Versnot

Der gute Saft ist im Gehirn erfroren,
der sich in Verse zu ergießen pflegt.
So Blei wie Feder stecken unbewegt,
von Haaren überflutet, an den Ohren.
Heiz mir die Seele, liebe Sonne du!
Blaublümlein, weh mir Düfte in die Nase!
Umsäusle mich, o Zephirwind, und blase
mir Jamben oder Anapaeste zu!
Warum, ihr Tränendrüsen, wahrt in steifer
Verstocktheit ihr das Naß in den Gehäusen?
Die Wimper klappt. Nun öffnet eure Schleusen,
und spritzt mir salzige Fluten an den Kneifer!
Sehnsucht und Liebe, himmlische Geschwister,
packt mich beim Schopf! Ergreift mich, Todesschauer! ...
Doch weh, das süße Ahnen all ward sauer,
geschlossen bleibt das Leidenschaftsregister.
Oh, teure Muse, stimme mich ekstatisch:
Enthülle deine Reize mir verführerisch,
und laß mich dichten – episch oder lyrerisch,
und, wenn's nicht anders sein kann, auch dramatisch!
Du hast mir, Muse, manches Kind geboren:
Dein Leib schwoll oft von meiner Dichterkraft,
der es vermocht, der warme Herzenssaft,
der gute Saft ist im Gehirn erfroren.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Mühsam, Erich. Lyrik und Prosa. Sammlung 1898-1928. Erster Teil: Verse. Dichter und Vagabund. Versnot. Versnot. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-448D-6