[22] 8.

Oft auch, wenn mit röthlichem Schimmer der Abend hereinbricht
Und aufathmet die Stadt, wandl' ich betrachtend umher;
Wandle nach rechts hin, oder nach links hin durch jene Bezirke,
Die sich im Laufe der Zeit, wachsend zum Ganzen vereint.
Sieh, da sind sie ja noch, die Vorstadtstraßen, die alten,
Die jetzt mit schwellender Fracht klingelnd die Trambahn befährt.
Freilich prunken auch sie schon mit neuem und neuestem Wesen,
Aber ich spüre den Hauch früherer Tage darin.
[23]
Frohsinn herrscht hier noch, es waltet der Segen der Arbeit,
Die den Genuß nicht verwehrt, weil man sie reichlich belohnt.
Satte Gesichter ringsum, beleibte Männer und Frauen,
Rosige Mädchen und hold blühendes Kindergeschlecht.
Doch je weiter ich schreite, je mehr verwirrt sich der Anblick;
Menschen in steigender Zahl, aber auch wüster das Bild.
Wimmelnd bevölkert sind Gassen und Häuser, aus zahllosen Fenstern
Blicken die Sorgen und Müh'n ärmlichen Lebens hervor.
Hier, in billigster Miethe, wohnt eng der kleine Beamte,
Haust bescheidene Kunst, emsig bei Tag und bei Nacht;
Hier erwirbt auch die Frau, es erwirbt die älteste Tochter,
Ob sie die Feder bereits, oder die Nadel noch führt.
Kleine Fabriken gewahrt man, das kleine und kleinste Gewerbe,
[24]
Das verdrossen und stumpf lebt von der Hand in den Mund.
Aber der Krämer gedeiht, es gedeiht der schmunzelnde Gastwirth,
Dem das Gartenlokal immer des Abends gefüllt. –
Doch schon weist sich die Noth im härtesten Kampf um ein Dasein,
Das, des Athmens nicht werth, dennoch Befriedigung heischt.
Sieh nur die Häuser! Neubauten mit rissigen, bröckelnden Simsen;
In noch feuchtem Gelaß richtet das Elend sich ein.
Nieder schlägt sich der Rauch aus ragenden Schloten der Arbeit,
Welche Maschinen zunächst, aber auch Hände verlangt.
Düster färbt sie den Himmel, die Mauern, die Menschen und treibt sie
Zu ingrimmigem Haß, weil sie verzehrt, nicht ernährt.
Blick' in die Buden und Schenken! Bestäubte, verdorbene Waaren,
Die der Hunger verschlingt, wenn er zu zahlen vermag;
[25]
Koste die Jauche des Bier's in trüben und schartigen Gläsern,
Prüfe den schillernden Wein, der nie die Kelter geseh'n!
Kann es verwundern, wenn endlich das Gift betäubenden Fusels
Alkoholisch den Geist und die Gemüther entflammt?
Schaudernd empfind' ich es jetzt: in stolzen Palästen nicht – hier nur
Webt sich dein Schicksal, o Wien – webt sich das Schicksal der Welt!

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Gedichte. Wiener Elegien. 8. [Oft auch, wenn mit röthlichem Schimmer der Abend hereinbricht]. 8. [Oft auch, wenn mit röthlichem Schimmer der Abend hereinbricht]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AD55-0