Zweiter Teil

[256]

[256] [1]Das ganze Sein ist flammend Leid

Um sechs Uhr ist es längst dunkel in den Sträflingszellen des Landesgerichtes, denn Kerzen sind dort nicht gestattet, und überdies war es Winterabend – neblig und sternenlos. –

Der Aufseher ging mit dem schweren Schlüsselbund von Tür zu Tür, leuchtete noch einmal durch die kleinen vergitterten Ausschnitte – wie es seine Pflicht ist – und überzeugte sich, daß die Eisenstangen vorgelegt waren. – Endlich verhallte sein Schritt und die Ruhe des Jammers lag über all den Unglücklichen, die der Freiheit beraubt – immer vier beisammen – in den trostlosen Zellen auf ihren hölzernen Bänken schliefen.

Der alte Jürgen lag auf dem Rücken und blickte zu dem kleinen Kerkerfenster empor, das wie mattleuchtender Dunst aus der Finsternis schimmerte. – Er zählte die langsamen Schläge der mißtönenden Turmglocke und überlegte, was er morgen vor den Geschworenen sagen wolle, und ob er wohl freigesprochen würde. –

Das Gefühl der Empörung und des wilden Hasses, daß man ihn, wo er doch vollkommen unschuldig war, so lange eingesperrt hielt, hatte ihn in den ersten[1] Wochen bis in den Traum verfolgt, und oft hätte er vor Verzweiflung am liebsten aufgeschrien. –

Aber die dicken Mauern und der enge Raum – kaum fünf Schritte lang – schlagen den Schmerz nach innen und lassen ihn nicht heraus; – dann lehnt man nur die Stirn an die Wand oder steigt auf die Holzbank, um einen Streifen blauen Himmels durch das Kerkergitter zu sehen.

Jetzt waren diese Regungen erloschen, und andere Sorgen, die der freie Mensch nicht kennt, drückten ihn nieder. –

Ob er morgen freigesprochen würde oder verurteilt, regte ihn nicht einmal so sehr auf, wie er sich früher wohl gedacht hatte. – Geächtet war er, was blieb ihm da als Betteln und Stehlen!

Und fiel das Urteil, so würde er sich erhängen – bei der nächsten besten Gelegenheit, – und sein Traum wäre in Erfüllung gegangen, den er in der ersten Nacht in diesen verfluchten Mauern gehabt.

Seine drei Gefährten lagen schon lange still; – sie hatten nichts Neues zu hoffen, daß sie wach geblieben wären, und die langen Freiheitsstrafen kürzt nur der Schlaf. – Er aber konnte nicht schlafen, seine trübe Zukunft und trübe Bilder der Erinnerung zogen an ihm vorbei: anfangs, als er noch ein paar Kreuzer besaß, hatte er sein Los verbessern, [2] sich hie und da eine Wurst und etwas Milch, manchmal einen Kerzenstummel kaufen können, solange er mit Untersuchungsgefangenen beisammen bleiben durfte. – Später hatte man ihn zu den Sträflingen gesteckt, aus Bequemlichkeitsgründen – und in diesen Zellen wird es bald Nacht – auch in der Seele. –

Den ganzen langen Tag sitzt man und brütet vor sich hin, die Ellbogen auf die Knie gestützt, – nur ab und zu eine Unterbrechung, wenn der Schließer die Tür öffnet und ein Sträfling schweigend den Wasserkrug trägt oder die Blechtöpfe mit den gekochten Erbsen. –

Da hatte er stundenlang gegrübelt, wer den Mord wohl mochte begangen haben, und immer klarer war es ihm geworden, daß nur sein Bruder der Täter sein könnte. – Der Bursche war nicht umsonst so schnell verschwunden. –

Dann dachte er wieder an die morgige Gerichtsverhandlung und den Advokaten, der ihn verteidigen sollte.

Er hielt nicht viel von ihm. Der Mann war immer so zerstreut gewesen und hatte nur mit halbem Ohr zugehört und so devot wie möglich gekatzenbuckelt, wenn der Untersuchungsrichter hinzugetreten war. – Aber offenbar gehörte das schon so mit dazu. – –

[3] Jürgen hörte noch von weitem das Rasseln der Droschke, die immer um dieselbe Stunde am Gerichtsgebäude vorbeifuhr. – Wer wohl darin sitzen mochte? – Ein Arzt – ein Beamter vielleicht. – Wie scharf die Hufeisen auf dem Pflaster klangen. –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Geschworenen hatten Jürgen freigesprochen, – – aus Mangel an Beweisen – und jetzt ging er zum letzten Male hinunter in die Zelle.

Die drei Sträflinge sahen stumpf zu, wie er mit zitternden Händen einen alten Kragen am Hemde befestigte und seinen dünnen, schäbigen Sommeranzug anlegte, den ihm der Aufseher hereingebracht hatte. – Die Zuchthauskleider, in denen er acht Monate gelitten, warf er mit einem Fluche unter die Bank. – Dann mußte er in die Kanzlei beim Eingangstor, – der Kerkermeister schrieb etwas in ein Buch und ließ ihn frei. –

Es kam ihm alles so fremd vor auf der Straße: die eiligen Menschen, die gehen durften, wohin sie wollten und das so selbstverständlich fanden, – und der eisige Wind, der einen fast umwarf. –

Vor Schwäche mußte er sich an einem Alleebaum halten, und sein Blick fiel auf die steinerne Aufschrift über dem Torbogen:

»Nemesis bonorum custos.« – Was das wohl heißen mag? –

[4] Die Kälte machte ihn müde; zitternd schleppte er sich zu einer Bank in den Parkgebüschen und schlief ermattet; fast ohnmächtig ein.

Als er erwachte, lag er im Krankenhause, – man hatte ihm den linken Fuß amputiert, der ihm erfroren war. – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Aus Rußland waren zweihundert Gulden für ihn gekommen, – wohl von seinem Bruder, den das Gewissen gemahnt haben mochte, und Jürgen mietete ein billiges Gewölbe, um Singvögel zu verkaufen. –

Er lebte kümmerlich und einsam und schlief hinter einem Brettervorschlag in seinem armseligen Laden.

Wenn des Morgens die Bauernkinder in die Stadt kamen, kaufte er ihnen die kleinen Vögel um einige Kreuzer ab, die sie in Schlingen und Fallen gefangen hatten, und steckte sie zu den übrigen in die schmutzigen Käfige. – – –

Von dem eisernen Haken in der Mitte des Gewölbes hing an vier Stricken befestigt ein altes Brett herab, auf dem ein räudiger Affe kauerte, den Jürgen von seinem Nachbarn – dem Trödler – gegen einen Nußhäher eingetauscht hatte.

Tag für Tag blieben die Schuljungen stundenlang vor dem blinden Fenster stehen und starrten den Affen an, der unruhig hin- und herrückte und mürrisch [5] die Zähne fletschte, wenn ein Käufer die Tür öffnete.

Nach ein Uhr kam gewöhnlich niemand mehr, und dann saß der Alte auf seinem Schemel, blickte trübselig auf sein hölzernes Bein und brütete vor sich hin, was wohl jetzt die Sträflinge machen mochten und der Herr Untersuchungsrichter, und ob der Advokat noch immer auf dem Bauch vor ihm läge. –

Wenn dann ab und zu der Spitzel, der in der Nähe wohnte, vorüberging, wäre er am liebsten aufgesprungen, um ihm ein paar mit der Eisenstange da über seine bunten Schandlappen zu hauen. –

O Gott, daß doch das Volk einmal aufstünde und die Schurken erschlüge, die arme Teufel einfangen und für Taten bestrafen, die sie selbst insgeheim und mit Lust begehen. – – –

An den Wänden übereinandergeschichtet, standen die Käfige bis fast zur Decke, und die kleinen Vögel flatterten, wenn man ihnen zu nahe kam. – Viele saßen ganz traurig und still und lagen frühmorgens mit eingesunkenen Augen tot auf dem Rücken. –

Jürgen warf sie dann achtlos in den Schmutzkübel, – sie kosteten ja nicht viel, – und da es Singvögel waren, hatten sie auch kein schönes Gefieder, das man noch hätte verwenden können. –

[6] Ruhig war es eigentlich im Laden nie, – ein ewiges Scharren und Kratzen und leises Piepsen, – doch das hörte der Alte nicht, – er war zu sehr daran gewöhnt. – Auch der unangenehme faule Geruch störte ihn nicht weiter. –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Einmal hatte ein Student eine Elster verlangt, und als er fort war, bemerkte Jürgen, dem an diesem Tage ganz eigentümlich zumute war, daß der Käufer ein Buch hatte liegen lassen. –

Obwohl es deutsch war, wenn auch aus dem Indischen übersetzt, wie es auf dem Titelblatte hieß, verstand er doch so wenig davon, daß er den Kopf schütteln mußte. – Nur eine Strophe las er immer wieder flüsternd durch, weil sie ihn so schwermütig stimme:


Das ganze Sein ist flammend Leid.

Wer dies mit weisem Sinne sieht,

Wird bald des Leidenslebens satt.

Das ist der Weg zur Läuterung.


Als dann sein Blick auf die vielen kleinen Gefangenen fiel, die elend in den engen Käfigen saßen, zog es ihm das Herz zusammen und er fühlte mit ihnen, als ob auch er ein Vogel sei, der um seine verlorenen Fluren trauert.

Ein tiefer Schmerz zog in seine Seele, daß ihm die Tränen in die Augen traten. – Er gab den [7] Tieren frisches Wasser und schüttete ihnen neues Futter zu, was er sonst nur frühmorgens tat.

Dabei mußte er der grünen, rauschenden Wälder im goldenen Sonnenglanz gedenken, die er schon lange vergessen hatte wie alte Märchen aus früher Jugend. – –

Eine Dame in Begleitung eines Dieners, der ein paar Nachtigallen trug, störte ihn in seinen Erinnerungen. –

»Ich habe diese Vögel bei Ihnen gekauft,« sagte sie, »da sie aber zu selten singen, müssen Sie mir sie blenden.« –

»Was? blenden?« stotterte der Alte.

»Ja, – blenden. – Die Augen ausstechen oder brennen, oder wie man das macht. – Sie als Vogelhändler müssen das doch besser verstehen. – Sollten auch vielleicht ein paar eingehen, schadet das nichts, so ersetzen Sie mir die fehlenden Stücke einfach durch andere. – Und schicken Sie sie mir bald zu. – Meine Adresse wissen Sie doch? – Adieu.« –

Jürgen dachte noch lange nach und ging nicht schlafen. –

Die ganze Nacht saß er auf seinem Schemel, – stand auch nicht auf, als der Nachbar, – der Trödler, – den es befremdete, daß der Laden so lange offen blieb, an die Fensterscheibe klopfte. –

[8] Er hörte es in der Dunkelheit in den Käfigen flattern und hatte die Empfindung, als ob kleine weiche Fittiche an sein Herz schlügen und um Einlaß bäten. –

Als der Morgen graute, öffnete er die Türe, ging ohne Hut bis auf den öden Marktplatz und sah lange in den erwachenden Himmel. –

Dann kehrte er still zurück in seinen Laden, machte langsam die Käfige auf – einen nach dem andern – und wenn ein Vogel nicht sogleich herausflog, holte er ihn mit der Hand aus dem Bauer. – – –

Da flatterten sie in dem alten Gewölbe umher, alle die kleinen Nachtigallen, Zeisige und Rotkehlchen, bis Jürgen lächelnd die Tür öffnete und sie ins Freie, in die luftige, göttliche Freiheit ließ – – –

Er sah ihnen nach, bis er sie aus den Augen verlor, und dachte an die grünen, rauschenden Wälder im goldenen Sonnenglanz. – – –

Den Affen band er los, nahm das Brett von der Decke, daß der große eiserne Haken frei wurde.

Den Strick, den er daran hängte, wand er zu einer Schlinge und legte sie sich um den Hals. – Nochmals zog der Satz aus dem Buche des Studenten durch seinen Sinn, dann stieß er mit dem Stelzfuß den Schemel unter sich fort, auf dem er stand.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Meyrink, Gustav. Erzählungen. Des Deutschen Spiessers Wunderhorn. Zweiter Teil. Das ganze Sein ist flammend Leid. Das ganze Sein ist flammend Leid. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-371F-3