Deinen Kranken, um nöthigen Falls Dein Alibi beweisen zu können!«

Sie verließen das Haus auf demselben Wege, auf dem sie es betreten hatten.

2. Ein Deutscher

2.

Ein Deutscher

Paulowna hatte, von ihrer Morgenpromenade zurückkehrend, die Mutter nur kurz begrüßt. Es hatte sich zwischen den Beiden, die einander doch so innig liebten, seit einiger Zeit eine Art von Entfernung eingeschlichen, welche ihren Grund in der allzu frommen Richtung der Gräfin hatte. Verwandte Herzen stehen einander wenigstens ebenso nahe als das Diesseits und Jenseits, und wer alle seine Bestrebungen hinauf zum Himmel schickt, versäumt sehr leicht seine größten irdischen Pflichten, stößt Diejenigen von [757] sich, mit denen er in freundlicher und fruchtbarer Wechselbeziehung zu stehen hat und läuft Gefahr, entweder mißverstanden oder ein Spielball stärkerer Charaktere zu werden, welche sich bemühen, die reelle Frömmigkeit für egoistische Zwecke auszubeuten.

Die Differenz war eine größere geworden, seit die jetzige Gesellschafterin das Haus betreten und sich ein Vertrauen bei der Gräfin erworben hatte, welches geradezu unbegrenzt genannt werden mußte. Paulowna fühlte eine unwillkürliche aber unbesiegbare Abneigung gegen das schöne, fromme Mädchen, und je mehr sich die Mutter an dasselbe schloß, desto mehr zog die Tochter sich aus dem Gesellschaftszimmer und von den täglichen religiösen Uebungen zurück.

Auch jetzt hatte sie nur den gewöhnlichen Morgengruß ausgesprochen und sich dann in ihre Apartements zurückgezogen. Hier sollte sie nicht lange in Einsamkeit verbleiben. Das Mädchen trat ein und meldete den Baron von Felsen.

Der Eintretende war ein junger, stattlich gebauter Mann von einnehmendem Aeußeren und gewinnenden Manieren. Er schritt auf Paulowna zu und ergriff ihre Hand, auf welche er seine Lippen drückte.

»Grüß Gott, Comtesse! Darf ich im Vorübergehen einen guten Morgen sagen?«

»Im Vorübergehen? Behandelt man die Freundschaft auf eine so eilige Weise?«

»Dann soll ich wohl gestehen, daß ich nur um dieses Grußes willen auf den Flügeln der Morgenröthe herbeigeeilt bin?«

»Nur die Wahrheit sollen Sie gestehen, Baron. Uebrigens scheinen die Flügel Ihrer Morgenröthe etwas lang zu sein. Es ist zehn Uhr; ich machte bereits einen Spaziergang und – –«

»Und – –«

»Und zwar unter sehr interessanten Umständen.«

»Darf man nach diesen Umständen fragen?«

»Der Graf suchte mich im Garten.«

»Ah, und er fand Sie?«

»Natürlich. Und dann – –«

»Und dann – –«

»Dann machte er mir den sehr ehrenvollen Vorschlag, Frau Gräfin zu werden.«

»Nicht möglich!«

»Nein, möglich nicht blos, sondern wirklich.«

Der Baron war aufgesprungen. Er ergriff ihre beiden Hände und blickte ihr mit sichtlicher Spannung in die guten, ehrlichen Augen.

»Was hast Du ihm geantwortet, Paulowna?«

»Rathe einmal!«

»Sage es, bitte, sage es selbst!«

»Ich sagte ihm, allerdings in etwas anderen, höflicheren Worten, daß ich darauf verzichte, die Nachfolgerin Vieler zu werden. Ein Roué wird meine Hand niemals erhalten.«

»Nein, niemals; dieses kleine, liebe Händchen ist bestimmt, einen ganz Anderen mit der höchsten Seligkeit zu beglücken.«

»Du sprichst sehr bestimmt. Kennst Du ihn vielleicht, diesen Anderen?«

»Bin ich's doch selbst!« jubelte er, sie warm umfassend.

»Wie kühn! Sind alle Deutschen so?«

»Um so köstlichen Preis gewiß. Leider ist diese Kühnheit nicht zureichend, den Himmel zu erstürmen. Dein Held, Paulowna, ist auch zuweilen auf die List angewiesen.«

»Wegen der Gesellschafterin?«

»Wegen dieser. Auf meine Erkundigungen sind aus Petersburg heut Briefe eingetroffen, welche ganz übereinstimmend sagen, daß eine ganz ähnliche Person den berüchtigten Iwan Wessalowitsch bei seiner Flucht unterstützt habe und mit ihm verschwunden sei. Ich lasse Sie bewachen. Wer macht heut die Krankenbesuche?«

»Sie wechselt mit Mama zwischen diesen Besuchen und dem Gottesdienste. Mama steigt eben ein; sie fährt zur Kirche. Und – schau,« meinte sie, ihn zum Fenster ziehend, »da geht die Gesellschafterin zu ihren Kranken.«

»Ich muß Aufklärung haben. Ist sie die Betreffende, so benutzt sie jedenfalls diese Besuche, um ihre sonstigen Verbindungen zu frequentiren. Mein Diener hat sich dort in die Flur jenes Eckhauses postirt; er wird sie beobachten.«

Sie blieben am Fenster stehen und bemerkten, daß aus der Thür des angegebenen Hauses ein Mann trat, welcher der Gesellschafterin von Weitem folgte. Nicht lange darauf aber sehen Sie ihn eilig zurückkommen und langsam dann vorüberschreiten. Als er den Baron am Fenster stehen sah, gab er ein leises, für einen Dritten unverständliches Zeichen mit der Hand.

»Ich soll zu ihm kommen, Paulowna. Er hat etwas Wichtiges entdeckt.«

Ohne vorher Abschied zu nehmen, entfernte er sich schnell, eilte leisen Schrittes über den Corridor und verließ das Haus, um zu dem Diener zu stoßen.

»Was giebt's, daß Du mich rufst, Feodor?«

»Die Dame ist in eine Seitengasse eingebogen und durch eine kleine Mauerpforte in den Garten der Gräfin zurückgekehrt.«

»Ah – dann hat sie etwas Geheimnißvolles vor. Hat sie die Pforte von innen verschlossen?«

»Ja.«

»Sie wird das Haus auf demselben Wege wieder verlassen. Komm.«

Sie gelangten bald in das Gäßchen und an die Pforte. Die Mauer war nicht hoch. Sie wurde übersprungen, und dann verbargen sich Beide in das dichte Gebüsch des Gartens.

Es verging eine geraume Zeit, ehe sie etwas Verdächtiges bemerkten. Dann ertönte das Geräusch von sich leise nähernden Schritten. Die Gesellschafterin drang durch das Dickicht, hinter ihr ein junger, schlanker Mensch mit einem Packete unter dem Arme. An der innern Seite der Pforte blieben sie stehen.

[758] »Hast Du Alles?« frug das Mädchen.

»Alles.«

»Die Juwelen bekommt der Graf noch heut? Er setzt sie leichter in Gold und Noten um, als wir es könnten.«

»Er hat mich auf den Abend bestellt.«

»Aber wenn er uns übervortheilt?«

»Das kann er nicht; ich habe ihn im Sacke. Jetzt aber vorwärts! Du gehst vorerst; ich warte noch einen Augenblick, damit wir nicht beisammen gesehen werden.«

Er öffnete die Pforte, blickte hindurch, ob der Weg frei sei und gab ihr dann einen Wink, zu gehen.

»Morgen mußt Du in die Kirche. Ich werde neben Dir niederknieen und Dir Alles mittheilen. Adieu.«

Sie ging und er folgte ihr in wenigen Sekunden.

Kaum war er um die Ecke verschwunden, so sprangen die beiden Lauscher über die Mauer zurück und folgten ihm.

»Das Mädchen können wir lassen, Feodor; sie ist uns sicher. Ihn aber nehmen wir fest; es ist ein Diebstahl im Hause der Gräfin geschehen.«

Iwan Wessalowitsch schritt langsam die Straße dahin. Zwei Polizisten begegneten ihm; er ging furchtlos an ihnen vorüber und unterließ es auch, sich nach ihnen umzublicken. Der Baron aber hielt sie an.

»Kennen Sie mich, meine Herren?«

»Ich hatte die Ehre, den Herrn Baron bereits einmal in unserm Bureau zu sehen.«

»Gut. Sie haben von Iwan Wessalowitsch gehört?«

»Ah, was soll mit ihm?«

»Wollen Sie ihn fangen?«

»Gleich, sofort! Nur sagen Sie, wo er zu finden ist. Es ist ein Preis auf seinen Kopf gesetzt.«

»Er ist Ihnen soeben begegnet.«

»Nicht möglich! Der Herr Baron irren doch – –«

»Möglich, daß ich mich irre. Jedenfalls aber ist der Mann mit dem Packete unter dem Arme ein Dieb, welcher aus dem Hause der Gräfin von Smirnoff kommt. Ich fordere Sie auf, ihn sofort zu arretiren. Schnell, ehe er entkommt, ich verantworte es!«

Der dringenden Aufforderung eines solchen Mannes mußte unbedingt Folge geleistet werden. Die Polizisten eilten vorwärts und hatten Iwan nach einigen Augenblicken erreicht. Der russische Polizist ist außerordentlich höflich und außerordentlich unbeugsam.

»Wo kommst Du her, mein Brüderchen?« frug der Eine, dem jungen Menschen die Hand auf die Schulter legend.

»Von da her!« antwortete der Gefragte, mit ruhiger Miene nach rückwärts winkend.

»Und wo willst Du hin, mein Brüderchen?«

»Dorthin!« nickte er nach vorwärts.

»Schön, schön, meine Seele. Wir gehen auch mit dorthin!«

»So geht! Ich finde meine Weg allein.«

»Das wissen wir. Aber wir Beide könnten Deinen Weg nicht finden, darum bleiben wir bei Dir. Komm, Brüderchen, komm!«

Iwan warf einen raschen Blick vorwärts und zur Seite und griff dann blitzschnell in die Brusttasche. Ein Schuß krachte – die Ladung ging fehl, denn ein kräftiger Arm hatte von hinten den seinen gepackt, und zu gleicher Zeit fühlte er sich von allen Seiten so fest umschlungen, daß ihm nicht die geringste Bewegung möglich war. Der Baron und Feodor waren unbemerkt herangetreten und hatten im entscheidenden Momente Hülfe gebracht. Der Schuß hatte eine Menge Menschen herbeigelockt. Der Gefangene wurde gefesselt und nach dem Polizeihause abgeführt. Von Felsen begab sich mit seinem Diener ebenfalls dorthin. – – –

Die Kirche war aus. Die Gräfin von Smirnoff kehrte in ihre Wohnung zurück. Die Dienerschaft eilte herbei, um die Gnädige aus dem Wagen zu heben und in ihre Gemächer zu geleiten. Der Hausmeister schritt voran, um die Thüren zu öffnen.

»Ich danke!« wandte sie sich, im Salon angekommen, wie gewöhnlich an die Leute zurück, um sie zu verabschieden. Dann trat sie in ihr Boudoir. In demselben Augenblicke aber vernahmen die sich zurückziehenden Leute einen lauten Schrei des Erschreckens und stürzten sofort wieder herbei.

Die Gräfin hielt schaudernd die Hände vor das Gesicht: Auf dem Teppich lag ein Mann mit blutendem Kopfe, und in dem Raume herrschte eine Unordnung, welche bewies, daß er der Schauplatz irgend eines ungewöhnlichen Ereignisses gewesen sei.

»Wer ist der Mensch – was hat er hier gewollt – wie ist er hereingekommen?« frug die vor Entsetzen zitternde Herrin.

Niemand wußte es, Niemand vermochte, Auskunft zu ertheilen. Der ganzen Gesellschaft hatte sich eine Verwirrung bemächtigt, welche nur durch den raschen Eintritt des Grafen, welchem die Tochter des Hauses folgte, um Etwas gemildert wurde.

»Was geht hier vor – was hat der Lärm zu bedeuten?« frug er.

Die Gräfin zeigte lautlos auf den betäubt daliegenden Mann.

Der Graf wandte sich an den Hausmeister, welcher ihm die nöthige Auskunft ertheilte.

»Entsetzlich! Hier ist irgend eine That verübt, über welche nur dieser Mann Bericht zu erstatten vermag.«

Er bog sich zu ihm nieder, um ihn zu untersuchen.

»Er lebt. Halt, Wasser, Essig, Essenzen herbei! Man muß ihn zur Besinnung bringen, damit er Aufklärung ertheilt.«

»Mama, ich kenne ihn!« rief Paulowna, welche schaudernd näher getreten war. »Es ist der Geschäftsführer des Juwelier Obrenowicz.«

»Der – mein Gott, das ist kein Dieb, kein Räuber. Was ist hier vorgegangen?!«

Niemand vermochte zu antworten. Sämmtliche Diener waren auf kurze Zeit bei dem Grafen beschäftigt gewesen [759] welcher nachher die junge Comtesse besucht hatte; aber Keiner konnte eine Auskunft auf die ausgesprochene Frage ertheilen.

Endlich schlug der Verwundete unter den sorgfältigen Belebungsversuchen die Augen auf, welche erst ausdruckslos im Zimmer umherstierten und dann nach und nach Leben und Besinnung gewannen.

»Die Gräfin – wo ist sie – – wo sind meine Juwelen?« frug er langsam und mit halblauter Stimme.

Seine Worte waren Allen ein Räthsel, bis er sich weiter erklärte, wobei sich dann herausstellte, daß er das Opfer eines raffinirten Betruges geworden sei.

Jetzt trat die Gesellschafterin ein, welche von ihren Krankenbesuchen zurückkehrte. Die Gräfin eilte sogleich auf sie zu.

»Denke Dir, meine gute Wanka, was während unserer Abwesenheit hier geschehen ist! Eine verwegene Gaunerin hat sich hier eingeschlichen und an meiner Stelle diesen Herrn empfangen, um ihm Juwelen im Werthe von fast einer Million Rubel zu entwenden!«

»Unmöglich!« rief die Angeredete, vor Schreck und Erstaunen die Hände faltend. »Wie könnte der Böse dies fromme Haus zu eine so entsetzlichen That ausersehen!«

»Mein Kind, er geht umher wie ein brüllender Löwe und hat sich selbst durch unsere Gebete nicht abschrecken lassen. Aber der Herr wird die Missethat heimsuchen und unsre schwachen Augen öffnen, damit wir die Thäter finden und entdecken. Man durchsuche das ganze Haus!«

»Halt!« ertönte es da unter der Thür. »Man bleibe, damit keine Spur verwischt werde!«

Es war der Baron von Felsen, welcher eintrat. Ohne den Grafen eines Blickes zu würdigen, schritt er auf die Gräfin zu.

»Was ist geschehen, gnädige Frau?«

»Willkommen, Herr Baron! Sie sind Diplomat, und Ihr Schafsinn vermag vielleicht Licht in die schwarze Dunkelheit zu bringen.«

»Pa –« fiel hier der Graf wegwerfend ein. »Um hier klar sehen zu können, dazu bedarf es keines deutschen Diplomaten. Dieser Mann ist durch ein gefälschtes Billet zur Gräfin bestellt worden, um Juwelen vorzuzeigen. Die Gauner haben sich in Abwesenheit der Dame mit Hülfe von Nachschlüsseln einzuschleichen vermocht und ihm die Kostbarkeiten abgenommen. Der Coup ist mit einer außerordentlichen Frechheit entworfen und ausgeführt worden; das Uebrige aber geht Niemanden Etwas an, sondern ist Sache der Polizei.«

»Das ist Ihre Meinung, Graf,« erwiderte von Felsen kalt und überlegen. »Die meinige aber lautet anders. Erzählen Sie, mein Herr!«

Der Juwelier wiederholte seinen Bericht und endete mit der Klage:

»Ich bin ruinirt für alle Zeit, wenn die Thäter nicht entdeckt und die Juwelen nicht gerettet werden.«

»Beruhigen Sie sich,« sagte der Baron. »Vielleicht sind Sie schon heut oder morgen wieder in dem Besitze derselben!«

»Ah –« dehnte der Graf verächtlich, »die deutsche Diplomatie scheint allmächtig zu sein!«

»Das nicht,« klang die scharfe Erwiderung, »aber ehrlich und scharfsinnig genug, um sich weder durch Schönheit noch durch Titel und Anmaßung blenden zu lassen. Ich nehme an, daß die Thäter entweder selbst hier im Hause wohnen oder ihre Mitschuldigen hier haben.«

»Hahaha,« lachte der Graf. »Meinen Sie vielleicht, daß auch ich eine Rolle dabei übernommen habe?«

»Selbst wenn ich dies meinte, Graf, würde doch in Folge Ihrer Stellung jede Anklage von vorn herein erfolglos sein.«

»Herr Baron,« fiel die Gräfin ein, »ich kenne meine Leute; Niemand von Ihnen ist einer solchen That fähig. Ich pflege mich nur mit gläubigen Seelen zu umgeben, denen selbst die kleinste Sünde ein Greuel ist.«

»Meine Gnädige, ich achte und liebe die Frömmigkeit, wenn sie wahr ist und aus dem Herzen kommt; ist sie aber erheuchelt, so wird sie gefährlicher als die größte Gottlosigkeit. Gestatten Sie mir, Sie von einer Schlange zu befreien, welche Sie an Ihrem Busen nährten!«

Er trat zum Schranke und öffnete ihn.

»Eine Diebin hat hier ihre Rolle gespielt und dieses Kleid dabei getragen. Sie sehen, es ist nur in höchster Eile wieder an seinen Platz gehängt worden. Die Gaunerin hat sich mit Hülfe von falschen Haaren u.s.w. der gnädigen Frau ähnlich gemacht, und nun, bitte, bemerken Sie die Spuren davon noch deutlich in diesem erbleichenden Gesichte! Fräulein Wanka, Sie hätten sich sorgfältiger reinigen sollen!«

Ein Schrei drang von Aller Lippen. Der Graf wollte sich auf den Sprecher werfen; die Gräfin hob abwehrend die Arme empor, und die Angeschuldigte trat mit beleidigter Miene einen Schritt zurück, um den Baron ihre Verachtung in das Gesicht zu schleudern; aber Keins von den Dreien kam dazu, seine Absicht zu erreichen, denn in diesem Augenblicke stand ein Polizeikommissär vor der Gesellschafterin und die sämmtlichen Eingänge waren von seinen Untergebenen besetzt.

»Mein schönes Töchterchen,« meinte er lächelnd, »dieser Mann hier hat Dir ein paar schöne Armspangen mitgebracht; erlaube, daß ich sie Dir schenke!«

Sie wurde gefesselt. Niemand wagte, zu widerstehen.

»Graf,« unterbrach der Baron die Stille der allgemeinen Erstarrung, »ich ließ Iwan Wessalowitsch verhaften, als er mit dieser frommen Dame aus dem Garten schlich. Die Juwelen, die sie bei sich hatten, können nun nicht in Gold und Noten umgesetzt werden, sondern kommen in die Hände des rechtmäßigen Besitzers zurück. Die deutsche Diplomatie hat ganz dieselbe Ansicht wie Comtesse Paulowna: Sie arbeiteten in diesem Hause umsonst!« – – –

[760]

3. Ueberlistet

[773] 3.

Ueberlistet

Der Oberst, Graf von Milanow saß in einem Zimmer seines Palais zu Petersburg und beschäftigte sich sehr angelegentlich damit, den Rauch seiner duftenden Cigarre in wohlgeformten Ringeln gegen die Decke zu blasen. Er schien sehr guter Laune zu sein, wie seine aufgeheiterte Miene bewies, und diese fröhliche Stimmung wurde erhöht, als sich leise die Thür öffnete, um einem Wesen Eintritt zu gestatten, wie es liebreizender und verführerischer wohl kaum gedacht werden konnte. Das leichte, durchsichtige Gewand ließ die herrlichen Formen mehr erblicken als errathen, und die Weise, wie das schöne Wesen sich in seine Arme schmiegte, hätte wohl auch einen Anderen, als er war, nicht kalt gelassen.

»Wanka, Du wirst von Tag zu Tag reizender!«

»Und Du von Tag zu Tag liebenswürdiger.«

»Kann man Dir gegenüber anders sein?«

»Schmeichler!«

»Engel!«

»Geh'! Zu diesem heiligen Stande fehlt mir die Begabung!«

»Nicht doch! Du hast die nöthigen Talente bei der alten Smirnoff wundervoll entfaltet.«

»Doch nur, um mich dann als Teufel oder Drache zu entpuppen. Wie schade, daß der Streich mißlang – die herrlichen Juwelen –!«

»Die Hunderttausende, die sie an Werth besaßen! Ich hätte mit ihnen meinen Gläubigern den Mund gestopft.«

»Und mir wäre die armselige Haft erspart geblieben, an die ich lebenslang gedenken werde.«

»Und die Verbannung nach Sibirien.«

»Pah! Der Günstling eines Zaaren ist allmächtig.«

»Inwiefern, Du holde Zuversicht?«

»Ich bekam ein Pulver in mein Gefängniß geschickt und – nahm es ein. Ich mußte darauf schlafen, fest und lange, und als ich erwachte, war ich bei Dir. Aber sag, ist Iwan auch frei?«

»Ja.«

»Und wo befindet er sich?«

»Im Auslande für immer.«

»Welches Aussehen muß unsere Befreiung erregt haben?«

»Keines. Die Behörde weiß es nicht anders, als daß Ihr nach Sibirien transportirt und unterwegs entsprungen seid.«

»Könnten wir doch diesen impertinenten Deutschen mit seiner schmachtenden Paulowna an unserer Stelle dorthin schicken!«

»Meinst Du –?« dehnte der Graf mit einer Miene, über welche ein mephistopholisches Lächeln zuckte.

»Ja, wenn es möglich wäre.«

»Sagtest Du nicht soeben, der Günstling eines Zaaren sei allmächtig?«

»Das soll heißen?«

»Unsere Wünsche begegnen sich wie immer, so auch hier.«

»Ah –!«

»Du kennst meine Verhältnisse. Die Gräfin Smirnoff ist gestorben, man sagt, in Folge der Aufregung, in welche sie damals durch die Enttäuschung über Deine Frömmigkeit versetzt wurde. Dieser Baron Felsen hat Paulowna geheirathet, natürlich mit ihrem ganzen, unermeßlichen Vermögen. Begegnete ihnen etwas Menschliches, so – gehörte die Grafschaft mir.«

»Folglich?«

»Was, folglich?«

»Nun, war Deine Rede nicht ein Vordersatz?«

»Vielleicht.«

»So bin ich begierig, den Nachsatz zu hören.«

»Kannst Du ihn Dir nicht denken?«

»Seine Art und Weise wohl, nicht aber seinen Inhalt.«

»Wolltest Du die Beiden nicht nach Sibirien schicken?«

»Mit Vergnügen. Aber wie?«

»Durch ein Verwechselung.«

»Ah, das ist originell! Aber mit wem?«

»Mit – rathe einmal.«

»Ich rathe es nicht. Mit –?«

»Mit Iwan und Dir.«

»Mensch, Du bist entweder ein Teufel oder ein großes Genie.«

»Keines von Beiden, aber ich muß diesem Deutschen beweisen, daß seine Diplomatie sich mit der russischen Klugheit nicht zu messen vermag.«

»Aber man wird, man muß die Verwechslung entdecken!«

»Gewiß, aber zu spät. Es ist noch Winter; sie halten die fürchterliche Anstrengung nicht aus, sie sterben, sie – pah, ich bin der Erbe und werde die Sache also schon zu arrangiren wissen!«

»Es gehört sehr viel Muth und noch mehr Klugheit dazu.«

»Ich versichere Dir, daß keins von Beiden fehlt. Uebrigens hast Du diesen Gedanken nicht etwa in mir erweckt; er war schon längst vorhanden, und seine Ausführung ist schon so weit vorbereitet, daß ich nur noch auf den geeigneten Zeitpunkt warte.«

»Wann wird dies sein?«

»Wenn der Baron nach Taschka reist.«

[773] »Was ist Taschka.«

»Eines seiner Güter. Es liegt jenseits der Dwina und liegt mitten in den herrlichsten Forsten. Er war noch nicht da, und ich weiß aus sicherer Quelle, daß er in Begleitung seiner Frau, vielleicht schon in wenigen Tagen, hingehen wird, um einige große Jagden abzuhalten.«

»Jetzt begreife ich. Nur deshalb hat es geheißen, daß wir auf der Flucht nach Sibirien entsprungen seien.«

»Dein Scharfsinn bringt Dich auf die richtige Spur. Einen kaiserlichen Erlaß zu erhalten ist mir leicht, und selbst wenn das nicht wäre, so kann ich stets zu den Blanquets des kaiserlichen Sekretariats.«

»Wäre ich doch auch der Günstling irgend eines hohen Herrn!«

»Bist Du es denn nicht schon?« frug er, mit ihrem aufgelösten Haare spielend.

»Wohl der Deinige?«

»Ich denke.«

»Dann ist mir wohl auch nichts unmöglich?«

»Blos das, was absolut unmöglich ist.«

»Darf ich eine Probe machen?«

Er nickte zustimmend.

»Wo wird die Verwechslung stattfinden?«

»An der Dwina.«

»Welche Freude, den Spaß mit ansehen zu können!«

»Deine Bitte ist Dir gewährt. Ich hätte mir auch ohne sie die Genugthuung nicht versagt, sie im Schlitten der Verbannten zu sehen und ihnen zu zeigen, wem sie es zu verdanken haben. Der dortige Gouverneur ist mir zu Dank verpflichtet; meine Wünsche sind für ihn Befehl.« –


Es war einige Wochen später, als über die unwegsame, hartgefrorene und beschneiete Fläche eines der raschen russischen Dreigespanne den Niederungen der Waga, eines Nebenflusses der Dwina zusaußte.

In dem Innern des Schlittens saß ein Herr und eine junge Dame, beide vorsorglich in kostbare Pelze eingehüllt.

»Ho – hü, mein Liebchen, mein Täubchen, schnell, mein Engel, immer rascher, Du Abgott meiner Seele – lauf, mein Schätzchen,« so feuerte der bärtige Kutscher nach der Art aller sarmatischen Pferdelenker in zärtlichen Ausdrücken seine Thiere zur Eile an.

Es wurde in rasendem Laufe Strecke um Strecke zurückgelegt, bis in der Ferne ein dunkler Gegenstand aus der weißen, schimmernden Schneefläche tauchte, der sich beim Näherkommen als eine Fährhütte erwies.

Sie stand an dem Ufer der Waga.

Der Herr des Schlittens ließ vor ihr halten. Der Fährmann eilte herbei.

»Ist das Eis fest genug?«

»So fest wie Eisen, Herr.«

»Weißt Du es gewiß?«

»Gewiß, Väterchen. Erst gestern ist eine vornehme Herrschaft hinüber, und heut ist die Kälte größer.«

»Wer war diese Herrschaft?«

»Ein Herr und ein Weibchen. Der Kutscher stieg ab und holte heißen Thee von meinem Feuer. Der Herr ist Oberst und heißt Graf Milanow.«

Der Frager stutzte.

»Hast Du den Namen recht gehört?«

»Genau, mein Väterchen.«

»Wie weit ist's bis zur Dwina?«

»Wenn die Pferde aushalten, ist vor Nacht noch Schloß Dwianka erreicht.«

»Dahin will ich.«

»Der Oberst auch.«

»Ah –!«

Er warf einen nachdenklichen Blick auf die neben ihm sitzende Dame.

»Hat er selbst es Dir gesagt?«

»Nein, der Kutscher.«

»Gut, ich danke. Hier hast Du Etwas zum Thee!«

Er warf ihm ein Geldstück zu und gab dann das Zeichen, die Fahrt fortzusetzen.

»Was sagst Du zu der Reise des Obersten, Paulowna?«

»Zufall, oder nicht?«

»Vielleicht. Hm –! Der Gouverneur ist auf Dwianka anwesend, wie ich hörte. Wir sahen uns in Paris und dann in London; wir waren Freunde pour passer le temps, aber ich weiß nicht, ob er sich meiner noch erinnern wird. Ich wollte ihn aufsuchen und fahre auf keinen Fall vorüber, selbst wenn der Oberst bei ihm ist. Die Nacht ist da und der Wald voll Wölfe; wir müssen bei ihm absteigen.«

Er legte sich in die Kissen zurück und schwieg. Die Begegnung mit Milanow schien ihn doch mehr zu beschäftigen, als er merken lassen wollte.

Die Aussage des Fährmannes erwies sich als Wahrheit. Noch war die Nacht nicht vollständig hereingebrochen, so erhoben sich vor den Reisenden die dunklen Mauern von Schloß Dwianka. Der Schlitten lenkte durch das breite, offene Thor in den geräumigen Hof ein und hielt vor dem Portale, zu welchem einige Stufen emporführten. Ein graubärtiger Beamter kam herbei.

»Dieses Schloß gehört den Grafen Sorgeneff.«

»So ist es, Herr.«

»Ist der Graf zugegen?«

»Ja.«

»Melde uns!«

Er zog aus der Tasche ein Portefeuille, entnahm demselben eine Karte und reichte sie dem Manne. Dieser klatschte einige Male laut in die Hände und sofort eilten mehrere Diener, welche bisher unsichtbar gewesen waren, herbei, um der Herrschaft aus dem Schlitten zu helfen.

Der Kutscher lenkte den Letzteren in eine Wagenremise, ließ sich für seine Pferde einen Stall anweisen, versorgte sie und begab sich dann nach der Bedientenstube. Hier verneigte er sich vor dem in einer Ecke hängenden Bilde eines Schutzheiligen, grüßte die Anwesenden und nahm an einem der schmalen, kleinen Fenster Platz.

[774] Ganz gegen die Gewohnheit der redseligen Großrussen hatte man kaum einige kurze Worte für ihn; er mußte sich Essen und Trinken selbst fordern und ging endlich verdrießlich wieder dem Stalle zu, um nach seinen Pferden zu sehen. Ueberrascht blieb er unter der Thür stehen. Der Schein der Laterne war auf ein bekanntes Gesicht gefallen.

»George, ist's möglich – Du hier?«

»Theodor, also wirklich, ich habe Dich sofort erkannt, wenn Du auch diesen verteufelten russischen Bart trägst. Ich wußte schon seit einer Woche, daß der Baron von Felsen kommen werde. Ich muß Dich sprechen, aus alter Freundschaft, aber im Verborgenen.«

Er löschte die Laterne aus und zog ihn hinter einige Strohbündel.

Nach einiger Zeit trat Theodor, der seinen Herrn gegenwärtig als Kutscher begleitete, in den Hof hin aus, schritt die Treppe empor und begab sich in die Gemächer, welche dem Baron mit seiner Gemahlin angewiesen waren. Beide waren mit ihrer Toilette zum Souper beschäftigt.

»Herr Baron!«

»Nun?«

»Der Oberst ist da.«

»Ich weiß es, obgleich Graf Sorgeneff es verheimlichen will.«

»Der Graf hat von dem Obersten vor acht Tagen diese Zeilen erhalten.«

Er überreichte, ihn auseinander faltend, einen Brief. Der Baron las ihn und konnte ein plötzliches Erbleichen nicht verbergen.

»Wer gab Dir diese Zeilen?«

»George, der Leibdiener des Grafen Sorgeneff. Wir haben uns lieb von Paris und London her; er hat ihn seinem Herrn entwendet, um uns zu warnen.«

»Um Gotteswillen, was ist es?« frug die Baronin ängstlich.

»Nichts als eine neue Schlechtigkeit von Seiten des Obersten. Du weißt, daß die beiden Verbrecher Iwan und Wanka auf der Flucht nach Sibirien entsprungen sind. Wir sollen mit ihnen identisch erklärt und jenseits der Dwina festgenommen werden, um nach Nertschinsk zu gehen. Der Befehl, zwei Personen, die mit einem auf Baron und Baronin von Felsen lautenden Paß reisen, sofort festzunehmen und schleunigst unter Abschließung von allem Verkehr über den Ural zu transportiren, ist vom Zaaren unterzeichnet und von dem Obersten dem Grafen eigenhändig übergeben worden. Dieser ist Gouverneur und hat das jenseitige Ufer besetzen lassen. Darum also that er, als erkenne er mich nicht; darum verhielt er sich so außerordentlich zurückhaltend, daß er sich kaum die Mühe gab, uns zum Abendbrote einzuladen. Eine so verrätherische Gastfreundschaft kann nur ein Russe üben!«

»Giebt es keine Reitung?« frug die Baronin, zitternd vor Angst.

»George meinte,« fiel Feodor oder Theodor, wie sein deutscher Name lautete, ein, »es sei das Beste, sofort wieder anzuspannen und heimlich aber schleunigst zurückzukehren. Ein Glück, daß uns die Freundschaft dieses braven Menschen noch zur rechten Zeit warnt!«

»Hm – ja – doch –« besann sich der Baron – »ha, wie, wenn ich ihn in die eigene Grube stürzte? Wird dieser Georg einmal unbemerkt zu mir kommen können?«

»Ich werde sehen!«

Feodor entfernte sich und brachte nach kurzer Zeit den Verlangten herbeigeführt.

»Sie sind ein Franzose?« frug diesen der Baron.

»Ja. Der Graf Sorgeneff engagirte mich in Paris. Aber ich hasse diese Russen.«

»Warum bleiben Sie bei ihm?«

»Mein Gehalt ist gut, und in einem russischen Hauswesen kann man sich leicht ein Sümmchen zurücklegen. Ich möchte mich bald zur Ruhe setzen.«

»Ah so! Wollen Sie sich diese Tausendrubelnote verdienen?«

»Tausend Rubel? Gern, sofort! Aber wodurch?«

»Reist der Oberst allein? Ich hörte, eine Dame sei bei ihm. Der Fährmann an der Waga berichtete mich so.«

»Es ist eine Dame bei ihm, ob Gemahlin oder Schwester oder – ich weiß es nicht.«

»Gemahlin jedenfalls nicht, aber es befördert meinen Zweck. Hier ist mein Paß. Er lautet auf Baron und Baronin von Felsen. Wenn Sie ihn mit dem Passe des Obersten umzutauschen vermögen, gehört die Note Ihnen.«

Der Diener besann sich. Ein schadenfrohes Lächeln glitt über seine intelligenten Züge.

»Ich verstehe Sie vollkommen, Herr Baron. Der Verräther soll an Ihrer Stelle nach Sibirien gehen. Verdient hat er es, und es soll mir, auch abgesehen von der Note, eine Befriedigung gewähren, ihn mit seinem eigenen Schmutze zu waschen. Vertrauen Sie mir den Paß an. Sie gehen jetzt zur Tafel, die nicht lange währen wird, denn später wird für den Obersten gedeckt. Während er da aus seinem Zimmer abwesend ist, werde ich sehen, was zu machen ist.«

»Schön. Ich werde mir nicht das geringste Mißtrauen merken lassen. Jetzt gehen Sie. Man könnte Sie leicht vermissen!«

Georg und Feodor traten ab.

»Du spielst ein gefährlich Spiel,« meinte Paulowna besorgt.

»Nicht gefährlicher als das seine. Ich durchschaue ihn. Nicht nach Sibirien, sondern in den Tod will er uns schicken, damit Dein Erbe seine Schulden decke. Er soll in die Schlinge gehen, die er mir stellt, und der Gouverneur – pah, das wird sich finden!«

Sie beendeten ihre Toilette und standen eben im Begriff, sich nach dem Speisesaal zu begeben, als Feodor wieder eintrat.

»Herr Baron, eine außerordentliche Neuigkeit!«

»Welche?«

»Ich war neugierig, den Obersten, der sich verbirgt, zu sehen. Georg führte mich in ein Zimmer, welches von demjenigen [775] des Obersten nur durch eine Thür getrennt ist. Ich hörte leise sprechen und blickte durch das Schlüsselloch. Rathen Sie, wen ich sah!«

»Nun?«

»Wanka, die Gesellschafterin.«

»Nicht möglich; Du hast Dich geirrt!«

»Keineswegs; sie war es sicher und gewiß. Ich hörte später sogar auch ihre Stimme.«

»Das wäre ja ganz außerordentlich!« meinte Paulowna.

»Dem Obersten ist Alles zuzutrauen,« wendete der Baron ein. »Er war unbedingt der Mitschuldige der beiden Gauner, wie mir das Gespräch derselben an der Gartenpforte bewies Er vermag viel und – kann sie gerettet haben. Iwan ist verschwunden; Wanka ist schön; sie dient ihm als Zeitvertreib, bis – bis sie ihm lästig wird. Und das Gerücht von dem Entspringen auf der Reise nach Sibirien wurde ausgestreut, um seinen jetzigen Coup einzuleiten. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, daß Du Dich nicht geirrt hast, Feodor. Aber dann ist der Oberst verloren. Seine Reise geht durch Taschka, wo ich Gerichtsherr bin; ich eile ihm voraus und werde seine und die Identität der Gaunerin feststellen. Der Kaiser soll den ganzen sauberen Plan erfahren!«

Er reichte Paulowna den Arm, um sie zum Souper zu führen. Nur der Wirth war bei demselben anwesend. Es ging sehr einsilbig zu, und die Speisen wurden kaum berührt. Der Baron versicherte, daß er und viel mehr seine Gemahlin sehr ermüdet sei und erhob sich, gute Nacht wünschend.

In ihre Zimmer zurückgekehrt, legte sich die Baronin zur Ruhe; von Felsen aber löschte sein Licht aus und harrte im Dunkeln auf Georg. Es vergingen einige Stunden, ehe dieser kam.

»Herr Baron es ist gelungen!«

»Wirklich?«

»Ja. Der Oberst hatte die Brieftasche mit den Papieren in der Tasche seines Pelzes. Hier ist sein Paß, an dessen Stelle sich der Ihrige befindet!«

Der Baron brannte das Licht an, um sich von der Aechtheit des Documentes zu überzeugen.

»Es ist richtig, hier haben Sie die Note.«

»Danke! Noch Eins. Acht Uhr Morgens ist es noch finster. Sieben ein halb Uhr wird der Oberst abreisen, um Ihnen drüben zu begegnen, wenn Sie sich im Transportschlitten befinden.«

»Ah, er will auf mich warten und sich an meinem muthmaßlichen Grimme weiden. Ihrer Hülfe habe ich es zu verdanken, daß es anders kommt. Wann werden Sie Ihren Dienst verlassen?«

»Wahrscheinlich schon im Frühjahre.«

»Sollten Sie irgend welcher Hülfe bedürfen, so sprechen Sie in Petersburg bei mir vor. Gute Nacht!«

»Werde nicht verfehlen. Gute Nacht!« – – –

Noch ruhte am andern Morgen tiefe Dunkelheit auf der Umgebung des Schlosses, als ein Schlitten leise aus dem Thore desselben gelenkt wurde. In seinem Innern saß der Oberst mit Wanka.

Im Walde angekommen, welcher sich bis zur Dwina zog, hieb der Kutscher auf die Pferde ein, die sich sofort in den ihnen geläufigen gestreckten Galopp setzten.

»Endlich, endlich sind wir der Genugthuung nahe!« meinte der Oberst.

Wanka schwieg, aber ihre Freude über die nun sicher gelingende Rache war eine nicht geringere als die seinige.

Der Schnee leuchtete; der Morgen dämmerte herein. Es war vollständig hell, als der Schlitten das Ufer des Flusses erreichte. An dem jenseitigen waren mehrere in regelmäßigen Intervallen aufgestellte Posten zu sehen, welche sich bei dem Anblicke des Schlittens an einem diesem grad gegenüber liegenden Punkte vereinigten.

»Fahr zu. Das Eis hält!« gebot der Oberst.

Der Schlitten ging im Trabe über den Fluß. Auf der jenseitigen Höhe angekommen, gewahrte der Oberst ein zweites Geschirr, welches in der Nähe unter den Bäumen hielt.

»Halt!« gebot der Anführer der Kossaken.

Der Kutscher gehorchte dem Rufe.

»Den Paß!«

Der Oberst zog die Brieftasche hervor, nahm den Paß heraus und reichte ihn hin. Der Offizier warf einen Blick hinein.

»Aussteigen!«

»Wieso?«

»Aussteigen!«

»Wieso, frage ich?«

»Aussteigen, sage ich!«

»Oho, den Grund will ich wissen!«

Der Offizier langte ruhig nach seinem Sattel, um den Kantschu loszumachen.

»Aussteigen, sonst helfe ich nach!«

»Was soll die Knute? Fort mit ihr, und zwar augenblicklich! Der Oberst, Graf von Milanow könnte Euch sonst schlecht verstehen!«

»Oberst –? Graf Milanow? Ist das Ihr Paß?«

»Ja.«

»Wirklich?«

»Zum Teufel, ja.«

»Schön! Hier steht Baron von Felsen nebst Gemahlin. Heraus aus dem Schlitten! Ich bin Hetman und weiß, was ich zu thun habe.«

Er hielt dem Obersten den Paß vor das Gesicht. Dieser las die Namen; ein fürchterlicher Schlag durchzuckte seinen Körper, und ehe er sich nur auf Gegenwehr besinnen konnte, war er seiner Waffen beraubt, mit seiner Begleiterin aus dem Schitten gerissen und zu dem andern geschleppt, welcher mit ihnen und unter zahlreicher Bedeckung davonsaußte. – – –

[776]

[790] Nach kurzer Zeit kam ein anderer Schlitten über den Fluß herüber. Kein »Halt!« erscholl, Niemand hielt ihn auf; die Kossaken hatten Den, auf den sie warteten und waren fort. Nur der Schnee zeigte deutliche Spuren des vorübergegangenen Ereignisses.

»Gefangen!« jubelte der Baron. »Vorwärts, Feodor, damit wir sie umfahren und in Taschka erwarten können!«

Es mußte zu diesem Zwecke ein Umweg gemacht werden. Aber die Pferde waren gut und hatten sich ausgeruht. Am Nachmittage wurde das Schloß erreicht.

Die Bewohner der reichen Besitzung waren von der Ankunft ihres Herrn unterrichtet und hatten sich versammelt, um ihm einen festlichen Empfang zu bereiten. Sie wurden auf das Schloß geladen, in dessen Räumen ihnen der Baron ein Festmahl bereiten ließ.

Während desselben und als es bereits dunkel war, fuhr ein Schlitten vor, welcher von einer Kossakentruppe scharf bewacht wurde.

Der Anführer derselben stieg ab und ließ sich, ohne vorher weiter zu fragen, bei dem Besitzer des Schlosses melden.

»Wie heißt das Schloß?«

»Taschka.«

»Wem gehört es?«

»Mir, dem Baron von Felsen.«

»Felsen – –?« rief erstaunt der Frager.

»Wie Sie hören!«

»Teufel! Giebt es mehrere Barone von Felsen.«

»Ja, aber nicht in Rußland.«

»So sind Sie es, dessen Namen man mißbraucht hat.«

»In wiefern?«

»Zwei Verbrecher, nach Sibirien verbannt, entsprangen während des Transportes. Man fing sie wieder. Sie hatten sich in den Besitz eines Passes gesetzt, lautend auf Sie und Gemahlin.«

»Ah! Sie kamen, um Relais zu verlangen?«

»Ja.«

»Zugestanden, doch kann ich die Pferde nicht eher verabfolgen, als bis Sie die Verbrecher mir vorgeführt haben.«

»Das darf ich nicht.«

»Sie meldeten mir ja selbst, daß sie meinen Namen mißbraucht haben.«

»So ist es.«

»Dann verfallen die Leute zunächst meiner Gerichtsbarkeit.«

»Sie gehören dem Kaiser.«

»Hier bin ich Kaiser. Oder kennen Sie die Gesetze nicht.«

Der Hetman besann sich.

»Werden Sie mir dieselben wieder ausliefern?«

»Sofort. Kennen Sie Namen und Stand der Leute?«

»Nein. Wer nach Sibirien geht, ist todt. Sie wurden mir übergeben und ich bringe sie nach Nordschinsk. Weiter weiß ich Nichts.«

»Gut. Geben Sie Ihre Befehle und lassen Sie sich verabreichen, was Sie und Ihre Mannschaft bedürfen!«

Der Baron rief Paulowna und seinen Diener herbei.

Nach einigen Minuten erschienen der Oberst und die Gesellschafterin, von Kossaken geführt und bewacht.

»Ihr habt Euch eines Passes bedient, welcher auf meinen – – –«

»Baron!« brüllte der Oberst, die Fäuste ballend, »ich werde – – –«

»Ruhe!« donnerte ihm dieser entgegen, und sich zu dem Hetman wendend, fügte er hinzu: »Sie haben die Knute. Ich verbiete diesen beiden Personen jedes Wort!«

Der Offizier griff zu dem erwähnten Instrumente, um es bei der leisesten Widersetzlichkeit in Anwendung zu bringen. Der Oberst schäumte, aber er mußte sich fügen.

»Ihr habt Euch eines Passes bedient, welcher auf meinen Namen lautet. Da Ihr dem Kaiser gehört, so kann ich Euch Nichts thun, aber ich muß um Auslieferung des Papieres ersuchen.«

Der Hetman griff ohne Widerrede in seine Uniform und überreichte den Paß. Er konnte ihn nicht verweigern.

»Ich habe nun blos noch zu bemerken, daß ich mit Hülfe dieser zwei Zeugen Eure Identität vor Seiner Majestät, dem Kaiser, erhärten werde. Der gerechte Herrscher aller Reußen wird Aufklärung erhalten darüber, wie Diamanten verloren gehen und Verbrecher bei dem Transporte entspringen. Fort mit Euch!« – –


Eine Reihe von Jahren war vergangen. Der Baron von Felsen hatte mit Gemahlin eine Reise nach Deutschland unternommen und bei dieser Gelegenheit Wiesbaden berührt.

Ein reicher, und wie es hieß, vornehmer Russe machte der Bank viel zu schaffen. Die Farbe, welche er setzte, gewann sicher. Felsen wurde neugierig, ihn zu sehen, und begab sich in die Spielsäle. Der Blick des Spielers fiel auf ihn und Felsen bemerkte, daß seine Hand zitterte und eine tiefe Blässe sein Gesicht überzog. Er wandte sich ab. Noch aber hatte er den Saal nicht verlassen, so legte sich eine Hand auf seinen Arm und eine leise Stimme bat:

»Baron, bitte, verrathen Sie mich nicht!«

Der Angeredete maß den Sprecher mit Eiseskälte vom Kopfe bis zum Fuß herab.

[790] »Mein Herr, Sie haben doch wohl Nichts dagegen, daß ich Sie durchaus nicht kenne!«

Er schüttelte die Hand ab und trat ins Freie. Es war der vormalige Oberst, Graf von Milanow, welchem der Kaiser erlaubt hatte, Sibirien zu verlassen, doch unter der Bedingung, sich von Rußlands Grenzen fern zu halten.

Wanka, die schöne, fromme Gesellschafterin, war schon während des Transportes dem sibirischen Winter erlegen. Der kalte Norden bedeckte das Grab der Juwelenfreundin mit seinen flimmernden Krystallen.

Iwan Wessalowitsch blieb verschollen; es hat Niemand mehr ein Wort von ihm gehört. Es giebt eine ewige Gerechtigkeit, welche verordnet hat, daß eine jede Sünde den Kaim der sicheren Strafe in sich trägt. – – –

[791]

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TextGrid Repository (2012). May, Karl. Einzelne Erzählungen. Nach Sibirien. Nach Sibirien. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-31B8-6