[212] Fragment aus einer größeren, noch unvollendeten Dichtung

In Trümmer war die alte Welt gesunken!
Den Schwerpunkt missend, glitt sie todestrunken
Von Sturz zu Sturz durch schaurig öde Nacht.
Der Glaube, der sie stützend einst getragen,
Er war dahin, und mit ihm lag zerschlagen
Die ihm entspross'ne Fülle ihrer Macht.
Was konnte sie noch zeugen und gebären,
Der Götter, Freiheit, Vaterland Chimären,
Erfunden für der Thoren Wahnbedarf?
Sie, die von dunkeln Mächten Unterjochte,
Die Großes zu belächeln nur vermochte
Und alles Hohe zu den Toten warf?
Stets mehrten sich die finstern Unheilszeichen.
Den Mannesstolz sah blasser Furcht man weichen,
Die Bürgertugend käuflich feilem Sinn!
Klein wie die Seelen wurden ihre Ziele.
Des Pöbels Losungswort hieß: Brot und Spiele!
Der Mächt'gen Wahlspruch: Wollust und Gewinn!
Es lösten sich die heiligsten der Bande,
In Purpur ging, erhob'nen Haupts, die Schande,
Verödet stand des Hauses trauter Herd.
Wo einst im Schmucke der verdienten Ehren
Matronen saßen, thronten jetzt Hetären,
Geschmückt mit eines Fürstentumes. Wert.
[213]
Ein wüster Wahnsinn hielt die Welt umfangen;
Der Schminke Rot auf ihren fahlen Wangen,
Erhoffte sie Betäubung vom Genuß.
Umsonst! wohin sie ihren Schritt auch kehrte,
Der Ekel vor sich selbst blieb ihr Gefährte,
Als Schatten folgte ihr der Ueberdruß.
Kein Zauber war, der diesen Schatten bannte!
Und tief in ihrem Innersten entbrannte
Ein wildes Sehnen nach dem Untergang. –
Da, plötzlich, in so hoffnungslosem Trauern,
Vernahm sie eine Stimme, die mit Schauern
Des Schreckens und der Wonne sie durchdrang.
Ihr schwindelte! – Mit goldnem Licht umwob sich
Das Dunkel rings, ihr müder Blick erhob sich,
Ihr Fuß hielt inne auf dem Grabesgang!
Und sie begann dem Wunderwort zu lauschen,
Das durch der Stürme und der Wogen Rauschen
Aus fernem Ost bis hin zum Tiber klang.
Er sprach dies Wort den Herren und den Knechten
Vom Kampf und von dem Siege des Gerechten,
Von des Entsagens herber Seligkeit!
Von einer Liebe, die befreit, entsündet,
Und deren Strahl, da wo er trifft und zündet,
Zum Helden- und zum Märtyrtume weiht. –
Die Welt, von diesem Worte übermeistert,
Sie beugte sich, erst staunend, dann begeistert,
Dem sanften Joch, das es ihr auferlegt.
Genommen war der Fluch von ihrem Haupte!
Sie jauchzte, wie die unfruchtbar Geglaubte,
Wenn sich in ihr ein keimend Leben regt!
[214]
Dies neue Leben, das in ihr erwachte,
Mit tausend Werdetrieben sie durchfachte,
Es war der Liebe ungeahnte Kraft!
Durch ihre Adern floß der Strom der Weihe, –
Verjüngt, erneuert schritt sie, eine Freie,
Aus der Versumpftheit und der Selbstsucht Haft!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Paoli, Betty. Gedichte. Letzte Gedichte. Fragment. Fragment. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-6BF3-F