Ruf aus der Not

Marat! Bakunin! Steigt aus eurer Gruft empor!
Wacht auf, schaut um euch, staunt, empört euch, lebt und helft!
Oh, unerhört in aller Menschheit Freiheitskampf,
seht sterben in Verrat des deutschen Volkes Glück!
Marat! Bakunin! Gebt mir Geist von euerm Geist!
Sie, die euch liebt, die euerm roten Blut entstammt,
des Volks Revolution, der ich mich angelobt,
sie windet ekelnd sich im Arm des geilen Feinds,
der sie will Mutter machen seiner Lügenbrut.
Es ist derselbe, der das Volk zum Krieg betrog,
es lüstern machte auf den Ruhm des Brudermords,
es heucheln lehrte für der eignen Knechte Gier;
der, selber mit der Freiheit Maske überlarvt,
der Freiheit Stimme süßlich nachäfft und ihr Kleid,
das rote Kleid, um seine Gier und Blöße warf.
Wohl wehrten wir des Erzverräters Anschlag ab.
Doch er, bewahrt im Pupurtuch des Freiheitskleids,
zog aus dem Pfuhl, in den ergrimmt das Volk sie stieß,
die Wehr, die rostige, mit allem Mord und Gift,
mit Feuer, Eisen, Höllenunrat, Kot und Tod,
die der gestürzten Mächte morschen Thron geschützt;
zog die gestürzten Mächte selber aus dem Pfuhl,
schirrt vor den angemaßten Wagen ihr Gespann
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und ward – ihr strenger Herr? Ach nein, ihr Kutscher nur,
der sie zu neuen Siegen und Triumphen fährt ...
Marat! Bakunin! Seht den ungeheuren Spaß!
Das schauerliche Zerrbild seht der Rebellion!
Der ausgefahrne Karrn der deutschen Herrlichkeit,
da rumpelt er, die Achsen neu mit Blut geölt,
die alte Firma modisch schwarzrotgold lackiert,
im Innern, würdig auf verschlißnem Polstersitz,
die viribus-unitis-Bärte aufgewichst,
die aus dem Totenreich erstandnen Herrn des Lands.
Die Augenbraue zuckt, die Hand am Schwertgriff winkt,
und der Lakaienschwarm teilt die Befehle aus
im Namen demokratischer Gerechtigkeit.
Und hinterher – gigantischer Gespensterzug! –
der trübe Abhub der geschlagenen Armee,
verwildert, heimatlos geworden, rückverirrt,
Kriegshasardeure, Abenteurer, Landsknechtsvolk,
in Jahren Kriegs an Willkür, Raub und Mord gewöhnt,
der Kameradentreue schon im Felde fremd
und nur dem Satz gerecht: Der Nächste ist dein Feind,
und wo du deinen Fuß hinsetzt, ist Kriegsgebiet,
wo man, wie das in Belgien und in Polen war,
des Armen letzte Milchgeiß überm Feuer brät ...
So ziehn sie jetzt im Vaterland den Obern nach,
die Ärmellöcher ihres grauen Rocks geflickt
mit Eicheln, Rautenzeug und Edelweiß aus Blech,
den Kopf im überstülpten Stahlhelm breitgedrückt,
hinschreitend wie die Polizei der Nemesis.
Und dieser Zug, verstärkt vom Bürgermob
und Bengeln, die der Schule überdrüssig sind
und Lorbeeren suchen wollen auf dem Schlachtgefild
der Ruh und Ordnung und des Aktienkapitals.
Und Kriegsgeschirr, Kanonen, Munitionsgefährt
und starke Pferde, die der Bauer brauchen könnt,
und Minenwerfer, Mitrailleusen, Blechmusik,
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Feldküchen, Gasgebläse, Fahnen allerlei
sind Lichter auf dem kriegerischen Friedensbild. –
Vorn aber auf dem Kutschbock seht ihr selber ihn,
den deutschen Alba, Henker seines eignen Volks,
umwickelt mit der Freiheit roter Tunika,
gehorsam Proletarierleichen säend rings ...
Marat! Bakunin! Steigt aus eurer Gruft empor
und ruft die stummen Manen derer auch herbei,
die, schon gefällt vom Giftschwert schnöden Volksverrats,
uns Führer waren, Liebknecht, Rosa Luxemburg,
Landauer, meinen Lehrer und geliebten Freund,
die vielen, die gemordet sind, auch Leviné,
der heldisch fiel im Trugschein der Gesetzlichkeit;
sie alle ruft herbei, die Tausende des Volks,
die bei euch ruhn in der Geschichte Pantheon,
zu stärken uns zur Sammlung und zur großen Tat,
den Spuk zu bannen, zu erwecken Volk und Land,
herabzureißen jene von dem Führersitz,
die tiefer, ewiger Verachtung würdig sind
und deren Name nie ein Lied entweihen mag.
Er mag zerstäuben in der Asche all des Brands,
den wir entzünden als des Unrechts ruhmlos Grab,
in dessen Sold sie ihren Volksverrat begehn.
Entkleiden wollen wir sie ihres roten Schmucks.
Von der Verräterfratze reißen wollen wir
die lächelnde Verführermaske des Betrugs ...
Marat! Bakunin! Gebt von eurer Leidenschaft
uns, denen dieses Volks Revolution vertraut,
daß wir die Freiheit aus dem Arm des Trugs befrein,
die nie geschwängert werde von dem Eitersaft,
aus dem der Künftigen Glück sich nicht gebären kann.
Befruchtet, Tote, uns mit Kraft und Zorn und Haß,
das Werk zu tun, das, wenn ihr Rechenschaft verlangt,
so leuchtend über aller Zukunft Wegen strahlt,
daß ihr es selbst als Krönung eures Werks erkennt.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Mühsam, Erich. Lyrik und Prosa. Sammlung 1898-1928. Erster Teil: Verse. Fanale. Ruf aus der Not. Ruf aus der Not. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4454-2