Die Brautnacht

Es hat geflammt die ganze Nacht
Am hohen Himmelsbogen,
Wie eines Feuerspieles Pracht
Hat es die Luft durchflogen.
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Und nieder sank es tief und schwer
Mit ahnungsvoller Schwüle,
Ein dumpfes Rollen zog daher
Und sprach von ferner Kühle.
Da fielen Tropfen warm und mild,
Wie lang' erstickte Thränen;
Die Erde trank, doch ungestillt
Blieb noch ihr heißes Sehnen.
Und sieh, der Morgen steigt empor –
Welch Wunder ist geschehen?
In ihrem vollen Blüthenflor
Seh' ich die Erde stehen.
O Wunder, wer hat das vollbracht?
Der Knospen spröde Hülle
Wer brach sie auf in einer Nacht
Zu solcher Liebesfülle?
O still, o still, und merket doch
Der Blüthen scheues Bangen!
Ein rother Schauer zittert noch
Um ihre frischen Wangen.
O still, und fragt den Bräutigam,
Den Lenz, den kühnen Freier,
Der diese Nacht zur Erde kam,
Nach ihrer Hochzeitfeier.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Müller, Wilhelm. Die Brautnacht. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-5A7F-2