Die zur See

»Ruhe da! Nicht einsteigen, bevor der Zug hält!« befahl der führende Deckoffizier. Und gleich darauf, ehe noch die einlaufende Eisenbahn zum Stehen gebracht war, hing die blaue Reihe von Matrosen und Maaten laut schreiend an den Coupétüren.

Mich, sowie vier andere Seeleute, lud ein gönnerischer Zufall in ein Frauenabteil zweiter Klasse. Eine alte Dame in Trauerkleidung [112] blickte unserem Einfall mit merkbar zwiespältigem Interesse entgegen. Ihre ehrwürdige Erscheinung goß Eiswasser auf unseren Übermut, indes wir erholten uns bald wieder, bis auf den Matrosen Strohsahl; der blieb stumm. Mehrmals streichelte er ungläubig lächelnd das grüne Plüschpolster, bevor er sich vorsichtig darauf niederließ; dann verharrte er mit eingezogenem Kopf, die Hände symmetrisch auf die Knie gelegt, unbeweglich; nur seine Blicke glitten nimmermüde über den unerhörten Luxus von Mechanik zu Mechanik.

Hein Pänk hatte sein riesiges Fleischgewicht zu der weißhaarigen Dame gesetzt, das heißt: auf derselben Bank, worauf sie am Fenster saß, lehnte er nun in der entgegengesetzten Ecke, und als der Zug wieder in Bewegung geriet, als aus den rädergetragenen Zellen ein tosendes Seemannslied mit eins aufstieg, hing Hein Pänks runder, gesunder Kopf bereits schlummernd über dem Eisernen Kreuz auf seiner Brust.

Ich ließ ein Fenster herab, um mir noch einmal das Bild der leidigen Kasernenstadt einzuprägen. Nach einiger Zeit bat mich die Dame mit weicher, gütevoller Stimme, das Fenster der kalten Zugluft wegen zu schließen. Signalgast Ohlensteevel, der ihr gegenüber saß, holte seine zerkaute Shagpfeife hervor und fing an, dicke Tabakwolken kräftigst auszublasen, welche die gefälligen Rauchringe meiner Zigarette verschlangen. Er starrte ebenso neugierig als beharrlich auf das blasse Frauenantlitz. Mir entging nicht, wie die Dame unter diesen Blicken litt und, wohl um diese abzulenken, ein Gespräch einleitete. »Sie fahren gewiß auf Urlaub?« fragte sie teilnahmsvoll.

Ohlensteevel lachte gell auf. Es ist mir nicht möglich, seine Antwort getreu wiederzugeben, schon weil sie in einem unnachahmlichen Plattdeutsch vorgetragen wurde, aber ungefähr sagte er: »Ja, Spuke von wegen Urlaub! Wir gehen auf ein Himmelfahrtsschiff.«

Ein Maschinistenmaat neben mir, der emsig dem Auskratzen seiner platten Fingernägel oblag, verbesserte die Auskunft: »Wir gehören zur Minenabteilung und sollen in der Nordsee Minen suchen und Minen legen.«

Die alte Dame bewegte schaudernd ihr Haupt. »Minen legen, wie schrecklich! Das ist doch sicher sehr gefährlich?«

»Furchtbar gefährlich«, platzte Ohlensteevel heraus, indem er sein Gesicht in ernste Falten verzog. Die alte Dame seufzte tief. [113] »Ja, ja, eine grausige Zeit, dieses 1914/15. Bedenken Sie einmal: Ich bin nun eine alte Frau und seit sieben Jahren Witwe – –«

»Oha«, nickte Ohlensteevel grinsend, »also Mann über Bord.«

Die Trauernde vollendete nicht, was sie hatte sagen wollen, sondern seufzte nochmals, lehnte sich sodann müde ins Eckpolster zurück und schloß die Augen. In diesem Moment schlug die Toilettentür von innen auf und warf in unsere Stille einen Aufruhr von Harmonikatönen. Ein Kamerad aus dem Nachbarcoupé erschien, uns zu besuchen und musikalisch zu bewirten.

Es war ein ungewöhnlich schöner Bursche, geschmeidig, verwegen, geradeausblickend und – einer von den Menschen, denen man unermüdlich zuschauen könnte, weil sie sich jederzeit mit ungezwungener Zweckmäßigkeit und darum wohlgefällig, schön bewegen. In der Division fürchtete oder kannte man ihn als einen vielbestraften, tollkühnen Matrosen, der sich aus einer schlimmen Vergangenheit zur See geflüchtet haben sollte. Seine Sprache klang rauh und roh.

Dieser Mann hub auf meine Bitte hin ohne Umschweife ein bestimmtes Volkslied zu spielen und zu singen an, mit einer Hingabe, welche der Sentimentalität des Liedes alles Lächerliche entzog.


... Hörst du nicht der Wellen Tosen?
Ihr Gebrause macht mir Schmerz.
Die Gesänge der Matrosen
Die zerreißen mir das Herz ...

Ich glaube, unser aller Augen hingen mit etwas weniger als Liebe und etwas mehr als Wohlgefallen an den seinen, die schwarz und glänzend waren wie sein Haar. Und weiterspielend, nun aber nicht mehr dazu singend, sondern gleichsam spöttisch pfeifend, verließ er uns jedoch unversehens wieder, auf demselben Wege, den er gekommen war. Alles an diesem Burschen übte einen unaussprechlichen Eindruck auf mich aus, selbst sein Name. Er hieß Wegerich.

Indem nun seine Musik hinter der geheimen Tür verhallte, ward in unserem Frauengemach ein weitausholendes Schnarchen auffällig. Hein Pänk röchelte so, klaffenden Mundes. Sein Oberkörper hatte sich auf der Bank zur Seite geneigt, derart, daß die abgeschliffenste Fläche von Hein Pänks Uniform prall der Witwe zugekehrt wurde. Sie schien das nicht zu bemerken, hingegen mit stillem Vergnügen den Signalgast zu beobachten, der sich angelegentlich [114] damit beschäftigte, aus einem Wust von Zeitungspapieren, der auf seinem Schoße balancierte, die erstaunlichsten Eßwaren herauszuschälen: Brot, Käse, Gurke, Räucherfisch. Das Rütteln des Zuges erschwerte diese Arbeit; Ohlensteevel geriet des öfteren mit seinen granitnen Fingern tief in die Leberwurst, wußte sich indes immer wieder gelegentlich an der Unterkante des grünen Plüschpolsters zu säubern.

Draußen flog derweilen links und rechts unaufhörlich neue Welt an uns vorbei: Wiesen und Flüsse, Brücken und Städtchen, auf die wir herabsahen – Wälder, Dörfer und Landstraßen mit Spaziergängern, die uns frohe Zeichen gaben – Stadtplätze, wo unsertwegen für Augenblicke der Verkehr stockte – zwischen sauber weißen Gardinen Frauen im Morgengewande, die sich unseren ohnmächtigen Blicken dreist und lüstern hingaben – ich sah aus einem Dachauge, welches zu eng war, um einen menschlichen Kopf durchzulassen, zwei Kinderhände winken. Denn überall, für Sekunden, waren wir erwünscht, begehrt, geliebt, willkommen, bewundert, gefeiert, waren wir Helden. Und die Hunderte von Köpfen, welche unser rasselnder Transportzug herausstreckte, schrien und sangen, schrien noch lauter, wenn ein schönes Mädchen vor einem Stalltor ihnen zulächelte, grölten höllisch, wenn ein begegnender Zug ebenso lärmende, feldgraue Kameraden von der Armee donnernd vorüberriß. Und die Bänder der blauen Mützen flappten gegen heißrote Backen.

Abermals, und vermutlich wieder aus Verlegenheitsgründen, hatte sich eine Unterhaltung zwischen unserer Dame und ihrem Gegenüber entwickelt. »Wie sieht denn eigentlich solche Mine aus, und wie funktioniert sie?«

»Ja-a-a – nun –«, erwiderte Ohlensteevel und verschlang ein Stück Gurke, größer als eine Zündholzschachtel, um Zeit zu gewinnen. Solchem Bestreben kam noch zu Hilfe, daß Hein Pänk plötzlich von einem Hustenanfall erschüttert ward, der die verblüffende Wirkung hatte, einen ansehnlichen Bolzen Kautabak aus dem Munde des Schläfers zu befördern, ohne daß dieser darüber erwachte. Nein, er drehte sich noch stärker sägend auf die andere Seite und zog sogar die Füße auf die Bank, so daß das Trauergewand bedroht wurde.

»Eine Mine –«, setzte Ohlensteevel langsam, ernst ein; er beugte sich dabei ganz nahe zu der Dame hin, etwa so, wie man in ein Telephon spricht, auch vergaß er nicht, geräuschvoll weiterzuspeisen. [115] »Eine Mine ist ungefähr so groß wie ein Haus, und sie ist durch und durch mit Pulver gefüllt, und oben sieht sie aus wie eine Insel; da ist sie nämlich wie ein Gebirge geformt und grün angestrichen, und es sind auch richtige Blumen und Palmen dran angebracht. Na, und dann wird sie irgendwo im Meere verankert, und dann fährt das Schiff wieder weg, und nur ein Mann bleibt auf der Insel zurück, wo keine Insel ist, und der ist aber als englischer Matrose verkleidet.«

Gespannt hörte die Dame zu. Strohsahl und ich blickten angestrengt durchs Fenster. Der Maschinistenmaat floh, das halbe Taschentuch im Munde, ins Nebencoupé. Ohlensteevel fuhr langsam, ernst und immer kauend und schlingend in seiner Schilderung fort: »Na, dann kommt meinetwegen ein englisches Schiff und sieht die Insel und denkt, es hat sich verirrt, und kommt näher, und der Matrose winkt und ruft dann hinüber, er habe Schiffbruch erlitten und sich auf die Insel gerettet, und man soll ihn doch an Bord nehmen. Selbstverständlich kommt das Schiff nun heran, weil es sich eben um einen englischen Soldaten handelt. Na, und in demselben Augenblick, wo das Schiff an der Insel anlegt, schlägt der verkleidete Matrose mit einem Hammer mit aller Kraft auf die Pulverinsel, und die ganze Insel mitsamt das Schiff fliegt in die – –«

Die alte Dame schrak zusammen. »Aber, mein Gott, dann ist ja auch der Matrose – –«

Jetzt hielt es der Signalgast selbst nicht länger aus. Seine Lippen platzten unter einem schmetternden Lachen auseinander und sandten der schwarzen Dame einen Sprudel von feuchten Speisekrümeln ins Antlitz. – Ein Kampf zwischen Mitleid und Lachmuskeln verursachte mir Pein. Ich wagte meinen Kameraden gegenüber energischen Protest, zumal Hein Pänk jetzt im Schlafe mit der bedauernswerten Frau wie mit einem überhitzten Bettwärmer verfuhr.

Ich sprach zu ihr, aber sie traute wohl meiner unmaritimen Redeweise nicht recht, denn ihr Lächeln war und blieb vorwurfsvoll und bat um Schonung. Übrigens verabschiedete sich die Dame bald, als wieder einmal der Zug hielt. Wir halfen ihr eifrigst beim Aussteigen. Ohlensteevel hob die zierliche Figur leicht und behutsam wie eine Porzellanterrine aus dem Coupé, und Strohsahl reichte ihr – – – wollte ihr einen Handkoffer herausreichen; es geschah ohne Absicht, daß ihm der Koffer entglitt, weshalb der [116] Maschinistenmaat, um ihn wieder herbeizuschaffen, auf allen vieren unter den Wagen kriechen mußte.

»Alles einsteigen!« – Pfiff – Schwaps; die Tür schlug zu; wir waren unter uns.

»Hu, das war ganz was Vornehmes«, sagte Strohsahl aufatmend.

Der Maschinistenmaat zuckte die Achseln. »Sie sah aus wie ein Ferngefecht an Backbord.«

»Nein«, meinte Ohlensteevel, »wie eine Kohlenschute am Ostersonntag.«

»Ohlensteevel«, rief ich, »du verrotteter Saufisch, wenn die Alte eine Admiralsgroßmutter gewesen ist, wird sie dich hoffentlich für vierzehn dicke Tage in den Tank bringen.«

Ohlensteevel und Strohsahl (beide und auch Wegerich starben zehn Tage später – den Heldentod fürs Vaterland) warfen sich jetzt über Hein Pänk und weckten den mit Püffen und Geschrei. Später wurden die Fenster herabgestoßen. Wir sahen hinaus auf die sonnigen, wechselnden Landschaften. Feldarbeiten – eine Luftschiffhalle – Schulkinder, uns zujubelnd – eine Fabrik, alle Fenster dicht mit Gesichtern besetzt – eine Arbeiterfrau, die ihr Jüngstes hochhob – in einem wohlgepflegten Garten ein stattlicher, weißhaariger Herr, der tief den Hut vor uns zog – wehende Taschentücher –.

»Wenn wir so vorbeisausen«, miaute Hein Pänk gähnend, »sind alle Leute freundlich zu uns, und in der Garnison lassen sie unsereinen ganz außenbords liegen und tun, als ob wir giftig wären.«

Ich sann über diese Beobachtung nach. Es kam mir in Erinnerung, daß ich einmal als gewöhnlicher Bootsmaat auf Urlaub in München einen Hauptmann in der Trambahn militärisch gegrüßt und dieser zu meiner Überraschung mit einer Ehrenbezeugung erwidert hatte, wie man sie sonst nicht Untergebenen sondern Vorgesetzten erweist.

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TextGrid Repository (2012). Ringelnatz, Joachim. Erzählprosa. Die Woge. Die zur See. Die zur See. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9685-0