Betty Paoli
Heinrich Stieglitz
[161] Unlängst brachten deutsche Blätter die Nachricht, Freundeshand beschäftige sich mit der Herausgabe von Stieglitzs literarischem Nachlaß. Ein wehmütiges Gefühl beschlich mich, als ich diese Anzeige las; das Bild jenes unglücklichen Menschen glitt an meinem inneren Aug' vorüber und wie ein leiser Vorwurf durchzuckte es mich, als ich, der er einst freundlich geneigt gewesen, nahe an drei Jahre verstreichen ließ, ohne das öde Schweigen, das sich um seinen Grabeshügel gelagert hat, mit einem Worte der Erinnerung zu unterbrechen. Er, den ein ungeheueres Erlebnis voreinst zum Gegenstand der Teilnahme wie der Anklage macht, er ist aus dem Leben geschieden, ohne daß nur eine Stimme ihm ein leises »Fahre wohl!« nachgerufen hätte. Die Zeitungen meldeten: »Zwei Tage vor der Übergabe von Venedig starb Heinrich Stieglitz daselbst an der Cholera.« Das war alles. Sein Tod fiel in eine stürmische Zeit, in der das Verschwinden [161] des Einzelnen kaum bemerkt wurde, jetzt aber, nachdem das Gewitter sich gelegt hat und die Fluten in ihr Bett zurückgekehrt sind, jetzt scheint mir der Moment gekommen, derer zu gedenken, die in Sturm und Wogenbruch den Untergang fanden. Nach ausgerungenem Kampf ist es an der Zeit, die Gebliebenen zu zählen, und erlaubt, selbst jene, die wir im Leben bekämpfen mußten, zu betrauern, vorausgesetzt, daß diese Trauer keine müßige, weichliche sei, und mehr noch als dem Gefühl, dem Ernst der Betrachtung entspringe. Was Stieglitzs Leben zerrüttet, so tief zerrüttet hat, daß selbst sein dunkles Ende daneben als willkommene Erlösung betrachtet werden muß, war nicht die Folge seines Schicksals, sondern dies Schicksal selbst war die unvermeidliche Folge seines Charakters. In diesem Charakter lassen sich aber die Einwirkungen seiner Zeit so deutlich nachweisen, seine Krankheitssymptome stimmen mit den an einer ganzen Generation wahrnehmbaren krankhaften Erscheinungen so vollständig überein, daß, wer sein Gesamtbild wiederzugeben vermöchte, mehr als bloß ein Porträt liefern würde. Ohne mich an ein solches Unternehmen zu wagen, will ich es versuchen, einige Züge jener seltsamen Persönlichkeit zu schildern, getreu wie ich sie in meinem Gedächtnis bewahrt habe.
Ein längerer Aufenthalt in Venedig brachte mich in tägliche Berührung mit Stieglitz. Es war im [162] Jahre 1846, als ich Wien verließ und dem Süden zueilte. Mein eigentliches Reiseziel war Florenz, doch wollte ich mir den Genuß nicht versagen, einige Zeit in dem mir bereits bekannten Venedig zuzubringen. Mein Freund Schwab hatte mir ein Schreiben an Stieglitz mitgegeben, ich versäumte es ihm zuzusenden; statt die neue, ungewisse Bekanntschaft anzuknüpfen, zog ich es vor, die alte, teuere mit Titian, Gian Bellin und Giorgione zu erneuern. Der Zufall übernahm die Ausführung dessen, was ich wahrscheinlich unterlassen hätte. Von einem kleinen Kreis mir befreundeter Personen umgeben, saß ich eines Abends auf dem Markusplatz vor dem Café Florian, dem gewöhnlichen Sammelplatz der Fremden. Der Abend war wunderschön, die warme Luft von dem seewärts her wehenden Wind köstlich erfrischt, Mond und Sterne, die es bei uns im günstigsten Falle zum Silberglanz bringen, strahlten wie gediegenes Gold. Es lag damals ein schwerer Bann von Krankheit und bitterstem Unglück auf mir, aber er mußte schwinden vor dem stärkeren Zauber des Südens; seit langer Zeit zum erstenmal wieder ward ich mir meines Lebens anders als durch Schmerz bewußt. Ich nahm an dem heiteren Gespräch der mich Umgebenden Teil, bis einer von ihnen mir zuflüsterte: Da kommt Stieglitz.
Wie natürlich, fiel mir dabei mein bis dahin vergessenes Empfehlungsschreiben ein; ich erwähnte desselben.
[163] »Ich kann Sie ja gleich mit ihm bekannt machen,« meinte P., »dann mag er sich den Brief bei Ihnen abholen. Ich will ihn herrufen.«
Im nächsten Moment stand Stieglitz vor mir, und unsere Bekanntschaft war gemacht. Ich betrachtete ihn mit einem Gemisch von Neugier und Teilnahme, die jedoch mit eigentlicher Sympathie wenig gemein hatte. Nicht als ob sein Äußeres abstoßend oder unbedeutend gewesen wäre; im Gegenteil! er galt bei Vielen für schön. Seine Stirn war hoch und frei, die etwas tief liegenden Augen glänzend und lebhaft, der Mund weich und gütig; aber mein in dieser Beziehung sehr scharfer Instinkt fühlte die Absichtlichkeit, deren Stempel seine äußere Erscheinung trug, rasch heraus, und diese war's, die mich im ersten Moment unangenehm berührte. Sein Organ war von ungemeinem Wohlklang, allein seiner Art zu sprechen merkte man allzu deutlich an, daß jedes seiner Worte auf den Effekt berechnet war, der gerade dadurch verloren ging. Der verwilderte, bis zur Brust niederfließende Bart, der entblößte Hals, die nachlässig um seine keineswegs elegante Gestalt schlotternde Kleidung, die geheimnisvolle Betonung des unbedeutendsten, was über seine Lippen ging, waren in seinen Augen unentbehrliche Requisiten zum Kostüm eines Dichters. Mit diesem poetischen Trödel liebte er es sich herauszuputzen und ahnte nicht, daß er unendlich Besseres verbarg als [164] zeigte. Er war in vielen Stücken ein Kind, namentlich auch darin, daß ihm die roten Glaskorallen erkünstelter Genialität ein schönerer Schmuck dünkten, als die reinen Perlen der Güte und des Wohlwollens, die Gott in seine Brust gesenkt hatte.
Ja, er war gut! So gründlich, so wahrhaft gut, daß man sich zur Nachsicht mit seinen oft ans Unerträgliche grenzenden Wunderlichkeiten verpflichtet fühlte, wenn man sich auch keinen Augenblick verhehlte, daß ein beständiges Zusammenleben mit ihm in die Klasse der nicht durchzuführenden Dinge gehörte. Wer ihn näher kannte, begriff, daß nicht Charlottens Tod ihn zu dem gemacht hatte, was er war; sie selbst war als Opfer jenes unheilvollen Dämons gefallen, der noch zur Stunde an dem Mark des Unglücklichen zehrte und der nichts anderes war als die unselige Sucht, die Aufmerksamkeit der Welt zu beschäftigen, im Leben wie in der Kunst eine ausnahmsweise, absonderliche Stellung einzunehmen.
Das größte Mißgeschick, das einen jungen Dichter treffen kann, hatte Stieglitz getroffen: Sein erstes literarisches Auftreten hatte einen Erfolg, der weder mit dem Wert seiner Leistung noch mit dem ihm überhaupt zuteil gewordenen Maß von poetischer Kraft in irgend einem Verhältnis stand. Ich nenne dies ein großes Mißgeschick, weil es die Zukunft dessen, den es trifft, hoffnungslos zerrüttet und vergiftet. Einen[165] schlechten Roman, unbedeutende Verse in die Welt hinauszusenden ist etwas Menschliches, das vielen jungen Leuten begegnet und weiter von keinen erheblichen Folgen begleitet ist, wenn sich das Publikum dem Opus gegenüber in nicht beachtender Gleichgiltigkeit verhält. Allerdings mag dies dem literarischen Rekruten anfangs einiges Herzbrechen verursachen, er muß sich aber einmal fügen, die Krisis geht vorüber und nichts hindert ihn, statt eines kläglichen Dichters ein geschickter Arzt, ein guter Jurist, ein tüchtiger Professor zu werden. Kann man aber von einem jungen Haupt, das voreilige Hände mit einem unverdienten Lorbeer bekränzten, erwarten, daß es sich noch ins Joch des Alltagslebens beugen werde? darf man hoffen, daß er, den urteillose oder parteiische Stimmen als Genie begrüßten, sich in besserer Einsicht, strenger Selbsterkenntnis sagen werde: »Die Welt hat sich in mir getäuscht?« Er kann, er wird es nicht, und wenn die Zahl derer, die ihm früher Beifall zujauchzten, sich von Tag zu Tag vermindert, wird er im Gefühl noch ganz derselbe zu sein wie früher, statt an seinem Talent zu zweifeln, nur den Wankelmut der Welt anklagen, die heute in den Staub tritt, was sie gestern in die Wolken erhob.
So erging es Stieglitz. Sein über Nacht aufgeschossener Ruhm zerfloß wie Rauch, denn es fehlte ihm der Kern einer kräftigen Potenz, er war nur das [166] Produkt einer literarischen Koterie, einer jener gegenseitigen Vergötterungsanstalten, wie es deren in Norddeutschland viele gibt. Sein Name ging durch alle Journale, aber seine Werke blieben dem Herzen der Nation fremd. Gewiß täuschte er sich lange darüber; als es nicht mehr möglich war, forcierte er den früher angeschlagenen Ton um so gewaltsamer. Es war aber kein Naturlaut, der unwiderstehlich wie ein Element die Seelen mit sich fortreißt, sondern nur eine künstlich eingelernte Weise, die in trostloser Öde verhallte oder höchstens nur ein spottendes Echo nachrief. Da überkam den Unglücklichen nagende, brennende Verzweiflung, die Güte seines Herzens schützte ihn vor Bitterkeit und Menschenhaß, aber er war maßlos elend und zu schwach, um sein Elend in stummer Fassung allein zu tragen. Ein ziellos durch die weite Luftwüste hintaumelnder Komet, riß er mit sich ins Verderben, was ihm das Nächste und Liebste war. Die Güter, die ihm zuteil geworden, schienen ihm nichts mit dem, was er entbehren mußte. Das ist das Dämonische des Ruhms, daß, wer ihn einmal gekostet, jeden anderen Trank irdischen Glücks matt und schal findet; der Geist, der sich dies höchste Ziel gesetzt, kann keinem anderen mehr zustreben; die Liebe eines Weibes kann den nicht mehr befriedigen, der sich zum Herrschen über Millionen Herzen berufen glaubt.
Charlotte Stieglitz! Wer kann ihrer gedenken, ohne[167] von Schauern der Wehmut erfaßt zu werden? »Sie war eines besseren Loses wert,« sagen selbst jene, die in ihrer Tat nur einen Akt des Wahnsinns erblicken. Würde ich befragt, ich sagte: Nicht eines besseren Loses war sie wert, denn es gibt kein besseres und schöneres, als sich einer Idee zu opfern, ein Hoherpriester, der segnend weiht sein eigenes Blut, aber ihre Hingebung wäre einer besseren Sache wert gewesen. Sie war ein Sprosse jener erhabenen Familie, die Jeanne d'Arc, Charlotte Corday, Margarete Douglas zu den ihren zählt. Hätte der Heldenmut, der ihr Herz durchflammte, sich ein großes, würdiges Ziel gesetzt, mit Freudentränen der Bewunderung würde Mit- und Nachwelt zu ihr emporblicken. Aber statt des Großen wollte sie das Unmögliche: ein mittelmäßiges Talent zu einem Genie umschaffen. Daran ist sie nicht allein gescheitert, sie hat durch solches wirre Streben auch ihr eigenes Bild so sehr getrübt, daß es, statt uns im reinen Lichte des Ideals entgegen zu glänzen, zum befremdenden Rätsel geworden ist, an dem der Scharfsinn der Psychologen und Physiologen sich vergebens abmüht.
Doch wie! wenn Charlotte sich nicht nur über ihren Gatten, sondern auch über sich selbst getäuscht hätte? Je genauer ich Stieglitz kennen lernte, um so mehr ward ich in diesem Verdachte bestärkt. Seine Reizbarkeit, seine wild hervorbrechenden Launen waren selbst für solche, die nur in geselligem Verkehr mit[168] ihm standen, oft schwer genug zu ertragen; die Frau, die an seiner Seite lebte und mit grenzenloser Zärtlichkeit an ihm hing, muß darunter Übermenschliches gelitten haben. Ich bin sehr versucht zu glauben, daß die Hoffnung, ihn durch ihren Tod zu fördern, nur ein Vorwand war, den sie erfand, um ihren dunkel schrecklichen Entschluß vor sich selbst zu rechtfertigen. Sie gab sich den Tod, sollte ich meinen, nicht sowohl, um dem Geliebten zu neuem Leben zu verhelfen, als vielmehr, weil das Leben, das er ihr bereitet, wie ein Dejanirenkleid auf ihr brannte. Sie warf es weg, um sich von gräßlichen Qualen zu befreien.
Wie dem auch sein mag, gewiß ist, daß das Mittel, das die arme Betörte oder sich selbst Betörende zu Stieglitzs Heilung notwendig glaubte, gerade die entgegengesetzte Wirkung hervorbrachte. Jetzt war der letzte Zweig geknickt, auf dem sein wie ein verwundeter Vogel herumflatternder Geist manchmal Ruhe gefunden hatte, jetzt war sein Leben selbst aus den Angeln gehoben, das ungeheuere Opfer, das sie ihm gebracht, diente nur dazu, ihn selbst kleiner erscheinen zu lassen als er wirklich war. Von nun an war ihm jede Rückkehr verschlossen; ein Mensch, den ein solches Schicksal traf, kann mit den ihn Umgebenden nichts mehr gemein haben, noch lebend ist er dem Tod verfallen, das für ihn vergossene Blut wird zum breiten Strom, der ihn von allem übrigen trennt. Stieglitz fühlte dies. Er [169] verließ Deutschland und siedelte sich in Venedig an, um, wie er sagte, da zu leben und zu sterben.
Als ich ihn kennen lernte, waren bereits zwölf Jahre seit jenem erschütternden Ereignis verflossen; die Zeit hatte seinen Schmerz gemildert, aber der dunkle Schatten, der sich zwischen ihn und die Welt gelagert hatte, verschwand nicht mehr. Ein Anderer hätte mit der ganzen Kraft seines Wesens gegen diese zerfahrene Stimmung angekämpft; er, der sich nie zu beherrschen gewußt, gab sich ihr widerstandslos hin. Noch mehr, er gefiel sich endlich in ihr. Wie alle Menschen von größerer Einbildungs- als Verstandeskraft hing er sehr an Äußerlichkeiten; sein Aufenthalt in Venedig, die Exzentrizität der Lebensweise, die er daselbst führte, und was dergleichen mehr, gaben ihm seiner Meinung nach eine Ähnlichkeit mit Lord Byron, von der er, scheinbar erzürnt, vorgab, daß man sie ihm beilegen wolle, während er doch der einzige war und blieb, der je auf sie verfiel. Er gehörte zu jenen, die da meinen, der Dichter bedürfe absonderlicher Verhältnisse, phantastischen Treibens. Kindischer Irrtum, den ein Blick auf das Leben der meisten wahrhaften Großen Lügen straft.
Wie klar, wie einfach und geordnet verstrichen die ihnen zugemessenen, mit strenger Tätigkeit ausgefüllten Tage! Darum waren sie auch nicht schon mit dreißig Jahren blasiert, darum waren sie selbst [170] im siebzigsten noch nicht des Lebens und des Wirkens müde.
Von Deutschland getrennt, war es Stieglitz ein Leichtes, sich über die literarische Bedeutung, die man ihm daselbst beilegte, zu täuschen! er tat es in einem unglaublichen Grad. Es versteht sich von selbst, daß ich keines seiner Bücher ungelesen lassen durfte. Mein Bewußtsein sagt mir, daß ich selten jemandem einen größeren Beweis von freundlicher Fügsamkeit gegeben habe. Die Exemplare, die er mir lieh, waren an dem Rande mit Varianten übersäet und jedesmal bemerkt: »Verbesserung für die zweite Auflage.« Ach, wäre doch nur schon die erste vergriffen!
Es war kein mühsames Geschäft, Stieglitzs Vertrauen zu gewinnen; er war so sehr in sich befangen, so sehr mit sich beschäftigt, daß er stets das Bedürfnis fühlte, seine innersten Angelegenheiten zur Sprache zu bringen. Ich glaube daher keine Indiskretion zu begehen, wenn ich hier wieder erzähle, was er außer mir mindestens fünfzig anderen Personen anvertraut hat. Er faßte ein leidenschaftliches Interesse für eine junge Italienerin, Beatrice Z., die seine Neigung erwiderte. Die Folge davon war ein schmerzlicher Konflikt in seinem Innern; er vermochte es nicht, sich von seiner Vergangenheit entschlossen loszureißen und ebensowenig vermochte er den Reiz, den er im Umgang mit Beatrice fand, dem Andenken Charlottens zu [171] opfern. So schleppte sich das Verhältnis in unerquicklicher Halbheit eine Weile hin, bis ihr eine neue Wendung den Ausschlag gab. Ein allgemein geachteter Mann in freier, sicherer Lebensstellung warb um Beatrice; ohne Vermögen, ohne Aussicht auf eine nur halbwegs tröstliche Zukunft, schlug sie den Weg ein, den eine gütige Schickung ihr eröffnete. Es mag ihr schwer geworden sein, ihrem Jugendtraum zu sagen: Fahre hin! aber sie begriff, daß das Leben verlebt und nicht verträumt sein will. Stieglitz erklärte ihr mit Bestimmtheit, daß seine Hand, die noch Charlottens Trauring trug, sich nun und nimmermehr vor dem Altare in eine andere legen könne; Beatrice war demnach frei und nur die Ungerechtigkeit eines gestörten Gemüts konnte eine Anklage gegen sie erheben. Dennoch tat es Stieglitz. Sein Charakter ist nur insofern noch heut ein Problem, als ich eine solche Mischung von Egoismus und Güte nicht begreifen kann. Ich bin überzeugt, daß er um jemandem zu helfen, willig sein Letztes hingegeben hätte, während er anderseits selbstsüchtig genug war, das Opfer eines ganzen, vollen, jugendwarmen Lebens als einen ihm gebührenden Zoll zu fordern. O, des Menschen Herz ist nicht nur, wie die Schrift sagt, »ein trotziges und verzagtes,« es ist auch ein ebenso mildes, wie hartes Ding!
Der Tag unserer Trennung kam heran; ich blieb [172] in Venedig, Stieglitz reiste in Rudolph Marggraffs 1 Gesellschaft nach Rom ab. Seiner Versicherung, nur wenige Wochen dort verweilen zu wollen, hatte ich nie Glauben geschenkt und war daher nicht verwundert, daß er, als ich mich drei Monate später zur Heimreise anschickte, noch immer nicht zurückgekehrt war. Ich habe ihn nicht wieder gesehen, ja selbst nicht weiter von ihm gehört, bis im Jahre 1848 die Zeitungen die Nachricht brachten, er habe sich der italienischen Revolutionspartei angeschlossen. Ich war erstaunt und schmerzlich überrascht, nicht nur weil die Konsequenzen dieses unseligen Schrittes leicht vorauszusehen waren, sondern mehr noch weil ich darin eine neue Anomalie erblickte, die er auf sein von Widersprüchen ohnehin so zerrissenes Leben häufte. Er, der für Deutschland schwärmte und neben der deutschen Nation kaum eine andere wollte gelten lassen, stand nun in den Reihen ihrer Feinde. In seiner Kurzsichtigkeit begriff er nicht, daß jede Österreich geschlagene Wunde als bitteres Mißgeschick das Herz Deutschlands selbst durchzucken muß. – Um die Motive, die ihn eigentlich zu jenem Schritt bewogen, zu erraten, müßte man wissen, welche Persönlichkeiten im Augenblick der Krisis seine Umgebung bildeten; es ist mir unzweifelhaft, daß er wahl- und willenlos von dieser bestimmt ward. Er gehört [173] zu den Naturen, die sich alles ein-, aber nichts ausreden lassen; das erstere war bei seiner lebhaften Einbildungskraft sehr leicht, das letztere bei seinem Eigensinn, dem gewöhnlichen Begleiter der Schwäche, fast unmöglich. Die letzten Monate seines Lebens mögen von unbeschreiblicher Bitterkeit erfüllt gewesen sein. Die Sache, der er sich hingegeben, war nicht nur unterlegen, sie hatte einen schmählichen Bankerott gemacht, er konnte sich über die verbrecherische Torheit, die ihn, den Deutschen, den Feinden seines Volkes beigesellt hatte, nicht länger verblenden. Nicht weniger als sein Herz litt der Punkt, der eben der empfindlichste, verwundbarste seines Wesens war: seine Eitelkeit. Vergeblich beschworen ihn seine deutschen Freunde, nach der Heimat zurückzukehren, ein verzweiflungsvolles Schweigen war seine einzige Antwort. – Immer näher fühlte er den Flügelschlag der dunklen Geister sein Haupt umrauschen, er ahnte, daß die Stunde der Erfüllung gekommen sei und schweigend entblößte er seine Brust. Er wollte sterben. Wenige Tage vor der Übergabe Venedigs durchschnitt die Hand des Todes dies zerrüttete Leben, das keine irdische Macht mehr zu entwirren vermocht hätte.
Ich erinnere mich, daß Stieglitz, als wir einmal, wie es uns oft geschah, von der Herrlichkeit Venedigs sprachen, die Worte hinwarf: »Ja, alles ist schön in dieser zauberhaften Stadt, nur eines nicht: die letzte[174] Wohnung der Toten. Ich will mich nicht in Venedig begraben lassen; die Friedhöfe hier sind wüste Leichenfelder, über die der Seewind hinbraust und keine Blume auf ihnen duldet. Meine Leiche soll nach Deutschland gebracht werden, wo Charlotte in ihrer Gruft mich erwartet.«
Sein Wunsch ward erfüllt, er ruht neben Charlotte. Für Viele ist das Leben ein Traum, für ihn war es ein Alp, sein letzter Atemzug mag sein erster freier gewesen sein. Der Trank des Ruhmes, in dem er sich früh berauscht, ward seinen danach lechzenden Lippen entzogen, den Becher der Liebe hatte er in krankhafter Verblendung selbst zu Boden geschmettert – im weiten All' sprang kein Quell mehr, der seinen brennenden Durst gelöscht hätte. Hat er nun Labsal und Erquickung gefunden in Gottes heiligem See? In trostvoller Zuversicht hoffe und glaube ich es.
Friede sei mit dem Friedenlosen!
[175]Fußnoten
1 Hermann Marggraffs Bruder.