Betty Paoli
[Annette von Droste-Hülshoff]

[1] 1. Gedichte von Annette v. Droste-Hülshoff

Wenn ich mich nicht sehr täusche, liegt eines der Hauptgebrechen der Kritik, wie sie in unseren Tagen geübt wird, und ein Mitgrund ihres geringen Einflusses darin, daß sie, statt ihre Aufmerksamkeit ausschließlich dem im guten oder im bösen Sinne Hervorragenden zuzuwenden, sich mit jeder Bagatelle beschäftigen zu müssen glaubt, wenn es nur neu ist. Erfaßte sie die Würde ihres Berufes, so würde sie das Gewöhnliche, Unbedeutende, klanglos zum Orkus hinabsteigen lassen und ihre wahre Sendung allein erkennen, ein Dolmetsch zu sein zwischen dem Genius und den Massen, eine Stimme, die das irregehende Talent zurechtweist, eine mutige Hand, die dem Schlechten und Verwerflichen den gleißenden Mantel, womit es seine ekle Blöße bedeckt, abreißt, um der Welt zu zeigen wie sich hinter all diesem Flitter erlogener Genialität nichts [1] berge als Moder und Fäulnis; mit einem Worte: sie würde sich bloß mit solchen Werken beschäftigen, die dem Geschmack des Publikums entweder als Leuchte oder als Warnungstafel dienen können. Von dem Alltäglichen, Mittelmäßigen würde sie nur in jenen Fällen Notiz nehmen, wo es von einer Partei, gleichviel von welcher, deren Tendenzen es entspricht, auf dem Schilde emporgehoben wird, um anderen als literarischen Zwecken zu dienen. Dann ist es an der Zeit dem Zwerg die Stelzen, auf denen er herumstolziert, abzuschnallen und ihn auf sein wahres Maß zurückzuführen; in jedem anderen Falle ist es mindestens unnütz, mit Speeren und Spießen gegen das Unbedeutende auszuziehen, statt es in sein eigenes Nichts versinken zu lassen. Wozu Werke besprechen, die vergessen sein werden, ehe noch das Urteil darüber ins Publikum gelangt? Wozu diesen Ephemeriden eine Leichenrede halten, die länger dauert als ihr flüchtiges Dasein? Wäre es nicht besser, das Neue, das nicht wahrhaft, nämlich geistig neu, unbeachtet zu lassen und die öffentliche Aufmerksamkeit lieber auf Werke hinzulenken, denen zur Zeit ihres Erscheinens die verdiente Anerkennung nicht zuteil ward? Dieser Ansicht folgend, lasse ich so manches mit der Jahreszahl 1852 prunkende Buch unbesprochen liegen und greife nach Annette von Drostes Gedichten.

Im Jahre 1844 erschien dieses Buch in Cottas [2] Verlag; des größten Erfolges würdig, fand es nicht einmal die Verbreitung, die der Einfluß des Verlegers den aus seiner Offizin hervorgegangenen Produkten von ungleich geringerer Bedeutung zu verschaffen pflegt. Zum großen Teil mag dies den Zeitverhältnissen zugeschrieben werden: es war gerade der Moment, wo die politische Poesie am üppigsten wucherte und die echte verdrängte. Mochte ihre Würze auch das Erzeugnis der verdächtigsten Ingredienzien sein, sie war dem Publikum nur um so mehr zu Kopf gestiegen, sein an Kognak und Grog gewöhnter Gaumen fand keinen Geschmack mehr an dem jenes Fuselduftes entbehrenden Wein lauterer Poesie. Selbst der Name der Verfasserin nahm viele jener freien Geister, die es nicht zu ertragen vermögen, daß man anderer Meinung sei als sie, schon im voraus gegen sie ein. Einem alten Adelsgeschlecht des streng katholischen Westfalens entsprossen, was konnte sie anderes bringen als Anschauungen und Gefühle, die man verrottet zu nennen beliebte? – Die Richtung, die man a priori bei ihr voraussetzte, hielt die meisten ab, von den Gedichten selbst Kenntnis zu nehmen, um sich zu überzeugen, inwieferne ihr Vorurteil begründet war oder nicht. Hiezu kam noch, daß man namentlich in jener Zeit, um durchzugreifen, von irgend einer literarischen Clique gestützt werden mußte. Es ließe sich ein interessantes Buch darüber schreiben, wie die meisten Berühmtheiten jener Tage entstanden [3] sind oder vielmehr wie sie gemacht wurden. Annette v. Droste, zu stolz um auf die papierenen Kränze, die der Journalismus verteilt, Gewicht zu legen, gleichzeitig gegen jede provozierte Anerkennung im Gefühle ihres Wertes sich von jeder literarischen Koterie fernehaltend, ward übersehen und ihre Richtungen blieben ungekannt. Darüber brach das Jahr 1848 herein; der stürmevolle Frühling desselben Jahres sah die Dichterin von der Erde scheiden. Levin Schücking, ihr Freund und Landsmann, widmete ihr einen tiefempfundenen Nachruf, aber ihr Volk ahnte nicht, was es an ihr besessen, in ihr verloren hatte. Deutsches Volk! bist du so reich, daß du an Schätzen, auf die jede andere Nation mit freudigem Stolz hinweisen würde, achtlos vorübergehen magst? Oder bist du so wahnbefangen, daß nur der Flitter dich blendet, nur der Glast dich besticht?

Das Buch zerfällt in verschiedene Abteilungen; die erste derselben trägt die Überschrift: »Zeitbilder«. Bereitwillig geben wir zu, daß die Partei, die schon in dem Namen der Dichterin ein böses Omen erblickte, sich in ihrem Verdachte nicht getäuscht hat: in der Tat sind diese Gedichte von einem Geiste durchweht, der mit dem Zeitgeist nicht das Geringste gemein hat. Nicht als ob sie etwa aus einer Galerie jener mit erkünstelter Naivetät und konventioneller Wehmut ausgeführten Heiligen- und Ritterbilder beständen, wie wir sie in der schwäbischen Schule so häufig finden; – [4] niemand kann von der Beschränktheit einer solchen Auffassung freier sein als unsere Dichterin. Einzelne dieser Gedichte sind von einer Kraft und Größe, andere von einer Anmut und Lieblichkeit, die einen Maßstab für den Umfang dieses außerordentlichen Talents geben; aus allen aber spricht nicht die weichliche Klage um versunkene, unmöglich gewordene Zustände, sondern die brennende Sehnsucht nach dem Wiedererwachen jener ewigen Ideen des Rechts und der Wahrheit, ohne welche noch keine Zeit und kein Volk Großes zustande zu bringen vermochte. Eine die Anschauungsweise der Verfasserin charakterisierende Stelle finde hier ihren Platz:


»Den Wurm, der im geheimen schafft,
Den nackten, kalten Grabeswurm,
Ihn tötet nicht des Armes Kraft
Noch euer toller Liedersturm.
Ein frommes, keusches Volk ist stark,
Doch Sünde zehrt des Landes Mark;
Sie hat in deiner Glorie Bahn,
O Roma! langsam dich entleibt,
Noch steht die Säule des Trajan
Und seine Kronen sind zerstäubt!«

In den »Haidebildern« schildert die Dichterin die Eigentümlichkeit ihrer westfälischen Heimat, an der sie mit kindlicher Treue hängt; sie zeigt uns die gelbliche Steppe, den Föhrenwald, der sich als dunkler Strich an ihrem Rande hinzieht, den Weiher mit seinen bunten [5] Wasserpflanzen, das matte Blau des Himmels, der sich über das Ganze wölbt. Der charakteristische Reiz dieser Gedichte besteht aber noch weit mehr als im getreuen Schildern, in der ich möchte sagen historischen Auffassung der Natur, die sich in ihnen ausspricht. Namentlich in einem derselben, »die Mergelgrube«, ist das rastlose Werden und Vergehen, das Zehren des Lebens an sich selber auf erschütternde Weise zusammengefaßt. – Von gleicher Bedeutsamkeit sind »der Hünenstein« und »die Krähen«. Das letztgenannte Gedicht zeigt uns eine Schar dieser Vögel, die ihr Sandbad nimmt; eine schwatzhafte alte Krähe hebt an dem jungen Volk zu erzählen, was sie im Laufe ihres langen Lebens an sich vorübergehen sah. Ihr Lieblingsheld ist Christian von Braunschweig, und ihr merkwürdigstes Erlebnis die Schlacht, die er bei Loën (1623) gegen Tillys Macht verlor. Auf einem Galgen sitzend, war sie Zeugin des Gefechts gewesen; sie schildert den »tollen Herzog« und preist, wie ritterlich und kühn all seine Gebahren:


»Wenn er die Braue zog, die Lippe biß,
Da standen seine Landsknecht' auf den Füßen!
Wie Speere, solche Blicke konnt' er schießen.«

Zur Schilderung der Schlacht übergehend, malt sie das grausige Bild aus wie die Kanonen das Hirn der Kämpfer zu Brei fuhren, die Granate am sandigen[6] Grund hinlief, verendende Rosse auf dem Boden sich wälzten und wie mancher Totwunde


.... »noch einen Stich versucht
Als über ihn der Bayer weggeflucht.
Noch lange hatten sie getobt, geknallt!
Ich hatte mich geflüchtet in den Wald;
Doch als die Sonne färbt der Föhren Spalten,
Ja, welch' ein köstlich Mahl ward da gehalten!
Kein Geier schmaust, kein Weihe je so reich!
In achtzehn Schwärmen fuhren wir herunter,
Das gab ein Hacken, Picken, Leich' auf Leich' –
Allein der Halberstadt war nicht darunter:
Nicht kam er heut, noch sonst mir zu Gesicht,
Wer ihn gefressen hat, ich weiß es nicht.«

Als die Scheherazade verstummt, streckt ein Krähengreis den Kopf; seine Erinnerungen reichen noch weiter hinauf in eine ferne Vergangenheit. Er erzählt von jener grauen Zeit:

»Als Ritter mit dem Kreuz gefahren
Und man die Münster hat geweiht.«

Am Kirchenfenster herumflatternd, war er einst Zeuge von der Einkleidung einer Nonne gewesen. Es kann nichts Lieblicheres geben als die Schilderung dieser Szene, wie die Eltern der Himmelsbraut dastanden, der Vater aufs Barettlein in seiner Hand, die Mutter auf das Paternoster starrend.


[7]
Ehrbar, wie bronzen sein Gesicht –
Und aus der Mutter Wimpern glitten
Zwei Tränen auf der Schaube Mitten,
Doch ihre Lippe zuckte nicht.
Und sie in ihrem Sammetkleid,
Von Perlen und Juwel umfunkelt
Bleich war sie, aber nicht von Leid,
Ihr Blick doch nicht von Gram umdunkelt.
So mild hat sie das Haupt gebeugt,
Als wollt' auf den Altar sie legen
Des Haares königlichen Segen –
Vom Antlitz ging ein süß Geleucht.

Ihr Anblick hat sein armes Krähenherz so überwältigt, daß er von nun an nicht mehr aus der Nähe des Klosters wich. Wenn sie durch den Kreuzgang schritt, flog er ins Quadrum hinab, zum Scheine nach einem Regenwurm suchend. Magnetisch hält ihn ihre teure Nähe gefangen, und als nach manchem Jahre die Leiche der »heiligen Frau im Ordenskleide« ins Quadrum gebracht wurde, blieb es sein bittersüßes Glück durch ein Loch am Kirchende ins Gewölbe zu schauen. Da sitzt er noch oft im Dämmergrau, sie betrauernd, die hold war wie keine Krähenfrau.

Der neue Toggenburg schweigt. Da schnarrt über ihnen die Stimme eines uralten Raben, der bisher stumm auf einem Fichtenaste saß. Was kümmern ihn diese Geschichten aus der Neuzeit, ihn, der noch von[8] Teut und Thor hörte und Hünen bestatten sah? Er will Kunde geben von jenen Tagen, doch krächzend


»hebt sich die Schar und klatscht entlang den Hügel.
Der Rabe blinzt, er stößt ein kurz Geächz,
Die Federn sträubend wie ein zorn'ger Igel;
Dann duckt er nieder, kraut das kahle Ohr,
Noch immer schnarrend von Teut und Thor«. –

In »Scherz und Ernst«, in den Gedichten vermischten Inhalts möchte ich besonders jene hervorheben, in denen sich ein aus tief schmerzlichen Erfahrungen hervorgegangener Humor ausspricht. Was uns hier entgegentritt, ist nicht die tolle Mercutiolaune wüster Selbstironie, kein kokettes durch Tränen Lächeln, sondern eine Heiterkeit voll kräftiger Frische und reicher Liebesfülle, die höchste Blüte eines zu versöhnender Erkenntnis hindurchgedrungenen Geistes, das leuchtende Siegeszeichen eines erschütterten, aber unbezwungenen Herzens. Wie groß die Kämpfe gewesen sein mögen, die Annette v. Droste in sich zu bestehen hatte, können wir nur der abgeklärten Ruhe und heiteren Festigkeit entnehmen, mit der sie jetzt dem Leben ins Auge blickt, ohne Trotz und ohne Furcht, wie es nur jene vermögen, die ihre Kraft kennen lernten. Man muß ein sehr scharfes Auge besitzen oder sehr viel gelitten haben, um zu verstehen, aus welchem dunklen, mit Tränen getränkten Grund diese Blumen hervorgesproßt; die Dichterin selbst spricht nicht davon; stolz und schamhaft [9] verschmäht sie es, die Wunden, die ihr das Leben schlug, zu enthüllen. Man kann sich nichts Individuelleres denken als diese Gedichte und doch wieder nichts, das weniger persönlich wäre. Darin liegt die Macht, die sie wie eine Stimme der Menschheit selbst zu unserm Herzen sprechen läßt.

Auf gleicher Höhe mit dem Übrigen stehen die Balladen; einigen von ihnen verleiht der dem Genius der Dichterin innewohnende dämonische Zug noch einen eigentümlichen schauerlichen Reiz. Außerdem ist sie Virtuosin im Schildern; wenn sie uns durch die alten Hallen führt, glauben wir den feudalistischen Schmuck an den Wänden, die Greifenklaue am Marmortisch, das in der Fensternische flatternd rollende Banner zu erblicken.

»Und der Vers?« höre ich fragen, »ist er melodiös, weich, musikalisch?« Nein, das ist er nicht, aber großartig, charakteristisch, voll tiefster Übereinstimmung mit dem, was er ausdrücken soll, der Leib des Gedankens, nicht sein Kleid. Die Sprache der Droste ist kein buntes Edelsteinchen mit tausend künstlich geschliffenen Facetten, sie ist ein im eigenen Lichte glänzender Solitair.

Werden meine schwachen Worte diesem an köstlichen Inhalt überreichen Buche neue Freunde verschaffen? Ich wünsche es aus tiefster Seele. Nicht um der Dichterin willen, die irdischer Anerkennung nicht[10] mehr bedarf, sondern weil ich darin ein trostvolles Zeugnis finde, daß der Sinn für das Große, Edle, Echte in meinem Volke noch lebendig wohnt.

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TextGrid Repository (2012). Paoli, Betty. Essays. [Annette von Droste-Hülshoff]. 1. Gedichte von Annette v. Droste-Hülshoff. 1. Gedichte von Annette v. Droste-Hülshoff. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-6B57-2