[100] Drittes Buch

[101] [103]Die vierte Satyre des Boileau

An Herrn de la Fermiere in Petersburg.


Freund, warum glaubet doch der ganze Schwarm der Thoren
Es sey nur ihm allein die Weisheit angeboren?
Und warum ist kein Narr, der, von sich selbst entzückt,
Nicht seinen Nachbar keck ins nächste Tollhaus schickt?
Ein Schulfuchs, welcher sich mit Sprüchen ausgerüstet,
Der nur auf griechisch schwört und als ein Pfau sich brüstet,
Der bey dem Bücherstaub sich hypochondrisch saß
Und sich mit vielem Schweiß zum Grillenfänger las,
Glaubt daß die Seele träumt, und daß wir schwärmen müssen,
Wenn wir bey jedem Wort nicht wie sein Lehrbuch schließen.
Ein Laffe, welcher sonst kein andres Tagwerk kennt,
Als daß er nett geputzt zu hundert Schönen rennt,
Ein welches Liedchen brummt, als ein Franzose dahlet,
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Auf englisch sich betrinkt, auf deutsch mit Ahnen prahlet,
Verachtet jede Schrift, trotz der Gelehrsamkeit
Und suchet einen Ruhm in der Unwissenheit.
Er glaubt daß sie allein den edeln Hofmann schmücke,
Und weist den Musenfreund ins alte Rom zurücke.
Ein stolzer Muffel glaubt mit seinem Heuchelschein
Für Gottes Auge selbst verschmitzt genug zu seyn,
Indem er gleisnerisch den Schalk zu decken suchet,
Die Welt ein Sodom heißt und auf die Ketzer fluchet.
Ein Freygeist, der die Schrift für frommen Unsinn hält,
Und seine Sinnlichkeit sich zum Gesetz erwählt,
Nennt allen Gottesdienst ein thörichtes Bemühen
Und foltert seinen Witz die Priester durchzuziehen;
Er spricht der Tugend Hohn, er lacht des Weltgerichts
Und sieht im Tode blos die Rückkehr in das Nichts.
Allein wer kann das Meer der Unvernunft erschöpfen?
Der Erdkreis wimmelt ja von lauter tollen Köpfen;
Viel eher zählet man wie oft der Arzt Callist
In einem Vierteljahr zum Mörder worden ist,
Wie oft Laidion dem ganzen Stutzerorden
Den Jungfernkranz verkauft, eh sie zur Frau geworden.
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Doch, Freund, ich werde müd mit Narren umzugehn,
Mein kurzes Urtheil soll in diesem Satz bestehn:
Daß, trotz dem Lob, das wir von Hellas Weisen lesen,
Die wahre Weisheit nie des Menschen Loos gewesen.
Der Wahnwitz klebt uns an so sehr man uns auch lobt,
Nur daß der eine laut, der andre leiser tobt.
So wie in einem Wald, den hundert Gänge trennen,
Die fremden Wanderer sich leicht verirren können,
Und einer diesen Pfad, der andre jenen wählt,
So ist ein Irrthum schuld daß jeder anders fehlt.
Die Menschen wallen stets auf ungewissen Wegen;
Der Irrwisch ist ihr Herz, dem sie zu folgen pflegen,
Oft wirft ein Moralist uns unsre Thorheit vor
Und dieser weise Mann ist selbst der größte Thor;
So heftig auch hierzu die muntern Spötter lachen,
So will ein jeder Thor sich doch zum Weisen machen,
Wenn er mit blindem Stoltz nach seinem Sinne lebt
Und seine Fehler selbst als Tugenden erhebt.
Drum sag ich dieses nur, dem der sich gerne kennet;
Der Weiseste bleibt der, so sich nicht Weise nennet,
Der fremde Mängel stets mit Sanftmuth übergeht,
Hingegen bey sich selbst bedachtsam stille steht;
Der bey der Prüfung sich nicht vor sich selbst verstellet
Und seinen Fehlern selbst ein strenges Urtheil fället,
Doch jeder richtet sich stets mit Gelindigkeit.
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Ein Filz, der seinem Geld fußfällig Weihrauch streut,
Den selbst beym Ueberfluß die Nahrungssorgen schinden,
Will in dem tollsten Geiz noch seltne Klugheit finden
Und feiert jeden Tag als ein beglücktes Fest,
Der seinen Schatz vermehrt, den er verrosten läßt.
Nein, wahrlich nein, es giebt doch keine größre Narren
Als die so Tag und Nacht nur Geld zusammenscharren.
So spricht ein lockrer Geck, der gleichfalls rasend ist
Und seiner Väter Gut vertanzt, verschmaust,verküßt,
Der seinen reichen Schatz als eine Last betrachtet,
Und mitten im Genuß nach neuen Freuden schmachtet.
Wer folgt von beyden wohl dem größten Selbstbetrug?
Die Wahrheit zu gestehn, sie beyde sind nicht klug;
So wird der weise Stax mit hoher Miene sagen
Und an ein Paroli sein halbes Erbtheil wagen.
Das Spiel ist sein Beruf, er wartet als ein Held,
Ob Leben oder Tod auf seine Seite fällt.
Allein sein Aß verliert, das Glück hat ihn getäuschet.
Nun sehet wie sein Zahn das arme Blatt zerfleischet,
Wie sein verzerrtes Haar sich auf dem Haupte sträubt,
Wie sein ergrimmter Blick am Himmel kleben bleibt,
Wie dem Beseßnen gleich, den ein Levit bedräuet,
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Sein Mund ein ganzes Heer von Flüchen wiederkäuet.
Ihr Leute, leget doch dem Titan Fesseln an,
Damit er nicht aus Wuth den Himmel stürmen kann;
Doch nein, wir wollen ihn mit dieser Cur verschonen,
Ihm soll sein Wahnsinn selbst statt aller Strafe lohnen.
Die Thorheit hat auch Gift, das uns weit süßer schmeckt,
Und einem Nektar gleich, den blöden Sinn erweckt,
Bis das berauschte Haupt von eiteln Träumen siedet.
Des Cleons Aberwitz ist daß er Reime schmiedet.
Wird gleich sein rauher Vers mit Unsinn untermischt
Und reich an Wörterschwall von Schülern ausgezischt,
Genug daß doch sein Wahn, daran er sich ergötzet,
Ihn über den Virgil auf dem Parnasse setzet.
Zu glücklich wenn er stets der dreisten Hand entflieht,
Die den verjährten Staar von seinen Augen zieht,
Und ihm die Verse zeigt, die sich vom Winde blähen,
Und arm an Geist und Reiz auf schweren Stelzen gehen,
Den Ausdruck ohne Sinn meandrisch umgedreht,
Die Blumen ohne Wahl der Schnur nach hingesät.
Wie würde Cleons Fluch den frechen Richter drücken,
Der ihn aus Träumen weckt, die seinen Geist entzücken.
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Ein Mucker, wie man sagt, so war er sonst nicht dumm,
Trug einen seltnen Wahn in seinem Kopf herum,
Er schwebte stets im Geist in überirdschen Sphären
Und glaubte den Gesang der Seraphim zu hören,
Bis ein berühmter Arzt ihn aus Geschicklichkeit,
Vielleicht von ungefehr, von seiner Sucht befreyt.
Nun sprach der Aeskulap vom wohlverdienten Lohne.
Was, rief der fromme Mann in einem rauhen Tone,
Ich dich bezahlen, dich, du Sohn der Finsterniß,
Der mich durch Satans Kunst dem Paradies entriß?
Sein Eifer war gerecht, die Cur war nicht die beste;
Von allen Uebeln ist oft die Vernunft das größte.
Die Freudenstörerin haucht mitten in der Lust
Der Reue bittres Gift in die vergnügte Brust.
Die Spröde hegt für uns die größten Grausamkeiten
Und will, Pedanten gleich, nur immer mit uns streiten;
Sie warnt, sie predigt stets; allein wie Priams Kind,
Cassandra, weißagt sie nur immer in den Wind.
Der Grübler will sie zwar zur Königin erheben
Und ihr die Sinnlichkeit zur Sklavin übergeben;
Er schaft im Traume sie zur Göttin auf der Welt,
Aus deren Händen er das wahre Glück erhält,
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Und hofft durch ihre Macht vom Irrthum zu genesen;
Sein Lobspruch läßt sich schön in einem Buche lesen.
Ich ehre sein System, und finde doch dabey
Daß in des Thoren Wahn oft mehr Vergnügen sey.
So weit mein Despreaux. Du, der die Weisheit kennet
Und eben weil ers ist, sich niemals weise nennet,
Sprich, hat der Mann wohl Recht? ich, Lieber, weiß es nicht;
Nur weiß ich daß noch viel zur Weisheit mir gebricht.
Wohl dem, der stets ihr Gold von fremdem Glimmer scheidet,
Auf seinem Lebenspfad die schroffen Kanten meidet,
Sich stets, so gut er kann, fest auf den Beinen hält
Und nach Confuzens Rath gleich aufsteht, wenn er fällt.

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TextGrid Repository (2012). Pfeffel, Gottlieb Konrad. Gedichte. Fabeln und Erzählungen. Erster Teil. Drittes Buch. Die vierte Satyre des Boileau. Die vierte Satyre des Boileau. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-7164-8