[74] Amor der Zweite

(Sommerabend im Park des Fürsten. Um eine Marmorbank zu Füßen der Medicëischen Venus versammelt sich eine kleine Gesellschaft, den Dichter in ihrer Mitte bittend, sie mit neuen Versen zu erfreuen. Er beginnt unter einigen galanten Entschuldigungen, während die Schönen und ihre Kavaliere sich auf und um die Bank erwartend gruppieren. Verstecktes Lachen, Flüstern und Fächerschlagen begleitet den leichten Vortrag, nach dessen Beendigung man sich lebhaft plaudernd und scherzend wieder in den hohen dämmrigen Laubgängen des Parks zerstreut, nicht ohne den Poeten mit zweien seiner liebenswürdigsten Verehrerinnen einer anmutigen Einsamkeit zu überlassen.)


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Das Schloß liegt unbewohnt seit Jahr und Tag,
der Park verwildert, pfadlos, unzugänglich,
dicht eingestrüppt von wirrem Weißdornhag.
Wo Grotten, Treppen, Hügel uranfänglich:
Verfall nun: Stämme, Schutt, gesunkner Grund ...
des Friedens Stätte einst, nun wüst und bänglich.
In dieses Parkes Tiefe birgt ein Rund
von Birken zweier Götter Steingebilde,
den Alten hochberühmt durch ihren Bund –:
Den Gott des Krieges, mit zerbrochnem Schilde,
und sie, der Liebe hohe Königin,
in wohl gewahrter Lieblichkeit und Milde.
Sie blicken zärtlich gen einander hin,
und bunte Falter tragen ihre Grüße, –
doch kennt ihr auch des Spiels geheimen Sinn? ...
In einer Sommermondnacht Wundersüße,
in einer Nacht, da eine Nachtigall
tot niederstürzte vor der Göttin Füße,
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so wild war ihrer Sehnsucht Überschwall,
in einer solchen Nacht des Drangs der Säfte
geschah der dunkle, unerhörte Fall,
daß aus dem Übermaß der Lebenskräfte
ein Strom in jenes Paar hinüberrann
und es mit trügerischem Leben äffte –:
Herab zur Erde springen Weib wie Mann ...
Und stürmisch, wie sich Glut und Flut umfassen,
vergessen sie den langen, kalten Bann ...
Doch schon beginnt die Lippe zu erblassen,
versagt das Blut den weitern tollen Lauf –:
Sie müssen schaudernd von einander lassen ...
Nach ihren Säulen streben sie hinauf –
allein umsonst –: Sie sinken, wo sie stehen:
Und wieder nimmt sie Steines Starrheit auf.
Zwölf Monde gingen hin, seit dies geschehen,
als gleicher Frist das Gleiche sich begab:
Man wachte auf, doch Venus – lag in Wehen!
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Und alsobald erscheint ein muntrer Knab',
zum Leben sichtlich denn zum Tod bereiter,
und bricht sich schon ein Birkenreislein ab ...
Und während Mars und Venus innig heiter
ihm zusehn, zielt er schon nach links und rechts
auf Mäuse, Hummeln, Vögel und so weiter.
Und merkt es nicht im Eifer des Gefechts,
daß seine Eltern still und stiller werden, –
bis plötzlich er der Letzte des Geschlechts.
Er springt hinzu mit kindlichen Gebärden,
er ruft und tastet, –: Stein und nichts als Stein!
Und eben erst entrückt dem Schoß der Erden,
von niemandem belehrt als sich allein,
verwirft er endlich all die eitlen Fragen
und richtet sich in seinem Reiche ein.
Ein freundlich Heer von ungetrübten Tagen,
so schien es, war dem losen Schelm beschert ...
Wie manches Tierherz mußte ihn verklagen:
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Denn ach wie manches ward von ihm versehrt!
Wenn früher schon die Liebe hoch hier blühte,
so war ihr jetzt kein Herz mehr abgekehrt.
Bis eines Tags ein Paar bekränzter Hüte,
seit Jahr und Tag das erste Menschenpaar,
sich kreuz und quer den alten Park durchmühte.
Weh, Amor! nun ereilt dich die Gefahr! –:
Denn, kaum daß jene durchs Gebüsch gedrungen, –
der kleine Gott schon Stein geworden war.
»O sieh doch! sieh!« so jubeln sich die jungen
Entdecker zu – »Ein Fund! ein Schatz! ein Hort!«
Das Mädchen ist zu Amorn hingesprungen –:
Der spielt noch, steinern, seine Rolle fort
und steht mit trotzig aufgespanntem Bogen –
und treibt den Jüngling so zum rechten Wort ...
Von jäher Röte Flammen überflogen,
bekennt sein Lieb sein Werben ihm zurück –
und fühlt sich schon an seine Brust gezogen ...
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Wer glaubte nicht der beiden reinem Glück?
So laßt uns nur die Frage noch beschwichten,
wie sich beschließt das wunderliche Stück.
Man wollte auf den Kleinen nicht verzichten
und nahm ihn mit, er war ja »herrnlos Gut«!
Die Eltern glückt' es wieder aufzurichten.
Sie ließ man wieder in der Wildnis Hut.
Sie blicken immer noch voll Zärtlichkeiten,
doch ewig nun erloschen schweigt ihr Blut.
Indessen steht vor Amor man (dem Zweiten),
als allbekanntem »Raub«, bewundernd da ...
Man glaubt, er stamme aus Canovas Zeiten ...
Ich aber lächelte, als ich ihn sah.

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TextGrid Repository (2012). Morgenstern, Christian. Gedichte. Auf vielen Wegen. Gedichte vermischten Inhalts. Amor der Zweite. Amor der Zweite. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-39E8-D