Der Musensaal

Jüngst trug ein Traum auf dunkler Schwinge mich
Nach Rom, der ew'gen Stadt. Den Vatikan
Betrat ich. Ich betrat den Musensaal
Verwundert, denn er war ein andrer heut,
Als ich geschaut mit jungen Augen ihn,
Da Pio Nono höchster Priester war.
Verschwunden aus dem edeln Oktogon,
Dem kuppelhellen, war der Musaget,
Apollo, der die Zither zierlich schlug,
Voranzugehn dem Chor tanzmeisterlich.
Die Neune saßen oder standen nicht,
Umher verteilt, in schönen Stellungen –
In wilder Gruppe schritten eilig sie,
Wie Schnitterinnen, die auf blachem Feld
Ein flammendes Gewitter überrascht!
Voran die blutige Melpomene,
Die an den Söhnen rächt der Väter Schuld.
Sie trägt das Schwert und auch den Kranz von Wein.
Wer schreitet, schlicht gewandet, neben ihr?
Kalliope, die keusch und kindlich blickt,
Die den erblindeten Homer geführt,
Die tapfre Helden liebt und Schildgetos
Und Roßgestampf und dann abseits der Schlacht
Im jugendzarten Busen Lose wägt.
Weithallend redet dort ein mächtig Paar,
Terpsichore und Polyhymnia:
»Der Tag ist fern und er erfüllt sich doch:
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Die Völker schreiten einen Reigen einst,
Sich an den Händen haltend, freigesellt,
Vieltausendstimmig dröhnt der Chorgesang!«
– »Dann weicht das Leid! Nicht alles, aber doch
Das meiste Leid!« Euterpe flötet es,
Das liebliche Geschöpf, die Schmeichlerin!
– »Dann füllt«, Erato lacht's mit blühndem Mund,
Die schöne Schelmin, die das Liebeslied,
Das Zechlied für allein unsterblich hält,
–-»Dann füllt ein jeder seine Schale sich
Mit duft'gem Wein und schlürft und keiner darbt!«
– »Törinnen!« gellt ein scharfgeschnittner Mund,
»Verspotte sie, mein Aristophanes!...
Doch eure Kampfgesellin bin ich auch!
Ich morde lachend, was nicht sterben kann,
In trunkner Lust, wie die Bacchante jach
Ein Zicklein oder Reh in Stücke reißt.
Mordlust'ger bin ich noch und tragischer
Als du, mein Schwesterchen Melpomene,
Denn du erhellest unter Zähren dich,
Doch mein Gelächter, Tränen schluchzen drin!«
Thalia rief's und unterm Efeukranz
Verlarvte mit der Satyrmaske sie
Die wehmutvoll ergriffnen Züge sich
Und hob mit nerv'gem Arm das Tympanum.
Die letzte wandelt noch Urania,
Die Gläubige, mit dem gehobnen Blick.
Die andern nennen sie die Schwärmerin,
Doch trennt sie sich von den Geschwistern nicht.
Sie sieht den Sturm der Erdendinge ruhn
In friedevollen Händen immerdar...
Aufflattert das Gewand! Die Locken wehn!
Die Kuppel weicht! In leuchtend tiefem Blau
Entfesselt schwebt der Musenchor einher.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Meyer, Conrad Ferdinand. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1892). 4. Reise. Der Musensaal. Der Musensaal. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-35A5-1