[197] Der Tod

Theanor saß am Eingang seiner Zelle,
Die vor Jerusalem auf einem Berge stand,
Und sah den greisen Tag im lichten Sterbgewand
Des Abendroths, wie er die graue Schwelle
Des Horizonts mit feyerlichem Schritt
Am Arm der Zeit hinunter glitt.
So gleitet nach dem stillen Meere
Der Ewigkeit des Menschen Leben hin.
Mein Lenz entfloh, mein Winter wird entfliehn;
O! wenn ich nur schon durchgedrungen wäre
Durch deine Halle, schauervolles Grab!
So seufzet er und eine bittre Zähre
Rollt über sein Gesicht herab.
Sie rollte noch, als, gleich dem Strahle
Des matten Blitzes, ihn ein Silberstrom
Umfloß, und eine Stimm aus dem saphirnen Dohm
Ihm zurief: blicke nach dem Thale!
Er blickt ins Thal; auf einem dunkeln Pfad
Schlich ein gebückter Greis getrost an seinem Stecken,
Als plözlich der Monarch der Schrecken
Aus einer Wolke vor ihn trat.
[198]
Der Greis erkennet ihn: Sey dreymal mir gegrüßet,
Du Bote der Unsterblichkeit!
So redet er ihn an und neiget sich, und küsset
Den schwarzen Saum an seinem Kleid.
Wie, sprach der alte Sohn der Sünde:
Erschrickst du nicht vor dem, der jedem Adamskinde
So furchtbar ist? ... »Nur den erschreckt dein Bild,
Der vor sich selbst erschrickt.« So schaudre vor den Seuchen,
Die vor mir her im Finstern schleichen
Und vor dem kalten Schweiß, der mir vom Fittig quillt!
»Ich schaudre nicht.« – Warum nicht? – »Freund, ich werde
Durch sie gewahr, daß du mir nahe bist.« –
Wer bist du denn, du Mensch von Erde,
Der Freund mich nennt? – »Ich bin ein Christ.«
Schnell hauchet ihn der ernste Seraph an
Und Tod und Sterblicher verschwanden. –
Ein unterirdischer Orkan
Eröffnet an dem Ort, wo sie gestanden,
Mit einem dumpfen Donnerschlag
Ein tiefes Grab. Theanor bebte.
Er sah daß etwas in der Höle lag,
Darauf ein dunkler Nebel schwebte.
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Doch plötzlich hallt in sein betäubtes Ohr
Ein leiser Harfenklang von des Olympus Küsten:
Er blickt hinauf und sieht den Christen
Umringt von einem hehren Chor
Verklärter Geister, das mit süßen Psalmen
Ihn Bruder grüßt und einen Kranz von Palmen
Auf seinen Seitel drückt. Sein Angesicht
Wirft Strahlen wie das Sonnenlicht.
Theanors Geist hängt an der großen Scene
Und feyert mit. Sein Psalm ist eine Freudenthräne.
Nun blickt er in das Thal: die Dunkelheit,
Die auf dem Grabe lag, zerfließet,
Und nun erkennet er was es verschließet –
Des Christen abgetragnes Kleid.
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TextGrid Repository (2012). Pfeffel, Gottlieb Konrad. Gedichte. Fabeln und Erzählungen. Erster Teil. Viertes Buch. Der Tod. Der Tod. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-716C-7