[17] Das Schaf

Ein Fleischer riß ein Lamm im Schlaf
Vom Euter seiner frommen Amme:
»Grausamer, ächzt das bange Schaf,
Stoß, ungetrennt von meinem Lamme
Auch mir dein Meßer in das Herz!«
Nein, rief der Mann mit bitterm Scherz,
Ich muß dich erst noch fetter machen.
»Du mich?« erwiedert, mit dem Schmerz
Der Niobe, die arme Mutter:
»Das wirst du nicht.« Von nun an aß
Sie keinen Halm von ihrem Futter
Und trank nicht mehr. Der Fleischer sahs
Und trieb sie schon am vierten Tage
Zur Würgbank: lieber schlacht ich dich,
Als daß ich dich zum Schinder trage,
Sprach er. »Da siehst du's, Wüterich;
Versetzt das Schaf mit heitrer Seele,
Es ist auf Erden kein Tyrann
So mächtig, daß er dem befehle,
Der sterben will und sterben kann.«

Notes
Entstanden 1785.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Pfeffel, Gottlieb Konrad. Das Schaf. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-73C9-3