[60] Musterkarte

Der Glockenguß zu Breslau

War einst ein Glockengießer
Zu Breslau in der Stadt,
Ein ehrenwerther Meister,
Gewandt in Rath und That.
Er hatte schon gegossen
Viel Glocken, gelb und weiß,
Für Kirchen und Kapellen
Zu Gottes Lob und Preis.
Und seine Glocken klangen
So voll, so hell, so rein:
Er goß auch Lieb' und Glauben
Mit in die Form hinein.
Doch aller Glocken Krone,
Die er gegossen hat,
Das ist die Sünderglocke
Zu Breslau in der Stadt.
Im Magdalenenthurme
Da hängt das Meisterstück,
Rief schon manch starres Herze
Zu seinem Gott zurück.
Wie hat der gute Meister
So treu das Werk bedacht!
Wie hat er seine Hände
Gerührt bei Tag und Nacht!
[61]
Und als die Stunde kommen,
Daß Alles fertig war,
Die Form ist eingemauert,
Die Speise gut und gar:
Da ruft er seinen Buben
Zur Feuerwacht herein:
Ich lass' auf kurze Weile
Beim Kessel dich allein.
Will mich mit einem Trunke
Noch stärken zu dem Guß;
Das giebt der zähen Speise
Erst einen vollen Fluß.
Doch hüte dich, und rühre
Den Hahn mir nimmer an:
Sonst wär' es um dein Leben,
Fürwitziger, gethan!
Der Bube steht am Kessel,
Schaut in die Gluth hinein:
Das wogt und wallt und wirbelt,
Und will entfesselt sein.
Und zischt ihm in die Ohren,
Und zuckt ihm durch den Sinn,
Und zieht an allen Fingern
Ihn nach dem Hahne hin.
Er fühlt ihn in den Händen,
Er hat ihn umgedreht:
Da wird ihm angst und bange,
Er weiß nicht, was er thät.
Und läuft hinaus zum Meister,
Die Schuld ihm zu gestehn,
Will seine Knie' umfassen
Und ihn um Gnade flehn.
Doch wie der nur vernommen
Des Knaben erstes Wort,
Da reißt die kluge Rechte
Der jähe Zorn ihm fort.
[62]
Er stößt sein scharfes Messer
Dem Buben in die Brust,
Dann stürzt er nach dem Kessel,
Sein selber nicht bewußt.
Vielleicht, daß er noch retten,
Den Strom noch hemmen kann: –
Doch sieh, der Guß ist fertig,
Es fehlt kein Tropfen dran.
Da eilt er, abzuräumen,
Und sieht, und will's nicht sehn,
Ganz ohne Fleck und Makel
Die Glocke vor sich stehn.
Der Knabe liegt am Boden,
Er schaut sein Werk nicht mehr.
Ach, Meister, wilder Meister,
Du stießest gar zu sehr!
Er stellt sich dem Gerichte,
Er klagt sich selber an:
Es thut den Richtern wehe
Wohl um den wackern Mann.
Doch kann ihn Keiner retten,
Und Blut will wieder Blut:
Er hört sein Todesurthel
Mit ungebeugtem Muth.
Und als der Tag gekommen,
Daß man ihn führt hinaus,
Da wird ihm angeboten
Der letzte Gnadenschmaus.
Ich dank' euch, spricht der Meister,
Ihr Herren lieb und werth,
Doch eine andre Gnade
Mein Herz von euch begehrt.
Laßt mich nur einmal hören
Der neuen Glocke Klang!
Ich hab' sie ja bereitet:
Möcht' wissen, ob's gelang.
[63]
Die Bitte ward gewähret,
Sie schien den Herrn gering,
Die Glocke ward geläutet,
Als er zum Tode ging.
Der Meister hört sie klingen,
So voll, so hell, so rein:
Die Augen gehn ihm über,
Es muß vor Freude sein.
Und seine Blicke leuchten,
Als wären sie verklärt:
Er hatt' in ihrem Klange
Wohl mehr als Klang gehört.
Hat auch geneigt den Nacken
Zum Streich voll Zuversicht;
Und was der Tod versprochen,
Das bricht das Leben nicht.
Das ist der Glocken Krone,
Die er gegossen hat,
Die Magdalenenglocke
Zu Breslau in der Stadt.
Die ward zur Sünderglocke
Seit jenem Tag geweiht:
Weiß nicht, ob's anders worden
In dieser neuen Zeit.

Thränen und Rosen

Ein Knäblein ging spazieren
Wohl um die Abendstund'
In einem Rosengarten,
Da blühten Blümlein bunt.
Er ging wohl auf und nieder
Vor eines Gärtners Haus,
Da lag ein Mägdlein schöne
Zum Fensterlein heraus.
[64]
Ein Röslein thät er brechen,
Warf's in das Fensterlein:
Thust schlafen oder wachen,
Herzallerliebste mein?
»Ich habe nicht geschlafen,
Ich habe nicht gewacht,
Ich habe nur geträumet,
An dich hab' ich gedacht.«
Du hast ja auch geweinet,
Dein' Äuglein sind so naß;
Eine Thrän' fiel aus dem Fenster,
Da wuchs eine Ros' im Gras.
»Und ist eine Ros' gewachsen,
So wuchs sie nur für dich,
Und wenn ich hab' geweinet,
So weint' ich nur um mich.«
Was zog er aus der Tasche?
Ein seidnes Tüchelein.
Nimm hin, Herzallerliebste,
Wisch' ab dein' Äugelein!
Und bin ich in der Fremde,
Weit, weit von deinem Haus,
So weine deine Thränen
Zum Fenster nicht hinaus.
So weine sie bedächtig
All' in das Tuch hinein,
Damit kein böser Bube
Zertritt die Röselein.

Fastnachtslied von den goldenen Zöpfen

Mägdlein mit den goldnen Zöpfen,
Mägdlein mit dem goldnen Haar!
Oder ist es wohl von Seide,
[65]
Oder ist' s von beiden gar?
Nenn' ich's goldgediegne Seide?
Nenn' ich's seidenfeines Gold?
Und welch zartes Elfenhändchen
Hat die Flechten dir gerollt?
Mägdlein mit den goldnen Zöpfen! –
Und an jedem hängt ein Herz,
Hier ein junges, da ein altes,
Hier mit Lust, und da mit Schmerz.
Und das meine, ach das meine! –
Ist kein einzig Zöpfchen leer?
Mägdlein mit den goldnen Zöpfen,
Dichterherzen sind nicht schwer.
Und die goldnen Zöpfe fliegen
Um den Nacken, um den Leib,
Und das Fliegen und das Schmiegen
Ist der Herzen Zeitvertreib.
Einer hat sich fast verirret
Um die Schulter ganz allein:
Mägdlein, streich' ihn nicht zurücke,
Freiheit steht dem Haar so sein.
Mägdlein mit den goldnen Zöpfen,
Mägdlein mit dem goldnen Haar!
Herz an Herz ein stilles Plätzchen,
Eins ist Eins, und Zwei ein Paar.
Löse deine goldnen Flechten,
Alle Herzen fallen aus,
Und nur eines, und nur meines,
Mägdlein, trägst du mit nach Haus!

Des Finken Gruß

Im Fliederstrauch ein Finke saß
Und sang,
Er sang wohl dies und sang wohl das,
Was klang.
[66]
Nun werft den Winter aus der Thür
Weit, weit!
Der liebe Mai ist wieder hier,
Ihr Leut'!
Er hat ein grünes Röckchen an
Von Gras,
Hat bunte blanke Knöpfe dran
Von Glas.
Ein großes Auge hat der Fant,
Ist blau:
Paßt auf, ob nicht durch Thür und Wand
Er schau'!
Sein Odem tränkt so frisch und rein
Die Luft,
Sein Haar muß ganz gepudert sein
Mit Duft.
Er weiß mit Jungfern umzugehn
Gar fein,
Die Burschen auch ihn gerne sehn
Im Hain.
Den Kindern bringt er Spielwerk mit:
Woher?
Aus Nürnberg von dem Blumenschmidt,
Daher!
Und was soll für die Philister sein?
Ja was?
Die fangen sich Mücken und Fliegen ein
Zum Spaß.

Des Finken Abschied

Es saß ein Fink auf grünem Zweig,
Der war so frisch und blätterreich,
Und sang wohl Dies und Jenes:
[67]
Durch Lenz und Sommer und Herbst er sang,
Hätt' da gesungen sein Lebelang,
Wär' nicht der Winter kommen.
Der Winter kam mit Saus und Braus:
»Ihr Müßiggänger, zum Reich heraus,
Ihr Flattrer und Sänger und Horcher!
Herab vom Baum, du grünes Blatt!
Zum Bauen und zum Brennen hat
Der Herr das Holz erschaffen.«
Da geht im Hain das Schütteln los,
Und flugs steht Alles blank und bloß,
Bis auf den Zweig des Finken.
Jetzt, naseweises Vöglein, flieh'!
Mit solcher Staatsökonomie
Da ist nicht viel zu spaßen.
Und 's Vöglein flog und sang: Ade!
Da warf der Winter Reif und Schnee
Ihm hinterdrein, und traf's nicht.
Der Finke lacht' aus voller Kehl':
Bewahre Gott jede Christenseel'
Vor diesem Landesvater!
Und als ich 'mal nach Welschland zog,
Manch Vöglein mit dem Wandrer flog,
Da war auch jenes drunter:
Und wär's gewest eine Nachtigall,
So hätt' mein Lied einen bessern Schall,
Ich hab's ihm nachgesungen.

Wir wissen uns zu finden

Parodirende Glosse.

Lerche als Thema.

Sollst nicht murren, sollst nicht schelten,
Wenn die Sommerzeit vergeht,
Denn es ist das Loos der Welten,
Alles kommt und Alles geht.
[68] Junge Frau.

Hör' ich's da nicht zwölfe schlagen?
Und er ist noch nicht zu Haus.
Ach, schon in den Flittertagen
Ist's mit seinem Lieben aus.
Hat er Pfeifen nur und Karten,
Mag zu Haus die Gattin warten:
Was bekümmert ihn ihr Schmerz?
Doch, er soll es mir entgelten! –
Still, er kommt, o still, mein Herz!
Sollst nicht murren, sollst nicht schelten.
Rosenwürmchen.

Kam der Sommer hergezogen,
Rosenblüthchen war dabei,
Bin ich hinterdrein geflogen,
Wußte nicht, ob's schicklich sei.
Rosenblüthchen, woll' mir geben
Nur ein Blättchen, drauf zu leben!
Sprach es: Klein ist dein Bewerben,
Doch gar schnell mein Duft verweht.
Sprach ich: Mit dir will ich sterben,
Wenn die Sommerzeit vergeht.
Philosophische Trösterin.

Schwester, trockne deine Zähren!
Hin ist hin, und todt ist todt.
Nichts bei uns kann ewig währen,
Heute bleich, was gestern roth.
Eins auch wolle noch bedenken:
Unglück kann zum Glück sich lenken,
Einen Bessern kannst du frein.
Reiche Witwen sterben selten:
Darum, Schwester, gieb dich drein,
Denn es ist das Loos der Welten.
Leipziger Gastwirth.

Ja, wenn's immer Messe wäre,
Und die Mess' auch immer gut,
Gab' ich mein Hotel, auf Ehre,
Nicht um einen Rathsherrnhut.
[69]
Doch, schon kleiner wird die Schüssel,
Und ich seh' die vielen Schlüssel
Wieder hängen an den Wänden.
Drum, wer seine Kunst versteht,
Denke, wenn er's hat in Händen:
Alles kommt und Alles geht.

Sehnsucht und Erfüllung

Parodirende Glosse.

Thema von Tieck.

Süße Ahnungsschauer gleiten
Über Fluß und Flur dahin,
Mondenstrahlen hold bereiten
Lager liebetrunknem Sinn.
Der Prächtige.

Sinkt hinab die güldne Sonne,
Steigen auf zwei Monde blau.
Blümlein, ist es Liebeswonne,
Daß ihr weint so hellen Thau?
Ja, ihr theilet mein Verlangen,
Ja, von Lust und Leid umfangen,
Bebt die mailiche Natur;
Durch des Himmels dunkle Weiten,
Über Berg und See und Flur
Süße Ahnungsschauer gleiten.
Der Natürliche.

Schätzchen, allerliebstes Schätzchen,
Ach, wenn ich ein Vöglein wär',
Wär' ich jetzt schon auf dem Plätzchen –
Wollt' nicht flattern hin und her –
Wo, wie wir es abgekartet,
Einer auf den Andern wartet.
Doch weil das nicht kann geschehen,
Denk', wenn ich der Letzte bin,
Daß ich muß zu Fuße gehen
Über Fluß und Flur dahin.
[70] Der Ideale.

Um vom Stoffe nicht befangen
Zu beginnen mein Gedicht,
Stell' ich also mein Verlangen
Fabelhaft mir vor Gesicht.
Diese Tanne dient zum Thurme,
Wo, bedacht von Siegfrieds Wurme,
Seufzt die süße Dame mein;
Und bevor es geht zum Streiten,
Will ich erst aus Sonnenschein
Mondenstrahlen hold bereiten.
Der Materielle.

O verdammte Weibertücken!
O unsel'ges Rendezvous!
Eine Rose wollt' ich pflücken,
Heimlich winkte sie mir zu.
Und auf ihrer Gartenmauer
Stand ich schon in banger Lauer:
Da erfaßt' es mich beim Kragen,
Warf mich in die Disteln hin.
Pflegt man also aufzuschlagen
Lager liebetrunknem Sinn?

Der Zephyr

Auf einer Rose ward ich jung,
Ein Rosenblatt war meine Wiege,
Ein Rosenblatt wird einst mein Grab.
Ich schlafe, wann der Winter tobt,
Und mit dem Lenze werd' ich munter,
Und nähre mich von Duft und Kuß.
Du armer, stolzer Herr der Welt,
Du keuchst einher mit deiner Krone,
Und dienstbar trockn' ich deinen Schweiß!

[71] Kuß und Lied

Jüngst grüßte mich ein rother Mund;
Ein Liedchen saß auf meinen Lippen,
Und aus dem Liedchen ward ein Kuß.
Jetzt ist mein Mädchen fern von mir;
Zum Kusse will mein Mund sich schwellen,
Und aus dem Kusse wird ein Lied.
Fliegt nun, ihr lieben Verse, hin,
Und drückt sie euch an ihre Lippen,
So werdet wieder, was ihr wart!

Liebe und Lied

Als der Frühling aus der Höhe
Flog in unsre Thäler nieder,
Ließ er ein Paar Blumen fallen
Aus dem vollen Kranz der Stirne.
Und ich sucht' und fand die Blumen,
Wo der Quelle rasches Silber
Stille stand in Lust und Staunen.
Quelle, sage mir, ich bitte,
Wie die beiden Blumen heißen,
Die an deinem Ufer liegen.
Und ein Mägdlein sprang vorüber,
Und ein Vöglein hört' ich singen;
Und die Quelle sprach: Die eine
Von den Blumen heißt die Liebe,
Und das Lied heißt jene andre:
Nimm sie auf und laß mich ziehen!

Scham und Neid

Warum guckt ihr kleinen Röschen
Dunkelroth aus euren Knospen?
Weil ihr seht der Lüfte Kosen
Mit den blassen ältern Schwestern,
Und euch schämt vor solchem Treiben
Unter Gottes freiem Himmel?
[72]
Warum seid ihr gelb geworden,
Ihr, die ältesten im Garten?
Ist es wohl des Neides Farbe,
Weil die Lüftchen, eure Buhler,
Schon an euch vorüberflattern,
Und die dummen kleinen suchen?

Amor, ein Fiedler

Amor lernt die Fiedel spielen
Bei dem Gott der Musikanten,
Und zu diesem Pfingstgelage
Will er vor dem Thor der Schenke
Unter grünem Maienschatten
Sich bei uns zum ersten Male
Unentgeltlich hören lassen.
Kommt, ihr Bursche! Kommt, ihr Mädchen!
Kommt und tanzt nach seiner Fiedel!
Und sie tanzen und sie springen,
Und die Füße mit den Herzen
Heben sich in gleichen Takte
Nach dem Striche seines Bogens.
Schneller, schneller, kleiner Fiedler!
Und er fiedelt nach Verlangen,
Daß die Kränze, Sträuße, Flechten,
Bänder, Schürzen, Röcke fliegen,
Und die Tänzer enger fassen
Ihre leichten Tänzerinnen.
Ei, und dennoch sind so viele
Ausgeglitten, fehlgetreten,
Gar gestolpert und gefallen
Auf dem glatten Rasenplane!
Aber, Dank dem weichen Grase,
Weh gethan hat sich nicht Eine.
[73][75]

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TextGrid Repository (2012). Müller, Wilhelm. Musterkarte. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-55C0-5