[173] Der alte Diener
An meinen Bruder.
In Memphis goldner Burg trat vor des Königs Thron
Ein edler Greis an seinem Stabe:
Ich diente deinem Vater schon,
Sprach er, und wenn ich treu gedienet habe,
So gieb mir meiner Arbeit Lohn.
Der König kannte längst des Alten Treue,
Er sah ihn freundlich an: »Was foderst du
Von meiner Dankbarkeit?« – »Die Ruh;
Vergönne, daß ich mich mit meinen Enkeln freue,
Eh mich der Tod von hinnen raft.«
Ey, rief der Fürst, du kannst noch lange nützen,
Dein Geist behält noch seine ganze Kraft;
Bleib hier: du sollst an meiner Seite sitzen,
Und wenn der Tod dich von uns ruft,
So leg ich dich in meine Fürstengruft.
Ein Grab in deinen Pyramiden,
Versetzt der Greis, ist auch ein Grab:
Das dunkle Thal, das mir mein Daseyn gab,
Sey auch mein Ruheplatz hienieden.
Der König ließ den Diener ungern ziehn,
[174]Doch mußt er ihm zuletzt willfahren.
Er dachte schon nicht mehr an ihn,
Als er nach zwey verfloßnen Jahren
Einst müde von der Jagd auf einen Sandstein saß,
Auf dem er diese Worte las:
»Das Büschchen, das auf diesem Hügel grünet,
Erkohr ein Greis zu seiner Ruhestatt,
Der fünfzig Jahre lang zween Königen gedienet
Und nur ein Jahr gelebet hat.«
O Bruder! wann wirst du den Wunsch erfüllen,
Den einzigen, für den mein Herz noch brennt,
Den süßen Wunsch, der Tage Rest im Stillen,
Uns selbst genug und ungetrennt,
Von unsrer Lieben Kreis umgeben,
In heitrer Ruhe durchzuleben?
Den Sommer schenktest du dem Vaterland,
Gieb uns den Herbst. Die strengen Parzen spinnen
Mit schneller niemals müder Hand
Am dünnen Rocken fort, und eh wir uns besinnen,
Reißt Atropos den Faden ab.
Drum komm, o komm, beflügle deine Schritte!
Kein Trianon gleicht unsers Vaters Hütte,
Kein Saint-Denys gleicht seinem Grab.