[94] Morgendämmerung
Ich steh an einer Linde
Und lausche durch den Hain;
Und rufe dir, Belinde,
Voll stiller Liebespein.
Mit purpurroten Wangen
Voll schmelzendem Verlangen
Hüpft Zephyr durch den Hain
Und suchet seine Flora
Am Busen der Aurora,
Geweckt von gleicher Pein.
Noch schlummernd unter Rosen,
Die ihre Brust umglühn
Und spielend sie liebkosen,
Sieht ihn die Göttin fliehn.
Sie hascht ihn bei den Locken,
Die seinen Nacken fliehn,
Flicht Hyacinthenglocken
In seine goldnen Locken
Und herzt und küsset ihn.
Nun tanzen sie an Quellen
Verliebt im goldnen Hain,
Versilberen die Wellen,
Umsticken rund die Quellen
Mit Maienblümelein.
Wo find' ich dich, Belinde,
Belinde, du mein Licht?
Ich suche, ach ich finde
Dich unter Rosen nicht.
Ich suche dich in Sträuchen,
Die Vögelchen durchschleichen,
Die, wie ich, brünstig glühn.
Ich tappe unter Eichen,
Wo Lilj' und Veilchen blühn.
Der Tau fällt von den Zweigen
Auf meine Locken hin.
[95]
Schon ist ein Heer von Westen
Im Myrthenbusch erwacht
Und spielet unter Aesten.
Schon eilet von den Festen
Nach durchgelachter Nacht
Der frohe Schwarm von Scherzen
Mit abgebrannten Kerzen
In bunter Flügel Tracht.
Schon steigt vom goldnen Wagen,
Den Silberwolken tragen,
Aurora in das Tal,
In dicht verflochtnen Buchen
Den Liebling aufzusuchen,
Gejagt von Amors Qual.
Die goldnen Locken fliegen,
Von Rosen durchgeschmückt –
Sie sieht den Schönen liegen
Mit seligem Vergnügen,
Der ihre Brust beglückt.
Sie geht und pflückt Narcissen
Und kränzt ihn unter Küssen.
Von ihres Busens Schlägen
Erwacht der schöne Knab –
Ein bunter Blumenregen
Fällt über ihn herab.