[394] [404]Franziska Gräfin zu Reventlow
Der feine Dieb

Gelegentlich einer Ferienreise hatte man uns im letzten Moment ein junges Mädchen mitgegeben, welches Elly hieß und etwas herauskommen sollte. Sie hatte eine mißglückte Verlobung hinter sich, litt unter der Einförmigkeit ihres Lebens in einer kleinen Stadt und war darüber bleichsüchtig geworden.

Wir waren anfangs erschrocken und fühlten uns nicht besonders geeignet, Mädchen aus der Kleinstadt zu chaperonieren, aber es ging dann ganz gut. Elly war bescheiden und sehnte sich nur nach neuen Erlebnissen oder Menschen, die ein wenig aus dem Rahmen des Alltäglichen herausfielen. Gerade weil sie das tat, hatten wir natürlich Pech. Alles, was wir unterwegs sahen, hörten oder kennenlernten, war von haarsträubender Mittelmäßigkeit. Wo immer wir uns aufhielten, schien, als habe [404] der liebe Gott in einer bourgeoisen Anwandlung nur mehr Oberlehrer und Geheimratswitwen erschaffen.

Auch das kann seine Reize haben, aber Elly litt darunter – denn das alles hielt sich unweigerlich im Rahmen des Alltäglichen. Bis dann einer aus dem Kreise ihr den Russen mitbrachte, extra für Elly, wie man Kindern eine Spielfigur mitbringt. Er hatte ihn bei einem Ausflug getroffen (es war noch vor dem Krieg, in jener sagenhaften Zeit, wo es noch Ausländer gab und diese für Attraktionen galten) und, da der Russe sich an demselben Ort aufhalten wollte, mit ins Hotel genommen. Es war eigentlich nichts Bemerkenswertes an ihm, außer seinem schlechten Deutsch, und Elly war wiederum leise enttäuscht, blühte aber doch etwas mehr auf, denn er machte ihr die Cour und fragte mehrmals, ob sie nicht Lust hätte, ihm später nach Amerika zu folgen. Er wollte demnächst hinüberfahren und sich dort eine Existenz gründen.

»Oh, das wird sehr interessant sein«, sagte er mit mindestens dreifachem R. » Interessant« mit dreifachem R war einer seiner Lieblingsausdrücke.

Wir anderen behandelten ihn mit großer Herzlichkeit. Vielleicht ergab sich hier für unseren Schützling eine erfreuliche Zukunftsperspektive.

»Wenn er nur etwas mehr aus sich herausginge«, sagte Elly manchmal, »ich weiß ja eigentlich gar nichts von seinem Leben. Ich denke, er muß Schweres durchgemacht haben, denn er spricht nicht gern darüber.«

»Versuchen wir einmal, ihn etwas aufzutauen«, meinte Herr P., derselbe, der ihn mitgebracht hatte und sehr auf Ellys Wohl bedacht war.

Ja, man mußte ihm einmal etwas auf den Zahn fühlen, wir waren ja in gewissem Sinne für das Mädchen verantwortlich.

So wurde kurz vor seiner Abreise ein kleines Souper [405] veranstaltet und dem Gast zu Ehren vor, zwischen und nach dem Essen viele Schnäpse getrunken.

Die Stimmung gestaltete sich recht lebhaft, Eis brach und Hemmungen fielen. Einer von den Herren stimmte ein Kosakenlied an:


Wir wollen uns mit Schnaps berauschen,
Wir wollen unsre Weiber vertauschen.
Wodka! Wodka!

und daraufhin taute unser Russe nun tatsächlich auf und erklärte, er fühle sich unter Menschen und Brüdern. Er bekam Heimweh nach seiner Steppe und fing an zu erzählen. Rußland ist bekanntlich sehr groß, und er kannte es sehr genau, war fast überall gewesen und schien vor allem ein leidenschaftlicher Fußgänger zu sein. Fast jeder neue Abschnitt seiner Erzählungen begann damit: »und dann bin ich gelaufen und gelaufen, bis ich kam in Petersburg – und dann bin ich gelaufen und gelaufen und gelaufen, bis ich kam in Kiew.« Das ging so von Sibirien bis zum Kaukasus. Und dann war er gelaufen und gelaufen, bis er nach Deutschland kam, und nun wollte er nach Amerika. Was für einen Beruf er hatte oder gehabt hatte, ging immer noch nicht daraus hervor, aber man suchte es durch allerhand Zwischenfragen darauf zu bringen. Elly hatte doch ein gewisses Interesse daran.

»Warum sind Sie denn nur immer zu Fuß gegangen?« fragte sie so nebenhin. Sie war schon wieder etwas leicht enttäuscht und fing an, ihn langweilig zu finden.

»Weil man immer war hinter mir, Fräulein«, gab er zur Antwort, legte seine Hand auf die ihre und lachte bitter. Wir begannen zu ahnen, daß er nicht mehr ganz nüchtern war, und hatten Angst, er möchte sich schlecht benehmen. Man hatte dieses junge Mädchen doch schließlich unserer Obhut anvertraut.

[406] »Hinter Ihnen – wer denn?«

»War immer hinter mir Polizei, Fräulein Elly – oh, das war manchmal interessant.«

Die Hand hatte er wieder weggenommen, und selbst etwas von den Schnäpsen umfangen, dachten wir: Sibirien – Polizei – Anarchist – nun ja, das kennt man, und lächelte vorurteilsfrei:

Ja, ja, die russische Polizei – trostlose Zustände –

»Sie sind wohl Anarchist gewesen?« fragte Elly mit neuer Anteilnahme.

»O nein, bei Gott, nie habe ich mich eingelassen mit solchen Sachen. Sie brauchen nicht erschrecken von mir, Fräulein – Polizei kam nur, weil ich früher einmal ein Dieb war und hat man mich zu Gefängnis gesperrt. Aber dann bin ich immer gelaufen und gelaufen, bis ich kam in einen anderen Platz. Und das war sehr interessant.« – Das fanden wir ja auch und waren alle doch etwas betroffen. Aber wir hatten diesen Mann eingeladen, und man darf doch seinen Gast nicht plötzlich fühlen lassen, daß man ihn minderwertig findet.

Elly verstummte allerdings völlig, aber Herr P. nahm statt ihrer das Wort und fragte in leichtem Konversationston: »Ach – Sie waren Dieb?«

»Ja, ich war früher einmal ein Dieb«, wiederholte er mit ungetrübter Selbstverständlichkeit. »Und ist besser das wie Anarchist. – Anarchist will alles nehmen und sagt: für Volk, aber feiner Dieb nimmt nur Überfluß. – Und so war ich immer ein feiner Dieb – gefahren und gefahren in Schnellzug, elegant bekleidet –«

»Hm – Taschendieb also?« warf P. wieder ein, so schlicht und sachlich, daß wir fürchteten, unser Gast möchte uns für Kollegen halten. Aber er war bereits jenseits aller Erwägungen.

»Kein Taschendieb – o nein. Bin ich nur gefahren, elegant [407] bekleidet, und wenn Leute gingen zum Essen, hab ich revidiert Sachen – bei Gott, sind die Leute nachlässig in russischem Schnellzug. Sehen Sie, Fräulein«, wandte er sich an Elly und die ganze Melancholie der Steppe dunkelte in seinem Blick – »wollte ich von Ihnen nur stehlen blaue Augen und sollen Sie mir freigebig geben den Rest. Bei Gott, nein, bin ich immer nur feiner Dieb gewesen. Oh, das war manchmal –«

»Sehr interessant«, ergänzten wir einstimmig.

Elly hatte bei seinem letzten Kompliment mehrmals die Farbe gewechselt und dann unauffällig den Saal verlassen. – – – Herr P. wußte es mit feinem Takt so einzurichten, daß der Russe schon am folgenden Morgen die Weiterreise nach Amerika antrat. Alle schüttelten ihm noch einmal herzlich die Hand und wünschten ihm viel Gutes. Dann war uns vorübergehend etwas unbehaglich zumute.

Elly hat ihren kurzen Traum resolut begraben. In gewissem Sinne kam sie aber dennoch auf ihre Rechnung, denn der Russe war an jenem letzten Abend immerhin aus dem Rahmen des Alltäglichen herausgefallen.

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TextGrid Repository (2012). Reventlow, Franziska Gräfin zu. Erzählungen. Der feine Dieb. Der feine Dieb. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8F81-6