Ostara

1.

Klinge denn, klinge, mein Saitenspiel,
will mich nicht grämen noch schämen:
daß mir die Liebe vom Himmel fiel,
mag es die Welt vernehmen!
Küsse denn, küsse zum andern Mal,
leuchtende Frühlingssonne,
mir aus den Augen mit goldigem Strahl
selige Tränen der Wonne!
[154]
Rausche denn, rausche, mein blaues Meer,
flute aus allen Borden:
eisige Nebel drückten dich schwer –
nun ist es Lenz geworden!
Lachender Frühling, ich grüße dich,
sprudelnder Jugendbronnen:
all deine Schönheit erblüht für mich,
mein sind all deine Wonnen!

2.

Vom Himmel ist der Frühlingsregen
herabgerauscht die ganze Nacht, –
ich hör im Traum die Tropfen fallen
und habe lächelnd dein gedacht.
Und nun im lichten Frührotkleide
der Tag vor meiner Türe steht,
nun schließ ich unter Tränenströmen
dich in mein heiligstes Gebet.

3.

Komm du, wir wollen traulich schreiten
wie selige Kinder, Hand in Hand,
durch blütenschwangre Frühlingsweiten,
durch warmbesonnten Meeressand.
Die Luft erklingt, die Wipfel lauschen,
die Sonne grüßt uns trunknen Blicks, –
und über unsere Seelen rauschen
die Wogen des Ostaraglücks.
[155]
Das ist ein Wachsen und ein Werden,
wir wandeln wie voll süßen Weins:
Eins sind wir mit der Kraft der Erden,
und mit dem Himmel sind wir eins.
Wie rings die Ferne sich entschleiert
in Glut und Glanz und Windeswehn,
so – Aug in Auge! – leuchtend feiert
die Gottheit in uns Auferstehn!

4.

Blumen pflückt ich auf der Frühlingswiese,
blaue Blumen aus dem Paradiese,
Blumen mit den tiefen quellenfeuchten
Augen, die wie Menschenaugen leuchten.
Ach, aus diesen Kelchen laß mich nippen:
dürstend heb ich sie an heiße Lippen,
und ich trinke – und ein Sommersehnen
träumt in mir, ich trinke deine Tränen....

5.

Wir gingen schweigend Hand in Hand
über das reife Ackerland,
über die glühe Haide, –
im fernen Westen starb das Licht:
wir grauten uns im Dunkel nicht,
wir lachten im Leide.
[156]
Und rot erglomm der junge Tag,
und laut erscholl der Lerchenschlag, –
wir weinten vor Liebe
und wußten: hinter den Bergen lag
ein Märchenreich, ein Sonnentag,
der ewig bliebe.

6.

Gedanke du voll stiller Majestät,
der mir durchs Hirn an sonnigen Tagen geht,
wenn rings die Welt nach Frucht und Reife ringt,
du Lied der Sehnsucht, das in lauer Nacht,
wenn nur der Mond auf blauen Bergen wacht,
das rauschende Blut in meinen Adern singt –
Du Lebensflut, die aus den Tiefen quillt
begrabnen Seins und rastlos wächst und schwillt
und von Geschlecht sich zu Geschlecht ergießt,
verborgener Stern im tiefsten Weltenraum,
der schlummernd seine Strahlen keusch verschließt, –
du meiner Liebe rosiger Knospentraum:
ich fordre dich vom Himmel kraft der Kraft
die dieses Frühlings holde Wunder schafft,
die, Purpurblut, in schwellender Traube schäumt,
die im begrenzten Raum Unendlichkeiten träumt,
ich glühe nach dir, wie Frührot nach dem Tag!
[157]
Aufjauchzend steh ich vor der Zukunft Tor
und klopfe an mit starkem Herzensschlag:
die schweren Marmorflügel drehn sich schon
und klaffen weit – –
Auf beiden Händen heb ich dich empor,
hebe dich zu des Geisterkönigs Tron,
daß er mit Feuer deine Stirne weiht,
du meine Sehnsucht, meine Ewigkeit:
Mein ungeborener Sohn!
[158]

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Müller-Jahnke, Clara. Ostara. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-5407-F