[112] Die Pilger

An Lavater.


Ein Iman schickte seine Söhne
Nach Mekka zu des Sehers Grab;
Sie reisten wie die Diogene,
Das heißt, zu Fuß. Beym Abschied gab
Der fromme Greis, mit einer Thräne
Des Segens, jedem einen Stab
Und sprach: laßt diesen euch regieren.
Ein Gott gab im die Wunderkraft,
Euch stets den rechten Weg zu führen.
Sie traten ihre Pilgrimschaft
Itzt muthig an. Einst rief im Gehen
Der jüngste Bruder: laß doch sehen,
Wer wohl den schönsten Stecken führt?
Stracks blieb die Caravane stehen.
Die Stäbe werden recensiert,
Und in die Läng und in die Quere
Gedreht, gebogen, abvisiert,
Und jeder schwur bey Gott und Ehre,
Daß seiner doch der schönste wäre.
Als man sich heiser demonstriert,
So kam es, wie in unsern Tagen,
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Zum Schelten und zuletzt zum Schlagen.
Die Stöcke zischten durch die Luft;
Hier flog ein Ohr, dort eine Nase,
Hier sprang ein Zahn aus seiner Kluft,
Dort lag ein scheeles Aug im Grase.
Ein Derwisch, weis und fromm, wie du,
Freund, zog von ungefähr die Straße;
Er lief auf die Athleten zu
Und rief mit eines Seraphs Stimme:
Laßt ab, Unsinnige, laßt ab
Von eurem mörderischen Grimme!
Der Vater gab euch diesen Stab
Um euch auf rechter Bahn zu leiten,
Und den gebraucht ihr, ihm zum Hohn,
Als Werkzeug toller Streitigkeiten,
Wie Christen die Religion.

Notizen
Entstanden 1781.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Pfeffel, Gottlieb Konrad. Die Pilger. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-7363-7