Die Gräber zu Ottensen

Erstes Grab

Zu Ottensen auf der Wiese
Ist eine gemeinsame Gruft;
So traurig ist keine wie diese
Wohl unter des Himmels Luft.
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Darinnen liegt begraben
Ein ganzes Volksgeschlecht,
Väter, Mütter, Brüder, Töchter, Kinder, Knaben,
Zusammen Herr und Knecht.
Die rufen weh zum Himmel
Aus ihrer stummen Gruft,
Und werden's rufen zum Himmel,
Wenn die Trommet' einst ruft.
Wir haben gewohnt in Frieden
Zu Hamburg in der Stadt,
Bis uns daraus vertrieben
Ein fremder Wütrich hat.
Er hat uns ausgestoßen
Im Winter zur Stadt hinaus,
Die hungernden, nackenden, bloßen,
Wo finden wir Dach und Haus?
Wo finden wir Kost und Kleider,
Wir zwanzigtausend an Zahl? –
Die andern schleppten sich weiter,
Wir blieben hier zumal.
Die andern nahmen die Britten
Und andre die Dänen auf;
Wir brachten mit müden Schritten
Bis hieher unsren Lauf.
Wir konnten nicht weiter keuchen,
Erschöpft war unsere Kraft;
Frost, Hunger, Elend und Seuchen,
Sie haben uns hingerafft.
[30]
Ein ungeheuerer Knäuel,
Zwölfhundert oder mehr;
Es zieht sich über den Greuel
Ein dünner Rasen her.
Der deckt nun unsre Blöße,
Ein Obdach er uns gab;
Man merkt des Jammers Größe
Nicht an dem kleinen Grab.

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TextGrid Repository (2012). Rückert, Friedrich. Gedichte. Lyrische Gedichte. Erstes Buch. Vaterland. Zweites Kapitel. Zeitgedichte. 1814. 1815. Die Gräber zu Ottensen. Erstes Grab. Erstes Grab. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-A72F-7