Die gefesselten Musen

Es herrscht' ein König irgendwo
In Dazien oder Thrazien,
Den suchten einst die Musen heim,
Die Musen mit den Grazien.
Statt milden Nektars, Rebenblut
Geruhten sie zu nippen,
Die Seele des Barbaren hing
An ihren sel'gen Lippen.
Erst sang ein jedes Himmelskind
Im Tone, der ihm eigen,
Dann schritt der ganze Chor im Takt
Und trat den blühenden Reigen.
[26]
Der König klatschte: »Morgen will
Ich wieder euch bestaunen!«
Die Musen schüttelten das Haupt:
»Das hangt an unsern Launen.«
»An euren Launen?...« Der Despot
Begann zu schmähn und lästern.
»Ihr Knechte«, schrie er, »Fesseln her!«
Und fesselte die Schwestern.
Der König wacht' um Mitternacht
Vernahm er leises Schreiten,
Geflüster: »Seid ihr alle da?«
Und Schüttern zarter Saiten.
Er fuhr empor. »Den hellen Chor
Ergreift, getreue Wächter!«
Die Schergen griffen in die Luft
Und silbern klang Gelächter.
Am Morgen war der Kerker leer,
Der Reigen über die Grenze –
Drin hingen statt der Ketten schwer
Zerrißne Blumenkränze.
[27]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Meyer, Conrad Ferdinand. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1892). 1. Vorsaal. Die gefesselten Musen. Die gefesselten Musen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3445-0