II.
Auf dem Falkensteine war Jahre lang ein alter Kuhhirt namens Kukuk in Dienst. Er hütete oft unter dem Ausberge auf der Wiese. Als einst sein Vieh des mittags ins Lager ging, legete er sich schlafen und träumete: im Tidian stünde ein goldener Mann. Als er erwachte, sah er sich um wie betäubt; so legte er sich wieder hin und träumete wieder vom Tidian. Auch träumete er jetzt noch, an der Selke stünde eine blaue Blume, die sollte er abpflücken und an seinen Hut stecken. Dann sollte er in die Selke gehen und einen Stein suchen, woran drei Kreuze wären. Von dem Steine aus sollte er eine bestimmte Anzahl Schritte nach dem Tidian zu machen. Dann würde er einen Ahornbaum finden mit einer hervorstehenden Wurzel, darunter läge ein Schlüssel. Dann solle er die Blume nehmen und drei Kreuze damit machen vor dem Berge. Alsdann würde die Erde einschurren und eine Thüre dasein, diese sollte er mit dem gefundenen Schlüssel aufschließen und hineingehen. Kukuk führete alles aus, fand den Schlüssel, nahm seine Blume vom Hute und machte drei Kreuze. Die Erde sank ein und die Thüre stand da. Als er in die Tidianshöhle kam, glänzte alles schön hell. Er sah sich rings um [253] und sah einen vollständigen goldnen Mann. Kukuk war bei dem Anblicke sehr ängstlich und ging diesmal aus der Höhle, ohne auch nur das geringste zu nehmen. Den dritten Tag fiel seine Hütung wieder an den Ausberg. Da stellete er seinen Hut neben sich und wie er die Blume wieder sah, entschloß er sich, denselben Gang wieder zu machen. Den Schlüssel hatte er wieder unter den Ahorn gehänget, konnte ihn wieder wegnehmen und alles begab sich wie zuvor. Um den goldnen Mann nicht zu beschädigen, fing er nur an daran zu schaben und wie er seinen Hirtenranzen voll hatte, schloß er zu und legete den Schlüssel wieder unter die Wurzel des Ahorn. Sein Vieh fand er noch in guter Ruhe, ermunterte es und trieb es fort seiner Weide nach. Er hütete noch, trieb aber eine halbe Stunde früher zu Hause. Seiner Frau fiel sein früheres Kommen auf und er mußte ihr gestehen, daß er im Tidian gewesen sei und noch nach Halberstadt wolle, um das Gold zu verkaufen. Morgens früh, als der Himmel noch graute, war er schon in Halberstadt und sagte dem Goldschmied, er hätteTidiansgold. Der Goldschmied kannte schon von Hörensagen den vorzüglichen Wert des Tidiangoldes und zahlete eine bedeutende Summe dafür aus. Darnach empfahl er ihm so oft als möglich von dem Golde zu bringen. Das empfangene Geld aber ließ Kukuk bei einer Schwester, die in Halberstadt verheiratet war. Als die Kühe ausgetrieben werden mußten, war Kukuk noch nicht wieder zu Hause und die Herren vom Falkensteine schickten zu seiner Frau und ließen fragen, wo er denn wäre. Die Frau antwortete: er würde wohl bald kommen, gestern Abend wäre eine Kuh ausgeblieben und wohl über die Grenze gegangen, danach wäre er aus.
Nun wollte ein Herr vom Falkensteine ein Halsgeschmeide für seine Schwester machen lassen, weil diese sich verheiraten wollte. Er kam zu dem Goldschmiede in Halberstadt und dieser sagte: von welcher Goldart das Geschmeide sein solle; er habe dreierlei Gold, davon wäre das Tidiansgold das feinste und schönste. Tidian? sprach der Herr vom Falkensteine für sich; der lieget ja auf meinem Grund und Boden. Er frug weiter, wie der Goldschmied zu diesem Golde käme, und der sagte: ein alter Mann brächte es. Als sie den Schmuck abholen [254] wollten, erschien auch gerade der Kuhhirt. Der Goldschmied zeigete ihn, wie er fort ging, durch's Fenster an, und der Herr vom Falkensteine und seine Schwester sahen, daß ihr Kukuk das Gold brachte.
Zu Hause berieten die Herren vom Falkensteine, wie sie Kukuk vermögen könnten, sie in den Tidian zu führen. Der ältere Bruder wollte sogleich Gewalt anwenden, der jüngeste mit Güte ihn dazu vermögen. Als Kukuk mit der Herde heimkehrete, sagten sie ihm alles auf den Kopf zu und er gestand es sogleich ein, beschrieb auch, wie schön es darinnen sei. Sie fragten, ob sie mitgehen könnten und er versprach sie mitzunehmen. Eines Morgens kündigte er ihnen an, daß sie mittags um elf Uhr auf der Thalwiese sein sollten, ihn in den Tidian zu begleiten. Er nahm den Schlüssel fort, die Herren vom Falkensteine sahen aber nicht, wie er die Kreuze mit der Blume machte. Sie gingen in den Tidian und der ältere Bruder wollte dem goldnen Tidian sogleich einen Arm abschlagen. Das gab der Kuhhirt nicht zu, riet ihnen nur, wie er bisher gethan hatte, zu schaben, da dann das abgeschabete wieder anwüchse und da also noch Kind und Kindeskind von dem Tidiane gewinnen könnten. Er bot ihnen dazu sein Messer und sie befolgeten seinen Rat. Der Kuhhirt weigerte sich, diesmal auch zu nehmen, weil er aus Bescheidenheit nicht mit seinen Herren zu gleicher Zeit nehmen wollte.
Die Herren vom Falkensteine waren auf dem Rückwege voller Freude, der jüngere Bruder lobete den alten Kuhhirten, der ältere aber gönnete dem Hirten nicht, daß er noch einmal in den Tidian gehen solle. Am dritten Abende darnach ließen sie den Hirten kommen, gegen den jetzt auch der jüngere Bruder eingenommen war. Sie ließen ihn greifen und binden und der ältere Bruder stach ihm beide Augen aus.
Darnach wollten die Herren vom Falkensteine zum zweiten male in den Tidian. Sie wollten ihrer Schwester seine ganze Herrlichkeit zeigen und dabei wieder von dem goldnen Manne abschaben. Sie konnten aber den Schlüssel nicht finden und meineten, der alte Tidian hätte ihn weggeholet. Als sie nun unverrichteter Sache heimkehreten, redeten sie Kukuk wieder mit Güte zu: sie wollten einmal in den Tidian gehen, er möge [255] sie hinführen. Kukuk ging mit, aber ohne seine Blume. Sie zeigeten ihm den Ahorn und er sagte: gut, so möchten sie den Schlüssel wegnehmen. Die Herren vom Falkensteine sagten: nein, er solle es thun. Er antwortete: sie hätten ihm doch die Augen ausgestochen, nun könne er auch den Schlüssel nicht finden; wenn sie ihm seine Augen wiedergeben könnten, so könne er auch den Schlüssel sehen. Dabei blieb es.
Auf dem Rückwege kochte der ältere Bruder wieder Gift und Galle gegen Kukuk und zu Hause ließ er ihn ins Verließ werfen. Darinnen ließ er ihn zwei Jahre sitzen und endlich schlug der jüngere Bruder vor, daß sie ihn fortschaffen und seinem Schicksale überlassen wollten. Das war der ältere Bruder nur unter der Bedingung zufrieden, daß sie seine Wirtschaftsgeräte behielten, weil sie ihn zwei Jahre im Kerker ernähret hätten. Kukuk hatte nichts dagegen und bat nur, daß sie ihm seinen alten Hirtenhut mit in die Verbannung gäben. So wurde er von seiner Frau nach Halberstadt geführet, wo sein Vermögen sicher bei seiner Schwester lag. Von Halberstadt aus ließ er sich von seiner Frau noch zweimal in den Tidian führen, weil der Goldschmied bat, daß er noch von dem Golde bringen möge. Er starb in Halberstadt. Die Herren vom Falkensteine ließen links und rechts am Tidian graben, aber ohne Erfolg. Endlich wurde die Arbeit eingestellet. Als sie selbst schon sehr alt waren, ließen sie die Arbeiten wieder beginnen. Einst stand der ältere Bruder da und sprach: »Hier, hier war die Stelle!« Da sprach eine Stimme hinter ihm:
»Herre von Falkenstein!
Wennstu Kukuks Knochen bringest,
So kann du auch wieder in Tidian hinein!«
Nun wandten sie sich an den Totengräber in Halberstadt. Der wußte zwar die Grabstelle; sie war aber unterdessen schon zweimal umgegraben und Kukuks Knochen waren mit andren vermischt. So konnte sein Gerippe nicht mehr zusammen gebracht werden und der Tidian blieb uneröffnet.
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