Betty Paoli
Louise Ackermann
[131] Der deutsche Chauvinismus neuesten Datums will in der Aufmerksamkeit, womit der gebildete Deutsche die literarischen Erscheinungen des Auslands verfolgt, an der Erschlossenheit seines Sinnes für fremde Eigenart ein am Vaterland begangenes Unrecht, einen Fehler erblicken, der uns noch aus alten bösen Zeiten her anhaftet. Ganz im Gegenteil scheint mir dieses Aneignungsvermögen, dieses Interesse an jeder geistigen Bewegung ein Vorzug, ohne den das deutsche Volk nie den hohen freien Standpunkt erreicht hätte, den es einnimmt. Man wende nicht dagegen ein, daß die Bekanntschaft mit dem Fremden leicht zur Nachahmung desselben verleite; für selbständige Talente hat es damit keine Gefahr. Keiner, der auf eigenen Füßen gehen kann, wird nach einem Gängelband verlangen. Die Halb- und Vierteltalente aber werden immer irgend einem Einfluß untertan sein; welchem, ist am Ende ziemlich gleichgiltig, da eine starke nachhaltige Wirkung [131] ihnen ja doch versagt bleibt. Die Originalität ist eine dem Geist eingeborene Eigenschaft; er kann sich ihrer nicht entschlagen, selbst wenn er wollte. In dem unseligsten Jahrhundert der deutschen Geschichte, zur Zeit da die gräulichste Verwilderung der Gemüter wie der Zustände die letzte Regung nationalen Bewußtseins erstickt zu haben schien, schrieb Paul Fleming, der Vielgewanderte, seine ganz vom Odem der Heimat erfüllten Gedichte, schrieb Angelus Silesius seine wunderbaren Sprüche, die uns germanisches Geistes- und Gemütsleben bis zu dem fernen indischen Urquell hinauf verfolgen lassen. Hundert Jahre später, als dem Franzosentum die ausschließliche Herrschaft in Kunst und Literatur gesichert schien, veröffentlichte Gellert seine Fabeln, die in ihrer treuherzigen Gesinnung, ihrem schalkhaften Humor und dem dahinter sich verbergenden sittlichen Ernst von so deutschem Gepräge sind als nur möglich. Soll ich den Beweis noch weiter führen? Ich halte es wahrlich für überflüssig daran zu erinnern, daß aller literarische Glanz Frankreichs, die ganze Suprematie, die es in künstlerischen Dingen an sich gerissen hatte, das Entstehen einer vollkommen originellen Literatur in Deutschland nicht verhindern konnte. Wenn wir in so entarteten angefaulten Zuständen, wie die damaligen waren, unsere Eigentümlichkeit, den Kern unseres Wesens, unversehrt zu bewahren vermochten, so steht jetzt unter so ungleich günstigeren Verhältnissen [132] in der Tat nicht zu besorgen, daß die Kenntnis des Fremden uns zum Abfall von den heimischen Göttern verführen dürfte. Der patriotische Übereifer möge sich damit beruhigen; es wird ihm doch nie gelingen, den kosmopolitischen Zug des deutschen Geistes hinwegzutilgen. Wir werden nie vergessen, daß es der erhabenste Genius unserer Nation war, der sich mit dem Gedanken einer Weltliteratur trug. Inzwischen wollen wir, seinem Beispiel folgend, alles willkommen heißen, was zur Ergänzung, zur Bereicherung unseres eigenen Wesens dienen kann. Im großen und ganzen wird es auch wirklich so gehalten, und schwerlich dürfte die Riesenmauer, die das Deutschtum von dem großen geistigen Weltverkehr abschließen soll, sobald fertig werden. Wenn, wie vor kurzem an eben dieser Stelle sehr richtig bemerkt wurde, die englische Literatur sich in Deutschland augenblicklich einer größeren Verbreitung und Beliebtheit erfreut als die französische, so ist der Grund davon meines Erachtens weniger in nationalen Antipathien, als darin zu suchen, daß in Frankreich seit geraumer Zeit keine belletristischen Werke ersten Ranges entstanden sind. Die Schriftsteller, die durch eine lange Reihe von Jahren die Aufmerksamkeit von ganz Europa zu fesseln wußten, sind entweder dahingeschieden oder, vom Hauche des Alters gelähmt, nur noch der Schatten dessen, was sie waren. Keine ebenbürtigen Nachfolger sind an ihre Stelle getreten. Wo ist unter den jetzt [133] lebenden französischen Romanciers und Novellisten einer, der an die Genialität der Sand in den Tagen ihrer Kraft, an Mérimées Gedankenfülle und Formvollendung, an Balzacs Meisterschaft in der Lösung psychologischer Probleme hinanreichte? Nicht als wenn die Talente in Frankreich plötzlich ausgestorben wären; es gibt deren noch immer viele und darunter sehr bedeutende, nur keines von so siegreicher Überlegenheit, daß alle Kniee sich vor ihm beugen müßten. Da ist es denn wohl natürlich, daß man diesen minderen Sternen nicht die gleiche Aufmerksamkeit zollt, wie einst ihren um so vieles glänzenderen Vorgängern. Auf dem dramatischen Gebiet ist der Abstand gegen früher nicht so groß. Nach wie vor werden in Frankreich Stücke geschrieben, die, wenn auch keine Kunstwerke im hohen Sinne des Wortes, durch sprühenden Geist, sichere Welt- und Lebenskenntnis und eine oft bewundernswerte Geschicklichkeit der Mache allerwärts volle Wirkung erzielen. Es dürfte den deutschen Theater-Direktionen schwer fallen, sie auszuschließen, denn unleugbar ist unsere heimische Produktion in diesem Fache nicht ergiebig genug. In Deutschland ist der echte Dramatiker eine überaus seltene Erscheinung; manchmal allerdings taucht sie in strahlendster Herrlichkeit auf, aber in bescheidenerer Gestalt, dafür in größerer Anzahl, will sie bei uns nicht vorkommen. Dem Deutschen, wenn er nicht nebenbei ein Genie ist, fehlt das dramatische Naturell; [134] die Unzahl unserer Buchdramen bezeugt es nur zu deutlich. Wir sind den Franzosen in so vielen anderen Punkten überlegen, daß wir ihnen den Ruhm, größeres dramatisches Geschick zu besitzen, als wir, wohl gönnen mögen.
Wenn aber der französische Roman und das französische Drama bei uns immer nach Verdienst, und nicht selten darüber hinaus, gewürdigt wurden, so hatte sich hingegen die französische Lyrik nicht gleicher Gunst zu erfreuen; – aus verschiedenen Gründen, unter denen der, daß die Lyrik ihrer Natur nach, selbst wo sie in heimischen Lauten spricht, nie auf ein zahlreiches Publikum hoffen darf, obenan steht. Ihr ist es nicht gegeben, die Menge zu fesseln. Sie kann erfreuen, erschüttern, erheben, aber unterhalten kann sie nicht und deshalb auch dem großen Publikum, das eben nur unterhalten sein will, keine Befriedigung bieten. In der Tat geht es ihr möglichst aus dem Wege. Die anders empfindende Minderzahl hatte aber wenig Grund, sich um die Lyrik des Auslands zu kümmern, da gerade auf dem lyrischen Gebiete der deutsche Geist und das deutsche Gemüt das Höchste und Vollendetste geschaffen haben. Ein wesentliches und unverlöschliches Merkmal unterscheidet namentlich die französische von der deutschen Lyrik: es ist ihr verschiedener Ursprung. Diese ist aus dem Volksliede hervorgegangen und, wo sie echt ist, schlicht, unmittelbar wie dieses, während jene, der [135] Kunstpoesie entsprossen, die Traditionen derselben allzu getreu bewahrt hat. Schon darum kann kein französischer Lyriker uns hier gleichkommen. Statt sich mit diesem Bewußtsein zu begnügen, ging man jedoch so weit, der französischen Nation überhaupt alles Talent für den poetischen Ausdruck der Empfindung abzusprechen. Eine genauere Kenntnisnahme hätte zur Überzeugung führen müssen, daß es auch in Frankreich Dichter gab und gibt, die volle und reine Herzenstöne anzuschlagen wissen. Von Malherbes Zeiten bis zur Gegenwart ließen sich sehr viele Beweise dafür vorbringen. Ich beschränke mich darauf, hier auf einen der neuesten, Louise Ackermanns »Poésies philosophiques« hinzuweisen.
Philosophische Gedichte? wird vielleicht mancher meiner Leser mit bedenklichem Kopfschütteln fragen. Was haben denn Philosophie und Poesie miteinander zu schaffen? – Je nun, ich meine, sie stehen in eben so untrennbarem Zusammenhang wie Geist und Gemüt. Jede neue Erkenntnis, zu der wir gelangen, übt einen modifizierenden Einfluß auf unsere Empfindungsweise aus. Das war zu allen Zeiten so, in unseren Tagen tritt dieser Einfluß aber noch schärfer hervor, weil die Gedankenwelt in einer Umwandlung begriffen ist, die sich mit Sturmeswehen auch auf die Welt der Gefühle überträgt. Wir stehen an einem verhängnisvollen Wendepunkte; wir wissen zu viel, um glauben, zu wenig, [136] um des Glaubens entraten zu können. An die Entdeckungen auf dem Gebiete der Naturwissenschaften knüpfen sich Ideenreihen, die uns unser Dasein und unser Verhältnis zum Universum in einem vollkommen veränderten Licht erscheinen lassen. Schlüsse, die mit unseren früheren Anschauungen in grellem Widerspruch stehen, drängen sich uns auf; es entstehen Fragen, die sich nicht minder, als an unseren Intellekt, an unsere dunkel wogenden Instinkte wenden, Fragen über Leben und Tod im strengsten Sinne des Wortes. Oder ist Darwins Lehre etwa bloß Sache der Wissenschaft? Kann man sie für wahr halten und zugleich die trostvolle Zuversicht bewahren, welche der Gedanke an eine sittliche Weltordnung, an freie Selbstbestimmung, an eine gerecht waltende Vorsehung früheren Geschlechtern einflößte? Ein furchtbarer Zwiespalt erhebt sich in den Gemütern der Menschen. Die einen meinen ihn zu lösen, indem sie sich in den Schoß der Kirche flüchten und ihre Vernunft dem Wunder- und Aberglauben unterwerfen; die anderen, indem sie, ohne sich auch nur einen Rückblick zu gestatten, die neue Lehre rückhalts- und bedingungslos annehmen. Zwischen diesen beiden extremen Parteien steht noch eine dritte: es sind jene, denen es ebenso unmöglich ist, das sacrifizio dell' intelletto zu bringen, wie den ethischen Idealen zu entsagen, in denen sie bisher ihren Halt und ihre Stütze fanden. Eine große, gewaltige Bewegung geht [137] durch die geistige Welt und die lyrische Poesie – sie, deren höchster Beruf darin besteht, im Denken und Fühlen der Einzelnen den jeweiligen Pulsschlag der Mensch heit kundzugeben, sollte in einem so erschütternden Moment ihre Stimme nicht erbeben?
In dem die Sammlung eröffnenden Gedicht »Mon livre« bezeichnet die Verfasserin klar und bestimmt den Standpunkt, den sie einnimmt. Von ihrem Buch sprechend sagt sie:
Das ist's, was Louise Ackermann von so vielen Anhängern der materialistischen Lehre unterscheidet, und sie jener dritten Gruppe beigesellt, von der ich vorhin sprach. Nicht Verstandeshochmut, nicht der trügerische Lockruf »Eritis sicut Deus« hat sie zum Bruch mit dem Glauben getrieben; das Bewußtsein, den alten Wahn abgestreift zu haben, erweckt in ihr keine eitle Selbstgefälligkeit. Sie konnte nicht anders; es gibt Geister, die im Streben nach Wahrheit keinen Einsatz für zu hoch halten. Sie hat sich von einem Glauben, der das Opfer ihrer Vernunft, ihrer sittlichen Überzeugung forderte, losgesagt und die Wissenschaft zur Führerin erkoren; aber auch diese hat ihr nicht die Gewißheit zu bieten, die sie verzweifelnd anstrebt. Auch die Wissenschaft muß sich zu dem Geständnis bequemen, [138] daß die letzten und höchsten Probleme unlösbar sind. Ist es ein Wunder, wenn dieses dumpfe, unerbittliche »Vergebens!« mit Dolchesschärfe sich in das Herz der Dichterin bohrt, wenn alle ihre Anschauungen das Gepräge des düsteren Pessimismus tragen? Das Leben erscheint ihr als eine Fahrt, deren Ziel ein unvermeidlicher und hoffnungsloser Untergang ist; immer lauter heult der Sturm, immer wilder stürzen sich die Wogen auf das lecke Schiff – wie lange noch und es muß sinken! Zitternd drängen sich die anderen in dem untersten Schiffsraum zusammen, um das nahende Verderben nicht zu schauen. Die Dichterin aber, nicht vom Verdeck weichend, ruft:
Ja, in Wahrheit: »Ce livre de mon âme!« Daß dieses Buch wirklich aus innerster Seele kommt, wird keiner bezweifeln, der das Ursprüngliche von dem Erkünstelten zu unterscheiden versteht. Es ist aber noch [139] anderes daran hervorzuheben: der leidenschaftliche Schmerz, den es atmet, die wilden Anklagen, die es dem Urgrund allen Lebens – ach, welch qualenreichen Lebens! – entgegenschleudert, sind nur die in einer Dichternatur gesteigert und verschärft auftretenden Symptome der Krisis, in der ein großer Teil der Menschheit sich gegenwärtig befindet. Wenn David Strauß von der Wohnungsnot Gottes spricht, so könnte man wohl auch behaupten, daß, nach Beseitigung des Gottesbegriffs, der Mensch für sein Bestes und Edelstes, das Ideal, keine schirmende Stätte mehr zu finden weiß. Die höchsten Kräfte seines Wesens, für deren Entfaltung kein Boden bleibt, kehren sich feindlich gegen ihn. In einer nur aus Kraft und Stoff bestehenden Welt ist kein Raum für ein Reich der Gerechtigkeit und der Liebe. Unmächtig steht der Mensch der Natur, der blind und bewußtlos waltenden Urkraft gegenüber, der als willenloses Werkzeug zu dienen seine einzige Bestimmung ist. Eine Reihenfolge von psychischen Notwendigkeiten hat ihn ins Leben gerufen, ihr fernerer Verlauf wird ihn dem Tod überliefern. Er ist nichts weiter als eine Betätigung jener rastlos zeugenden und wieder zerstörenden ewigen Urkraft, ein Phänomen, das aus der Unendlichkeit auftauchte, um wieder in ihr zu zerfließen, eine Schaumblase, ein zerstäubendes Atom.
Das ist die Lehre, die unter den Gebildeten von Jahr zu Jahr größere Verbreitung gewinnt. Ob sie[140] falsch oder richtig ist, soll hier nicht in Betracht kommen; ebensowenig wie weit sie die Handlungsweise der Menschen zu beeinflussen geeignet ist, nur von ihrem Einfluß auf die Gefühlssphäre soll die Rede sein. Man bedenke es wohl: hier handelt es sich nicht darum, eine von Wahn und Aberglauben getrübte Religion gegen eine höhere, reinere Auffassung des Wesens Gottes einzutauschen; es handelt sich darum, die Existenz Gottes zu verneinen, auf die innere Erfüllung und Erhebung zu verzichten, die der Mensch in dem Gedanken findet, ein notwendiges Glied in einer sittlichen Weltordnung zu sein, dem Glauben an die eigene Würde, an die Unzerstörbarkeit unserer geistigen Individualität zu entsagen. Das müssen die Bekenner der neuen Lehre, wenn sie nicht kindisch inkonsequent sein wollen. Mit welchen Kämpfen und Qualen aber ein solcher Verzicht verbunden ist, weiß wohl nur, wer sie in seinem Innern durchgerungen hat, und ist's ein Dichter, so wird sein Lied sie herzerschütternd austönen, wie Louise Ackermann es in ihrem Buche getan hat.
Jedem einzelnen dieser Gedichte könnten Pascals Worte: »Il faut croire ou désespérer«, als Motto voranstehen. Die Dichterin hat ihre Wahl getroffen und, lieber als ihre Vernunft gefangen zu geben, sich der Verzweiflung in die Arme gestürzt. Angesichts des Jammers, der die Erde füllt, des Unrechts, das vergeblich gen Himmel schreit, kann sie an keinen Gott[141] glauben; in allen Erscheinungen des Lebens erblickt sie nur das Walten fühlloser Naturkräfte. Aber schauderndes Entsetzen befällt sie vor der Leere dieser von keinem göttlichen Gedanken beseelten Welt. Die Armseligkeit des Menschenloses entreißt ihr Klagen, deren Bitterkeit mitunter an Schopenhauers trostloseste Aussprüche erinnert. Man möchte die zwei Abteilungen, in die das Buch zerfällt, kaum einem und demselben Verfasser zuschreiben. In den »Poésies premières« begegnen wir der zwar ernsten, doch nicht finsteren Resignation, der kontemplativen Schwermut, welche die Kenntnis des Lebens in tiefer angelegten Naturen zu erzeugen pflegt. Es sind die Anschauungen und Empfindungen eines nach schweren Stürmen zum Frieden der Entsagung gelangten Gemütes, dem nach vielen Enttäuschungen doch noch die Liebe zur Kunst und zur Natur geblieben ist. Nichts läßt hier die leidenschaftliche Glut ahnen, welche die »Poésies philosophiques« wie eine düstere Flamme durchlodert. Es muß in der Zwischenzeit in der Dichterin eine große Wandlung sich vollzogen, eine neue Gedankenwelt sich ihr erschlossen haben. Fast wird man selbst von Schwindel ergriffen, wenn man sie verzweifelnd in den Abgrund niederstarren sieht, der sich vor ihr aufgetan hat. Die Gebilde eines frommen Wahns, die ihn einst verdeckten, sind zerflossen, und keine neue Erkenntnis vermag sein undurchdringliches Dunkel zu erhellen. [142] Vom Gefühl menschlicher Unzulänglichkeit durchdrungen, ruft die Dichterin dem entthronten Glauben zu:
Das merkwürdigste, die Verfasserin am schärfsten charakterisierende Gedicht ist unstreitig das »Pascal« überschriebene. Wir sehen den großen Denker mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte bemüht, der in starres Schweigen gehüllten Sphinx – dem ewigen Welträtsel – ihr Geheimnis zu entlocken. Ein grimmer Kampf entbrennt zwischen ihnen. Immer stürmischer dringt er auf das Ungeheuer ein, der Wunden nicht achtend, die es ihm schlägt. Umsonst! während sein Blut in Strömen fließt, bleibt der Felsenleib, auf den seine wütenden Streiche niederschmettern, unversehrt. Endlich erliegt die Kraft des Sterblichen; erschöpft, verzweifelnd flüchtet er sich in den Schoß des Glaubens, um seinem entsetzlichen Gegner zu entrinnen. Er ist gerettet, aber um welchen Preis!
[143]
Namentlich der Schluß dieses Gedichts ist von wildem, großartigem Schwung. Voll tiefsinniger Gedanken und mächtiger Empfindung sind ferner: »Prométhée,« »L'Amour et la Mort,« »le Nuage«, und das Zwiegespräch zwischen dem Menschen und der Natur. Von dem schönen kleinen Gedicht »A la comète de 1861« hat Albert Möser in Ernst Ecksteins »Deutsche Dichterhalle« (Band IV, Nr. 22) eine treffliche, Sinn und Stimmung des Originals wiedergebende Übersetzung geliefert. Selbstverständlich sind die »Poésies philosophiques« nicht alle von gleichem Wert, aber unbedeutend, matt, aus erkünstelten Empfindungen hervorgegangen, ist auch nicht eine. Es gibt nicht viele Gedichtsammlungen, von denen sich das gleiche behaupten ließe. Die über das literarische [144] Interesse hinausgehende Wichtigkeit dieser Erscheinung liegt jedoch darin, daß sich in ihr der Rückschlag kundgibt, den die materialistischen Theorien der Neuzeit in Naturen von tieferem Gehalt hervorbringen. Jedem Leser muß sich die Überzeugung aufdrängen, daß ein solches Buch nur in einer Zeit der Gärung und Umgestaltung, wie die unsrige ist, entstehen konnte. Wir sind Zeugen eines seltsamen Schauspiels: die Wissenschaft vermißt sich, den Menschengeist zu befreien, und die Freiheit, die sie ihm bringt, läßt ihn den Umfang seines Elends erst recht ermessen; sie wähnt ihn aufzurichten, indem sie, das Grauen vor den dunklen Möglichkeiten, die jenseits des Grabes seiner warten, von ihm nehmend, ihm zuruft: »Fürchte nichts! Es gibt kein Jenseits!« und er bebt zurück vor dieser Botschaft, deren eisiger Hauch die Hoffnung vernichtet, daß das Wirrsal dieses Daseins einst eine harmonische Lösung finden werde; sie weist ihn auf das Irdische als das allein Sichere hin, und alles Irdische reicht nicht hin den Durst seiner Seele zu stillen. Wenigstens jetzt noch nicht, denn noch ist der Bruch mit der Vergangenheit nicht so vollständig, daß ihre Nachklänge kein Echo in unserer Brust weckten. Sollte die neue Lehre sich siegreich behaupten, dann werden vielleicht späteren Geschlechtern die Ausbrüche des Schmerzes und der Verzweiflung, die in diesem Buche rasen, unverständlich, unfaßlich sein. Mit einer neuen Denkweise wird man [145] allmählich eine andere Empfindungsweise angenommen, wird gelernt haben, sich in das Unabänderliche ruhig zu fügen. Die Gewohnheit, deren langsam aber sicher wirkendem Einfluß auch der Geist unterworfen ist, wird es künftigen Generationen vielleicht möglich machen, in der Erforschung des sinnlich Wahrnehmbaren volles Genüge zu finden und sich mit dem Irdischen zu bescheiden. Dann werden Gedichte wie diese nicht mehr geschrieben werden können – Gedichte, die dem Schmerz der Losreißung von nicht länger zu behauptenden Gütern, und dem Schauder vor dem was sie ersetzen soll, ihren Ursprung verdanken. Längst wird der Trauerruf: »Der große Pan ist tot!« verklungen sein.
In Deutschland ist dieses merkwürdige Buch fast unbekannt geblieben; in seiner Heimat mag es wohl die verschiedenartigste Aufnahme gefunden haben. Den Gläubigen muß es ein Gräuel sein, den Frivolen eine müßige Grübelei, den Männern der Wissenschaft eine törichte Auflehnung gegen die ewigen Gesetze der Natur scheinen. Um so tiefer wird es diejenigen berühren, deren Brust der Schauplatz ähnlicher Kämpfe ist; sie werden in diesen Gedichten die Stimme begrüßen, die ihrer stummen Angst, ihrer dumpfen Qual Worte lieh. Jeder ernste und unbefangene Leser aber wird der Verfasserin ein ungewöhnliches Maß von geistiger und poetischer Kraft zuerkennen und in ihrem Buch ein bedeutungsvolles Zeichen der Zeit erblicken.