[140] Schwesterngedicht

Wien im Heumond 1784.


Verurtheilt mich ein schwärmerisch Gericht,

Weil ich gescherzt, als einen Bösewicht?

Uz.


Die ältesten Mysterien
Sind wohl die eleusinischen:
Diess soll mir niemand disputiren;
Herr Adam stiftete sie schon,
Und ich als Adams treuer Sohn
Liess jüngst mich auch iniziiren.
So wie bey uns der Neophyt
Nach Maurersitt' auf Reisen zieht,
So musst' auch ich ein paarmal wandern,
Bis man mich aufnahm. Eisenfest
Wallfahrtet' ich von Ost bis West
Von einer Schwester zu der andern.
[141]
Den ersten Strauss auf meiner Fahrt
Wagt' ich beherzt nach Ritterart
Mit einer grundgelehrten Schwester.
Sie war so klug, als Salomo,
Sprach ihr Latein, wie Cicero,
Und war dabey so schön, als Esther.
Sie hörte Wolfs Philosophie,
Und kannte die Geographie
Von Otaheite bis nach China.
Doch sprach ich von Mysterien,
So rief sie, gleich Vestalinnen:
Quousque tandem, Catilina?
Hier war ich nun, wie jedermann,
Der sein Latein nur halb noch kann,
Leicht merkt, nicht auf dem rechten Wege.
Verscheucht durch ihren Eigensinn,
Zog ich zu ihrer Nachbarinn:
Doch hier gieng vollends alles schräge.
[142]
Denn die war fühllos, kalt und stumm
Und exemplarisch fromm und dumm:
Man könnte sie kanonisiren.
Umsonst sucht' ich der Schüchternen
Die Reitze der Mysterien
Mit aller Kunst zu demonstriren.
Sie blieb trotz aller meiner Müh
Stäts von der Scheitel bis zum Knie
Eiskalt, wie eine Marmorbüste:
Auf jedes Wort, das ich verlor,
Kam der Bescheid, dass sie zuvor
Den Pater Rektor fragen müsste.
Hier war ich nun, wie jedermann
Aus ihrer Dummheit schliessen kann,
Wohl auch nicht auf dem rechten Wege.
So oft zu irren, gieng mir nah:
Doch hiess es, jetzt sey Hoffnung da,
Dass ich darauf gelangen möge.
[143]
Ich wagt's, mit diesem Trost versehn,
Die dritte Schwester zu bestehn.
An dieser fand ich Wohlbehagen;
Sie war nicht überklug, nicht dumm:
Beati tenent medium,
Hört' ich einst in der Schule sagen.
Zwar that auch die mir Widerstand:
Doch endlich bot sie mir die Hand,
Und nahm mich huldreich in die Pflege.
In ihren Armen endigte
Mein Weh sich, und der Leidende
War endlich auf dem rechten Wege.
Nicht albern und nicht zu gelehrt
Sey die Geliebte, deren Werth
Euch, Brüder, reitzt, sie zu erlangen.
Wohlan denn! feuert rings umher
Auf jeder Schwester Wohl, bey der
Der Suchende nicht irrgegangen!

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TextGrid Repository (2012). Ratschky, Joseph Franz. Gedichte. Gedichte. Schwesterngedicht. Schwesterngedicht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8C80-F