Die Rehe

Fern von dem fürstlichen keuschen Gemahl
Jubelt ein blühender Jüngling im Saal:
»Hebet die Becher und ruft, daß es schallt:
Freiheit, sie lebe! Die Freiheit im Wald!«
All die Genossen der weidlichen Lust
Bringen das Hoch aus erglühender Brust:
»Lebe die Jugend und Bacchus' Gewalt!
Freiheit, sie lebe! Die Freiheit im Wald!«
Schmetternde Hörner! Dann flüstern sie sacht,
Scherzen und locken die Elfen der Nacht
Aus ihren Waldesverstecken hervor –
Ängstliche Schläge bestürmen das Tor.
»Setz dich ans Feuer, du herziges Kind!«
Lärmt im erleuchteten Hof das Gesind.
»Fürstlich bewirten mit Kuchen dich wir!
Drinnen was suchst du? Bescheide dich hier!«
Rasch in den Saal, in den fürstlichen, tritt
Eine Gescheuchte mit hastigem Schritt,
Über den Busen, vom Laufe bewegt,
Kreuzweis die flehenden Arme gelegt –
Blätter am Röcklein, herbströtlich und falb!
Krausdunkle Haare, noch flattern sie halb,
Süßbraune Augen und schmerzlich dabei,
Blutende Füße – nicht die einer Fei!
»Sage, wer bist du, krauslockiges Haupt,
Schimmernd von purpurnen Blättern umlaubt?«
– »Rehe, die Rehe, so heiß ich im Land
Von meinem braunen Gelock und Gewand –«
»Mein ist die Rehe! Des Herrn ist die Jagd!«
Jubelt der Jüngling, es sträubt sich die Magd...
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»Halali!« hetzt es und tobt es und hallt.
Ringend entwindet sie sich der Gewalt.
Lodernde Augen, wie Blitze der Nacht –
Doch sie besinnt sich. Dann redet sie sacht:
»Rehe, die Rehe, so heiß ich im Land,
Wilpert der Schütz, ist der Vater genannt –
Auf eine Jagd, die dem Herrn nur gebührt,
Hat ihn ein äsendes Rudel verführt.
Siehe, da kniet er, da zielt er und knallt –
Heut hat der Vater gefrevelt im Wald!
Doch deine Förster ergriffen ihn, weh,
Ihn und das sündlich erbeutete Reh.
Ich, von der Angst und dem Jammer gejagt,
Lief in den Wald, eine hilflose Magd.
Da schier das Herz mir im Busen zersprang,
Sah ich die Kerzen und hörte den Klang –
Glaubte die gütige Herzogin hier,
Und nun erzittr ich und steh ich vor dir.
Gib mir den Vater und gib mir ihn bald,
Daß ich getröstet verlasse den Wald!
Gnade!«
Der Herzog gesteht sich verwirrt,
Daß man sich leichtlich im Walde verirrt,
Und er bekennt, vom Gewissen gerührt,
Daß eine Rehe vom Wege verführt.
Murmelnd verlangt er ein Blatt, einen Stift,
Schreibt eine Zeile mit schwankender Schrift:
»Wilpert dem Schützen gewähr ich Pardon!«
Und sie bedankt sich und fort ist sie schon.
Er tritt ans Fenster und öffnet es sacht:
Leuchtende Sterne der ruhigen Nacht ..
Dort eine flüchtige dunkle Gestalt!
Und eine Rehe verschwindet im Wald.

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TextGrid Repository (2012). Meyer, Conrad Ferdinand. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1892). 3. In den Bergen. Die Rehe. Die Rehe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-33EB-6