[233] [235]Sündenfall

[235] [239]Im Palais T ... fand eine große Abendgesellschaft statt. Fast eine Stunde schon hatte ich mich in dem bunten Menschengewirr, das sich in den strahlenden Räumen immer dichter ansammelte, hin und her geschoben, ohne auf jemanden zu stoßen, der mich zu einem längeren Gespräch angeregt und gefesselt hätte. Die Schuld mochte allerdings an mir selbst liegen. Schon tagsüber nicht ganz wohl, fühlte ich mich jetzt vorzeitig ermüdet und abgespannt. Da ich aber nicht geradezu verschwinden wollte, so beschloß ich, einstweilen ein entfernteres Nebenzimmer aufzusuchen, das eigentlich nur die Intimen des Hauses kannten und wohin sich bis jetzt gewiß noch niemand verirrt hatte. Es war ein mäßig großes Gemach mit einem weit ausspringenden Erker. An den Wänden zogen sich schön geschnitzte Regale hin, die eine gewählte Handbibliothek enthielten; auf einem runden Tisch fand man Journale und Revuen aller Art; auch an tiefen Lesestühlen und bequemen Etablissements für Raucher fehlte es nicht. In diesem traulichen Raum wurde nach kleinen Diners gewöhnlich der Kaffee gereicht; sonst aber war es eine Art Refugium, wo man sich jederzeit eine Zigarette anzünden, ein Buch zur Hand nehmen – oder auch ungestört ein Schläfchen machen konnte.

Wie vorausgesetzt, fand ich das Zimmer, das von einer großen, grünbeschirmten Hängelampe sanft erhellt wurde, noch unbesucht und schritt sofort auf meinen gewohnten Fauteuil zu, dessen Lehne gegen das Licht gekehrt war. Plötzlich aber tauchte hinter dieser Lehne ein kahler Scheitel auf, und das [239] scharfgeschnittene Antlitz eines Mannes wendete sich mir entgegen, der zu den geistvollsten Persönlichkeiten Wiens gehörte.

Schon in jungen Jahren als Publizist aufgetreten, hatte er sich später der Regierung zur Verfügung gestellt und es mit der Zeit bei der Preßleitung zum wirklichen Hofrat gebracht. Aber diese Errungenschaft (sowie eine Reihe von Orden, die er als geschmackvoller Mann niemals trug) konnte ihn selbst nicht ganz mit dem Zwiespältigen seiner Stellung aussöhnen. Über den Vorwurf der Gesinnungslosigkeit, den so mancher gegen ihn erhob, setzte er sich zwar mit souveränem Hochmut hinweg; aber die mehr oder minder verschleierte Mißachtung, mit der unabhängig gebliebene Kollegen diesem anderen Gentz begegneten, wurmte ihn im stillen um so tiefer, als er sich den meisten von ihnen geistig weit überlegen fühlte. Im übrigen war er ein vollendeter Weltmann und erfahrener Lebenskünstler, der noch im späteren Alter als Freund schöner Frauen galt. In der Gesellschaft riß man sich förmlich um ihn. Er konnte ja auch, wenn er wollte, höchst liebenswürdig sein, und in kleinem Kreise bezauberte er jedermann durch seine blendenden Einfälle, seinen funkelnden Witz. Freilich saß er auch oft gerade dann, wenn man ein lebhaftes Sprühfeuer seines Geistes erwartete, verdrossen und in sich versunken da oder erging sich in trocken sarkastischen Bemerkungen über die Anwesenden. Er war eben Launen und Stimmungen unterworfen – wie alle Menschen, die mit sich selbst nicht ganz ins reine gelangen können.

»Ah, Sie sind da«, sagte er, mir die Hand reichend. »Haben sich also auch hierher geflüchtet? Und nun finden Sie Ihren Sorgenstuhl besetzt. Aber warten Sie« – – Er machte Miene, sich zu erheben.

»Bleiben Sie doch, Herr Hofrat«, erwiderte ich und zog einen leichten Rohrschaukelstuhl heran. »Wenn Sie erlauben, rück' ich in Ihre Nähe.«

»Um zu zweien einsam zu sein? Ganz vortrefflich.[240] Zwischen den besternten und unbesternten Fräcken, den bekannten entblößten Schultern und mehr oder minder vorquellenden Busen ist es ja wirklich nicht auszuhalten. Und doch geht man immer wieder in Gesellschaft.«

»Mein Gott, man muß eben –«

»Man muß eben nicht. Man brauchte nur abzusagen. Aber dazu gehört ein Mut, den der zivilisierte Mensch nicht aufbringt – obgleich er sich von Saison zu Saison vornimmt, keine Einladungen anzunehmen und zu Hause zu bleiben. So geht es denn mit Grazie fort, bis endlich der Sensenmann sein Veto einlegt.«

Ich bemerkte jetzt, daß er ein aufgeschlagenes Buch neben sich hatte. »Sie haben gelesen?« fragte ich.

»Ja; ich habe auf gut Glück zugelangt und einen prächtigen Griff getan. Etwas, das ich schon lange nicht mehr in der Hand gehabt: Turgenjews Frühlingsfluten.«

»Allerdings nichts Neues.«

»Aber desto Besseres. Oder gehören Sie vielleicht auch zu denen, die diesen großen Schriftsteller – wie mir unlängst ein russischer Botschaftsrat sehr nachdrücklich versicherte – bereits überwunden und durch den Grafen Tolstoi in zweite Linie gerückt erachten?«

»Keineswegs. Und gerade der Roman ist ein Meisterwerk.«

»Gewiß. Aber wer liest ihn noch heute? Daran läßt sich so recht der Wechsel des Zeitgeschmackes und die Vergänglichkeit des literarischen Ruhmes erkennen. Vor ungefähr zwanzig Jahren konnte man keine Zeitung zur Hand nehmen, keinen Salon betreten, ohne sofort an Turgenjew, dessen Lob in allen Tonarten gesungen wurde, gemahnt zu werden. Man schlug mit ihm die andern tot, wie heutzutage mit Zola und Ibsen. Freilich fehlte es auch schon damals nicht an Kritikern, die ihm am Zeuge flickten. Er war ihnen zu ›weich‹ – und sie fanden es tadelnswert, daß er beständig nur die ›Schwäche‹ schilderte. [241] Dabei warfen sie sich in die Brust, um anzudeuten, wie ›stark‹ sie selbst wären. Es geht doch nichts über das Glück der Einbildung! – Aber auch sonst hat mich das Buch ganz traurig gestimmt. Ich bin nämlich durch diese Frühlingsfluten in meine eigene Vergangenheit zurückgeschwommen.«

»Wie weit, wenn man fragen darf?« entgegnete ich etwas spöttisch; denn derlei sentimentale Anwandlungen widersprachen seinem Wesen.

»Ziemlich weit, bis zu meinem ersten Sündenfall. Und da ich keine Dame bin, so kann ich auch bekennen, daß er sich bei mir sehr früh ereignet hat.«

»Das ließe sich hören. Wie wär' es, wenn Sie selbst einmal zur belletristischen Feder griffen?«

»Das werd' ich wohl bleiben lassen. In meinen Jahren pfuscht man niemandem mehr ins Handwerk. Er wäre nur Wasser auf die Mühle wohlwollender Freunde. Aber, wenn Sie wünschen, erzähl' ich Ihnen alles, damit Sie sehen, daß auch frivole Menschen von ernsten Erinnerungen ergriffen werden können.« Er sah nach der Uhr. »Es ist kaum elf. In einem halben Stündchen bin ich zu Ende. Dann stürzen wir uns gemeinsam wieder in das Meer der Langenweile, das da drinnen wogt.«

In diesem Augenblick drangen gedämpfte Geigenklänge zu uns herüber.

»Ah, der bogenführende Knabe!« rief er aus. »Den wollen wir uns aus der Entfernung noch anhören. Wir haben da gleich das schönste Präludium zu meiner Geschichte.«

Wir lehnten uns in den Stühlen zurück und lauschten den Tönen, die immer mannigfaltiger, immer ergreifender anschwollen und schließlich in einem Sturm von Beifall untergingen.

»Das ist wirklich ein kleiner Prachtkerl!« sagte er. »Wenn nur aus all diesen Wunderkindern ein neuer Mozart hervorginge! Aber das versinkt regelmäßig im Virtuosentum. – Doch hören Sie: ein anderes Stück!«

[242] Als es zu Ende gespielt war, stand er auf. »Nun sei's genug! Es wird sich jetzt höchst wahrscheinlich der bekannte große Wagner-Pauker – oder ein Fräulein X ans Klavier setzen. Diese Genüsse wollen wir uns schenken.«

Er zog die eichenen Türflügel zu, schob die schwere Samt-Portiere vor und setzte sich wieder. »Also: Sündenfall«, sagte er.


* * *


»Ich befand mich in der sechsten Klasse des Gymnasiums, aus welcher man damals gleich an die Universität kam, und hatte erst vor kurzem mein fünfzehntes Lebensjahr erreicht. Aber ich war ein früh entwickelter Knabe, der väterliche Zucht niemals kennen gelernt; denn ich stand unter der Obhut einer nach später und kurzer Ehe Witwe gewordenen Mutter, die ihr einziges, abgöttisch geliebtes Kind ohne sonderliche Ermahnungen gewähren ließ, überzeugt, daß alles, was es tat oder nicht tat, wohl getan und wohl unterlassen sei. So ging ich schon vorzeitig meine eigenen Wege, die mich auch bald genug auf Abwege führten. Ich geriet nämlich in die Gesellschaft der ›Großen‹. Sie wurden in der Klasse so genannt, weil sie um einiges älter waren als ihre Mitschüler und sich bereits auf die völlig Erwachsenen hinausspielten, wobei sie es, so weit dies hinter dem Rücken der Schule anging, an allerlei Ausschreitungen nicht fehlen ließen. Unter ihnen ragte um Haupteslänge ein gewisser Thoms hervor, ein sittenloser, verwilderter Bursche, dem schon ein rötlicher Krausbart um Kinn und Wangen sproßte. Er war in früheren Jahrgängen zurückgeblieben, hatte den fünften wiederholen müssen, und auch jetzt schlug er sich nur zur Not durch. Aber sein selbstbewußtes, oft freches Auftreten imponierte nicht bloß den Kollegen, sondern auch den Professoren, die, um nicht gegen ihn einschreiten zu müssen, über sein Unwesen hinweg sahen. So hatte er sich bald zum Senior eines kleinen Kreises aufgeworfen, der sich an bestimmten Nachmittagen in einem wenig besuchten Kaffeehause vor der Hernalser Linie[243] versammelte. Dort wurde geraucht, Billard und Karten gespielt – und später begab man sich in eine nahe gelegene Schenke, deren Wirt, auf unlauteren Vorteil bedacht, den jugendlichen Gästen ein abgesondertes Zimmerchen zur Verfügung stellte. Da wurde nun, unter Absingen von Studentenliedern – die Märzereignisse des kommenden Jahres lagen schon in der Luft – eine Art Kneipe abgehalten, welche jedoch keineswegs kommentgemäß verlief, sondern meistens in eine zügellose Kneiperei ausartete. Hatten doch einige von den Spießgesellen bereits Liebschaften mit übel gehüteten Mädchen niederen Standes angeknüpft, die nicht selten an den Gelagen teilnahmen. In dieses wüste Treiben war ich also hineingeraten: weniger aus Neigung, als vielmehr durch knabenhafte Eitelkeit, die sich geschmeichelt fühlte, daß mich die ›Großen‹ als Fuchs in ihre Verbindung aufnehmen wollten. Ich hatte daher auch bald erkannt, wie sehr diese meinem ganzen Wesen gegen den Strich ging. Denn trotz meiner Selbständigkeit und mancher verfrühten Regung war ich doch noch eine kindliche, unverdorbene Natur, die eigentlich zur Einsamkeit neigte. Ich saß am liebsten über Büchern – freilich nicht über Schulbüchern, und die Romane, die ich stoßweise verschlang – damals war, neben Sue und Dumas, gerade Bulwer in der Mode – erfüllten mich mit phantastischen Träumen und schwärmerischen Empfindungen, welche in jenem Kreise keinen Anklang fanden. So steigerte sich die Unlust, mit der ich an den Zusammenkünften teilnahm, von Woche zu Woche. Die Kneipe, die sich zum Entsetzen meiner guten Mutter zuweilen bis spät in die Nacht hinein ausdehnte, war mir mit ihren Alkoholdünsten und dem stickenden Tabaksqualm ganz besonders zuwider; die weiblichen Gäste aber, wenn solche kamen, stießen mich um so mehr ab, als auch ihre äußere Erscheinung keine sehr bestrickende war. Ich blieb daher, so oft es nur anging, unter allerlei Vorwänden weg. Mich völlig loszumachen, vermochte ich nicht mehr, schon jenes Thoms wegen, der mich in seiner herrischen Art in Affektion genommen [244] hatte. Er wußte mich nämlich im Besitz eines nicht ganz unbeträchtlichen Taschengeldes, das er sich bei der beständigen Ebbe in seinem Beutel gelegentlich zunutze machte. Endlich aber schien eine befreiende Wendung eintreten zu wollen.

Unter unseren Mitschülern war auch einer, der Grewe hieß – Fritz Grewe. Ein zarter, in körperlichem Wachstum zurückgebliebener Knabe, mit feinen, gleichsam eingetrockneten Gesichtszügen, die ihm zuweilen ein greisenhaftes Aussehen verliehen. Man nannte ihn den kleinen Doktor Luther, denn er entstammte einer Mischehe und war wie sein Vater – ein nicht allzu hoher Beamter, der früher in der Provinz Verwendung gefunden hatte – Protestant. Dieser Knabe, der erst im laufenden Semester eingetreten und mein nächster Nachbar auf der Schulbank war, brachte mir eine schwärmerische Neigung entgegen, wie sie in solchem Alter vorzukommen pflegt, die er jedoch weniger mit Worten, als in Blicken und Gebärden, so wie durch allerlei mit zärtlicher Unterwürfigkeit erwiesene Aufmerksamkeiten offenbarte. Ich aber fühlte mich zu ihm nicht hingezogen, bezeigte mich kühl und gleichgültig – ja, ich schloß mich ihm, obwohl wir beide in der nahen Alservorstadt wohnten, nicht einmal auf dem Heimweg aus der Schule an, bis er mich endlich eines Tages, seine Schüchternheit überwindend, flehentlich darum bat, weil er sich fürchte, allein nach Hause zu gehen.

Es gab damals noch keinen Antisemitismus; unsere jüdischen Kollegen saßen vielmehr als die Begabtesten und Fleißigsten ganz unbehelligt in den vordersten Bänken. Mit den Protestanten aber kam es bisweilen zu Zwistigkeiten. Besonders in den unteren Klassen, wo man überhaupt noch gerne handgemein wurde, suchte man Händel mit ihnen, die nicht selten in arge Schlägereien – ja, in kleine Schlachten auf der Schotten- und Mölkerbastei ausarteten. Aber die ›Evangelischen‹ waren schneidige und gewitzte Burschen, die sich trotz ihrer Minderzahl wohl zu verteidigen wußten, und die katholische Partei [245] erlitt nicht selten eine vollständige Niederlage, was ihren Ingrimm begreiflicherweise nur noch steigerte. In der Fünften und Sechsten hörten diese Kämpfe allerdings auf, und somit hatte Grewe von seiner nächsten Umgebung nichts zu besorgen. Aber zwei kleine rauflustige Schlingel aus der Dritten waren ihm, wie er sagte, gestern ein Stück Weges herausfordernd nachgegangen und hatten endlich mit Angriffen begonnen, denen er sich nur durch die Flucht entziehen konnte. Ich möchte ihn also jetzt, da er Wiederholungen fürchte, in meinen Schutz nehmen – was ich natürlich gnädigst bewilligte. So war denn das Eis gebrochen, und von nun ab kam ich ihm auch innerlich näher. Denn er erwies sich in der Tat als höchst liebenswürdiger, gut gearteter Junge, den ich freilich noch immer mit einer gewissen zurückhaltenden Überlegenheit behandelte.

Als wir eines Nachmittags wieder gemeinsam über die wüste Fläche schritten, auf der sich später die Votivkirche erheben sollte, sah er mich zuweilen mit verschämter Eindringlichkeit von der Seite an; er wollte mir offenbar etwas mitteilen, das er auf dem Herzen hatte. Schon den ganzen Weg über war er von schweigsamer Nachdenklichkeit gewesen; jetzt aber, da wir uns schon dem weitläufigen ›Roten Hause‹ näherten, wo er wohnte, sagte er plötzlich nach einem merkbaren Kampfe mit sich selbst und über das ganze vertrocknete Gesichtchen errötend: ›Ich hätte eine Bitte an dich.‹

›Nun, welche denn, mein lieber Grewe?‹

Er schlug die Augen nieder und errötete noch stärker. ›Morgen ist mein Geburtstag. Da findet bei mir zu Hause ein kleines Fest statt, zu welchem einige Verwandte und Bekannte mit ihren Kindern geladen sind. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich mit einem Schattenspiel-Theater produzieren, das ich mir eigenhändig zurecht gemacht. Als Stück habe ich den Wilhelm Tell von Schiller genommen, freilich ganz zusammengedrängt, in aller Kürze. Und zum Schlusse etwas lustiges von eigener Erfindung. Ich habe auch alle Figuren selbst entworfen [246] und ausgeschnitten. Es wäre die größte Freude für mich, wenn du zu uns kommen und zuschauen wolltest.‹

›Nun, wenn dir das wirklich so erwünscht ist –‹

›Und dann – meine Eltern möchten dich gerne kennen lernen. Sie wissen, wie lieb ich dich habe – und daß du jetzt immer mit mir nach Hause gehst. Auch meine Schwester möchte dich einmal sehen.‹

›Deine Schwester?‹

›Ja. Sie ist jünger als ich – erst dreizehn Jahre. Aber schon viel größer, weil ich gar so zurückgeblieben bin. Du wirst finden, daß sie ein liebes, gutes Mädchen ist.‹

›Daran zweifle ich nicht. Wie heißt sie denn?‹

›Seraphine.‹

›Ein hübscher Name. Nun, ich werde jedenfalls kommen.‹

›Ich danke dir!‹ sagte er, lebhaft meine Hand berührend. ›Um vier Uhr nachmittags erwarten wir dich. Wir fangen früh an, damit wir Zeit vor uns haben. Und merke dir: zweiter Hof, erste Stiege, erster Stock.‹ Damit enteilte er vergnügt und verschwand in einem der vielen Tore des Roten Hauses.

Ich aber hatte sofort Ursache, mein gegebenes Versprechen als ein unüberlegtes zu empfinden. Denn morgen war Sonntag, und da pflegte ich den Nachmittag mit meiner Mutter bei einer verwitweten Cousine meines verstorbenen Vaters zuzubringen. Etwas älter als meine Mutter, besaß sie schon eine heiratsfähige Tochter, die sich aber keineswegs durch Schönheit und Anmut auszeichnete. Sie war vielmehr eine schmalbrüstige, säuerliche Jungfrau, die mich mit spöttischer Schärfe so recht als Knaben behandelte und mir mit ihren dünnen Lippen Sittenpredigten hielt. Die Mama war eine sogenannte ›praktische‹ Frau, die immer alles besser wußte und sich selbst als nachahmungswürdiges Muster hinstellte. In ihrer Sucht, zu tadeln und zu nörgeln, mischte sie sich in unsere häuslichen Angelegenheiten und Vermögensverhältnisse, wodurch sie meiner Mutter oft recht beschwerlich fiel. Da sie jedoch, wie die meisten [247] ihrer Art, im Grunde auch teilnehmend und zur Hülfe bereit war, so hatte sie uns einmal einen wirklich beträchtlichen Dienst erwiesen, für den sich meine Mutter an Dank nie genug tun konnte. Daher besuchte sie auch unverbrüchlich die dürftigen jours fixes der Dame, zu denen sich stets ein Herr Doktor Wittenberg einfand, der als platonischer Verehrer der Hausfrau galt. Welcher Fakultät er eigentlich angehörte, war nicht recht herauszubringen, da er sich heute als Mediziner, morgen als Philologe geberdete. Er liebte es, mich mit seiner schnarrenden Stimme ins Examen zu nehmen, um sich von meinem Fortgang in der Schule zu überzeugen. Außer ihm pflegte sich noch eine dicke Majorsgattin einzufinden, die von ihrem Manne in geheimnisvoller Weise getrennt lebte. Dann ging es an eine sehr ernsthafte Whistpartie, während ich mit meinem Bäschen an einem Seitentische saß und das Vergnügen hatte, ihr beim Garnabwickeln behülflich zu sein; manchmal gab sie mir sogar Seidenfleckchen zu zupfen. So verliefen diese Abende für mich in der tödlichsten Langenweile und schlossen mit einem wässerigen Tee, bei welchem alles so knapp angetragen war, daß ich zu Hause immer nachessen mußte. Dennoch ging auch ich gewissenhaft hin, denn mein Wegbleiben würde sehr übel vermerkt worden sein, und meine arme Mutter hätte nur wieder den Vorwurf zu hören bekommen, daß sie ihren leichtfertigen Jungen, der ohnehin schon sehr bedenklich über den Strang schlage, allein in der Welt herumlaufen lasse. Diesmal aber, da ich nun schon Grewe zugesagt hatte, mußte ich doch mit der vollen Wahrheit entschuldigt werden, daß ich zum Geburtsfeste eines Mitschülers geladen sei.

Am nächsten Tage begab ich mich also um vier Uhr in das Rote Haus. Die Wohnung hatte ich bald aufgefunden und trat, von Fritz schon auf dem Gang erwartet, in ein schlichtes, aber helles und sorgfältig gehaltenes Zimmer, wo neben mehreren Erwachsenen eine kleine Schar von Knaben und Mädchen versammelt war. Fritz führte mich gleich seiner Mutter zu,[248] einer zarten, schmächtigen Frau, in deren Antlitz ich die Züge des Sohnes wiederfand. Der Vater war eine stattliche Erscheinung, bebrillt, glatt rasiert; sein auffallend dichtes Haar zeigte sich an den Schläfen schon ergraut. Man empfing mich sehr freundlich – und nun trat aus der Kindergruppe ein Mädchen hervor. ›Meine Schwester,‹ sagte Fritz.

Denken Sie sich eine für ihr Alter ziemlich hohe Gestalt. Schlank, etwas eckig, in einem lichten Merinokleidchen, das bis über die Kniee reichte. Schmucke weiße Höschen mit Spitzenbesatz – die jungen Fräulein mahnten zu jener Zeit noch nicht an Ballettänzerinnen – und Schuhe mit Kreuzbändern. Das eigentümlich mattblonde Haar, nach einer damaligen Kindermode à la chinoise emporgekämmt, ließ die sanftgeschwungene Stirn völlig frei; große, dunkel bewimperte Augen schimmerten fast farblos hell. Der zarte Mund nicht allzu rot – und um das lilienweiße Hälschen schlang sich ein sein gegliedertes Goldkettchen. Ich senkte wie geblendet den Blick, während ich eine höchst linkische stumme Verbeugung unternahm. Sie aber machte lächelnd einen sehr graziösen Knix; sagte jedoch auch nichts.

Jetzt wurden wir an den Kaffeetisch gewiesen, der, mit Kuchen und allerlei Süßigkeiten beladen, schon bereit stand. Obgleich man dicht gedrängt Platz genommen hatte, gab es doch nicht Raum für alle, und einige von den Kleinsten mußten sich an einem sogenannten Katzentischchen behelfen, wo Seraphine mit anmutiger Fürsorge die Wirtin machte. Unter den Kindern, die gleich mir bei den Erwachsenen saßen, befand sich auch ein etwa zwölfjähriges Mädchen, das durch anspruchsvolle Unschönheit auffiel. Eine plumpe, gestauchte Figur, die mehr in die Breite als in die Länge ging; dabei ein Kopf, der durch eine gekünstelte, beständig geschüttelte Lockenfülle nur noch unförmlicher erschien. Gleich beim ersten Anblick hatte ich eine Art Widerwillen gegen die kleine Person empfunden, die auch mich, wie derlei meistens gegenseitig ist, nicht gerade wohlwollend zu betrachten schien.

[249] Es war im November, und so brach auch schon, während man den Kaffee nahm und das Backwerk aufzehrte, die Dämmerung herein. Nun aber erhob sich Fritz und öffnete die Tür des Nebenzimmers, in das er die Anwesenden zu treten bat. Drinnen waren die Fenster verhüllt, und man sah in unsicheren Umrissen das Schattenspieltheater stehen, hinter welchem der kleine Mann durch einen Seitenvorhang verschwand. Die anderen aber nahmen auf einigen Sesselreihen Platz; ganz vorne die Kleinen, hinter ihnen die Größeren und Großen.

Jetzt ertönte eine Klingel, der Vorhang ging empor und enthüllte die lichtdurchstrahlte Leinwand, auf welcher nunmehr, sehr hübsch und charakteristisch entworfen, allmählich fast sämtliche Personen des Schillerschen Dramas erschienen. Sie sprachen in kürzeren oder längeren Dialogen und Monologen, wobei Fritz seine Stimme abwechslungsvoll vertiefte und erhöhte. Dramatisches Leben – der Rütlischwur blieb als zu umständlich weg – kam in das Ganze erst mit dem auf die Stange gesteckten Hut, welchem einige höchst bewegliche Figuren wirklich Reverenz bewiesen; auch Leuthold und Frießhardt hielten sich sehr wacker. Sensation aber machte die große Szene mit dem Apfelschuß. Der Landvogt und sein Begleiter saßen auf sehr hohen Rossen – und man sah (worauf Fritz noch nachträglich stolz war) den Pfeil Tells tatsächlich durch die Luft fliegen und den Apfel vom Kopfe des Knaben Walter fallen. Mit diesem Höhepunkt, der stürmisch beklatscht wurde, schloß auch das Stück. Nun folgte eine komische Pantomime mit allerlei grotesken Karikaturen; schließlich erschien eine Anzahl von Teufeln, Kolbolden und Hexen, die zu allgemeiner Heiterkeit einen verworrenen Tanz aufführten. Man applaudierte, rief den Schauspieldirektor, der endlich aus seinem Versteck hervortrat und sich mit vielem Anstand verneigte. Alles umringte ihn mit Worten der Anerkennung, nur die kleine Person mit dem Lockenkopfe sagte nichts. Sie hatte auch schon früher keine Hand gerührt, und man sah ihr an, daß ihr das Ganze zu ›dumm‹ vorgekommen war.

[250] Man begab sich hierauf in den früheren, jetzt wohl beleuchteten Raum zurück, und kleine artige Gesellschaftsspiele, die von Fritz und seiner Schwester angegeben und geleitet wurden, kamen bei der Jugend an die Reihe. Sie verliefen sehr ergötzlich, wenn auch hin und wieder beeinträchtigt durch die Störrigkeit des Lockenkopfes, der sich dieser oder jener Anordnung, die das Spiel mit sich brachte, nicht fügen wollte. Schließlich ging es an das Auslösen von Pfändern. Die Knaben hatten dabei einem vom Zufall bestimmten Mädchen die Hand zu küssen. Mit freudigem Bangen sah ich meinem Schicksal entgegen, hoffend, daß es mich Seraphinen zuführen werde. Aber eine tückische Fügung bestimmte mir die widerliche Kleine, welche sich jedoch mit trotziger Miene weigerte, mir ihre Hand darzureichen. ›Sei doch nicht so kindisch!‹ rief ihr Seraphine in verweisendem Tone zu. ›Ich bin gar nicht kindisch‹, erwiderte die andere, ›aber ich mag nicht‹. Damit drehte sie mir den Rücken. Seraphine erblaßte leicht; dann streckte sie mir mit einem Blicke, der gleichsam für diese Unart um Verzeihung bat, langsam ihre Hand entgegen, auf die ich in seliger Verwirrung einen Kuß hauchte.

In diesem Augenblick rief man zum Abendmahl, das im Nebenzimmer, wo inzwischen das Theater fortgeräumt und ein langer Tisch gedeckt worden war, stattfand. Fritz hatte sich zweierlei ausgebeten. Erstens: daß ich an seiner Seite sitze – und zweitens: Backhühner. Diese wurden aufgetragen, und obgleich sie eigentlich hors de saison waren – oder vielleicht gerade deswegen, fanden sie allgemein beifälligen Zuspruch. Schließlich entkorkte Herr Grewe eine dunkle Flasche und goß daraus schwerflüssigen süßen Wein in winzige Stengelgläschen, die vor jedem Gedeck bereit standen. Hierauf wurde auf das Wohl des ›Geburtstages‹ getrunken, und die Gläschen klirrten aneinander. Nun aber erhob sich Fritz und hielt drolligen Ernstes eine wohlgesetzte Rede, mit welcher er seinen geliebten Eltern, seiner Schwester und allen Anwesenden für die ihn so sehr beglückende, [251] durch das Erscheinen seines teueren Kollegen – er wandte sich bei diesen Worten zu mir hin – verherrlichte Feier dankte. Damit war auch plötzlich die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt, und in meiner Verlegenheit hätte ich bald versäumt, mit Seraphinen anzustoßen, die mir über den Tisch eifrig ihr Gläschen entgegenbrachte. Ihre Wangen hatten eine rosige, ihre Augen eine durchsichtig blaue Färbung angenommen; in ihren Haaren schimmerten goldige Lichtreflexe. So sah sie erregt und gespannt nach mir hin, als ich mich endlich gefaßt hatte und jetzt auch einige Worte sprach.

Das unerbittliche Gesetz ›Sperrstunde‹ machte dem fröhlichen Fest nur zu bald ein Ende. Nachdem der Hausherr die Uhr gezogen und feierlich erklärt hatte, daß es halb zehn sei, erhob man sich, und unter allgemeinen Verabschiedungen drängte man in das Vorzimmer nach Mänteln und Hüten. Ich selbst zögerte so lange wie möglich, mich zu entfernen: ich wollte noch einen Blick von Seraphine erhaschen, die einigen kleineren Mädchen beim Umnehmen der winterlichen Hüllen sorgfältig an die Hand ging. Sie schien darauf gewartet zu haben und nickte mir aus der Entfernung einen lieblichen Abschiedsgruß zu.


Ich kam nach Hause wie berauscht. Meine Mutter, diesmal von Doktor Wittenberg ritterlich bis zum Tor begleitet, war fast gleichzeitig mit mir eingetroffen und fragte sofort, wie ich den Abend bei meinem Kollegen zugebracht. Ich antwortete, daß es dort sehr hübsch gewesen. Auf weitere Schilderungen ließ ich mich nicht ein, sondern zog mich in mein Zimmer zurück, wo ich noch lange wach im Bette lag und dem Bilde Seraphinens nachhing, bis mich endlich der Schlaf übermannte.

Als ich am Morgen die Augen aufschlug, war sie mein erster Gedanke. Wann würde ich sie wiedersehen? Man hatte [252] mich gestern zu weiterem Erscheinen nicht aufgefordert. Aber das war doch wohl auch überflüssig bei der Intimität, die jetzt zwischen mir und Fritz bestand. Ich konnte es kaum erwarten, mit ihm in der Klasse zusammenzutreffen; am liebsten wäre ich gleich vor das Rote Haus gelaufen, um ihn dort abzupassen. Ich unterließ es aber, denn meinem Ansehen wollte ich doch nichts vergeben. Dennoch richtete ich es unwillkürlich so ein, daß wir uns schon im Schulhofe fanden. Er gab mir auch gleich die Versicherung, daß man bei ihm zu Hause über mein Erscheinen sehr erfreut gewesen. Den Eltern habe ich ungemein gefallen. Seraphine lasse mich grüßen. Sie bedauere nur, daß sie eigentlich gar nicht mit mir habe sprechen können.

So sehr mich diese Mitteilung entzückte, erwiderte ich doch nichts darauf.

›Nun, du wirst wohl jetzt öfter kommen,‹ fuhr Fritz fort, während wir die Treppe hinaufstiegen.

›Wenn es deinen Eltern recht ist‹ –

›Das ist doch selbstverständlich. Und dann –‹ er warf sich ein wenig in die Brust –›du besuchst mich. Ich habe ja mein eigenes Zimmer. Schon gestern wollt' ich dich hineinführen; aber es war keine Zeit dazu. Wenn du willst, zeig' ich es dir gleich nach der Schule.‹

Begreiflicherweise erhob ich keine Einwendung, und noch nie hatte ich das Glockenzeichen, das den Schluß der Lehrstunden anzeigte, mit solcher Sehnsucht abgewartet.

Wir schritten also hierauf rascher als sonst dem Roten Hause zu. Als Fritz die Wohnungsklingel zog, öffnete eine derbe Magd die Tür; er selbst aber führte mich gleich durch die Küche in sein Zimmer. Es war eigentlich ein langes und schmales Kabinett, wo die seinem ganzen Wesen entsprechende symmetrische Ordnung herrschte. In einer Ecke stand sein kleines Bett; hart am Fenster ein Tisch mit Mappen, Reißbrettern und Zeichenrequisiten. Den meisten Raum aber nahm ein großer Bücherschrank ein, dessen Glastür Fritz sofort aufschloß. ›Da siehst [253] du meine Bibliothek,‹ sagte er mit merklichem Stolze. Es war eine ganz reichhaltige Sammlung von Büchern, die mich aber damals sehr wenig anzogen: deutsche, lateinische und griechische Klassiker, ältere Geschichtswerke und Reisebeschreibungen. Alles in hübschen, zum Teil schon verblaßten Einbänden. ›Das Meiste ist mir geschenkt worden, einiges habe ich mit meinem Taschengelde antiquarisch erstanden,‹ fuhr Fritz fort. ›Ich habe große Freude an meinen Büchern, obgleich sie fast alle Lektüre für spätere Jahre sind. Jetzt lese ich eigentlich nur den Schiller.‹ Er zog einen Band heraus und schlug ihn auf. Es war die bei Mausberger erschienene Wiener Ausgabe mit den wunderlichen Kupfern im Stile Fügers. ›Und dort ist mein Zeichentisch.‹ Er hatte das Buch wieder versorgt, öffnete eine der Mappen und wies mir ängstlich saubere Nachbildungen von kleinen Landschaften und Blumenstücken. ›Das Zeichnen ist nämlich mein Hauptvergnügen, und ich glaube, daß ich einiges Talent dazu besitze. Seraphine hingegen findet ihre Freude im Klavierspielen, sie hat es auch schon ziemlich weit gebracht.‹

In diesem Augenblick wurde eine Tapetentür, die nach den anderen Wohnräumen führte, halb geöffnet, und der blonde Kopf seiner Schwester erschien forschend in der Spalte.

›Aha, da ist sie schon!‹ rief Fritz. ›Unsere Kathi wird dich angekündigt haben. – Na, komm' nur herein! Du siehst: ich hab' ihn gleich heute mitgebracht.‹

›Das ist schön,‹ sagte sie, mich beim Eintreten mit einem Lächeln begrüßend. ›Ich bin froh, daß Sie so bald gekommen sind. Ich wollte Ihnen schon gestern ein paar Worte wegen der Resa sagen.‹

›Resa?‹

›Das Mädchen, das sich von Ihnen die Hand nicht küssen lassen wollte.‹

›Daran hab' ich gar nicht mehr gedacht. Ich war ja froh, daß ich es nicht notwendig hatte – –‹

›Nun ja. Aber es war doch sehr ungezogen. Und glauben [254] Sie nur ja nicht, daß ich mit ihr befreundet bin. Wir mußten sie einladen, weil ihr Papa im Amt ein Vorgesetzter des unseren ist. Die Leute hätten es uns sonst übel genommen. Im übrigen verkehre ich sehr selten mit Resa, denn ich mag sie gar nicht.‹

›Ich auch nicht,‹ warf Fritz sehr entschieden ein. Er trug es ihr offenbar nach, daß sie ihm gestern keinen Beifall gespendet. ›Aber weißt du, Seraphine, du könntest dem Rudolf gleich etwas vorspielen.‹

›Wenn er will‹ erwiderte sie und sah mich fragend an. ›Sind Sie musikalisch?‹

›Leider nein. Aber ich höre sehr gerne Klavier spielen – und wenn Sie – –

›Sie dürfen nicht zu viel erwarten. Ich lerne erst seit einem Jahre – Aber weißt du, Fritz, es ist doch jetzt eine recht ungelegene Zeit. Ich bin gerade mit Thildi – das ist unsere Näherin –‹ erklärte sie mit einem Blick auf mich, ›an einem Kleide für Mama beschäftigt.‹ Sie langte nach einem Strähnchen dunkler Seide, das halb um ihren zarten Nacken geschlungen war, und hob ein Ende leicht empor. ›Da sehen Sie nur! Ich muß ja auch das lernen! Und eben jetzt kann ich mich nicht gut losmachen. Kommen Sie doch lieber abends. Nicht wahr, Fritz?‹

›Natürlich – gleich zur Jause.‹

›Wollen Sie?‹

›O gewiß –‹

›Nun also. Dann spiel' ich Ihnen etwas Neues von Thalberg. Aber jetzt adieu! Ich darf Thildi nicht warten lassen.‹ Sie knixte anmutig und enteilte.

›Nicht wahr, ein liebes Mädchen?‹ sagte Fritz, während ich nach der Tapetentür blickte, hinter welcher sie mit ihrem leicht nachflatternden bunt karierten Hauskleidchen verschwunden war. ›Die kannst du einmal heiraten.‹

›Ach geh',‹ erwiderte ich, und fühlte, wie rot ich geworden. ›Wie kannst du nur schon jetzt an so was denken –‹

[255] ›Warum nicht?‹ entgegnete er, sich streckend. ›Wir sind nun bald sechzehn. In sechs Jahren haben wir unsere Studien beendet, und dann – –‹

›Mein Gott, wer weiß, was bis dahin geschieht –‹

›Das ist freilich wahr. Na, aber heute Nachmittag kommst du‹ ...

Und ich kam. Kam heute, morgen – kam, so oft es nur anging. Ich saß dann mit Fritz in dem schmalen Kabinett, sah zu, wie er zeichnete, oder blickte in ein Buch, das ich aus den Reihen seiner Bibliothek hervorgezogen. War die Tapetentür geschlossen, so steckte Seraphine hin und wieder den blonden Kopf herein und rief uns ein paar freundliche Worte zu. Nachmittags aber war die Tür gewöhnlich offen, und ich konnte in das anstoßende Zimmer sehen, wo das liebliche Kind entweder an einem Nähtischchen beim Fenster saß, oder sich auf dem Klavier übte. Sie spielte eigentlich noch recht unbeholfen, meistens sentimentale Etüden, wie sie damals in der Mode waren; mir aber klang alles wie Sphärenmusik. Nach der Jause wurde die Lampe angezündet, und man griff zu dem heute ganz und gar vergessenen geselligen Würfelspiele: ›Hammer und Glocke‹, an welchem auch die Eltern teilnahmen. Diese bezeigten sich sehr herzlich gegen mich; es war ihnen offenbar erwünscht gekommen, daß Fritz kollegialen Anschluß gefunden. Der Vater liebte es, mich auf die Achsel zu klopfen, wobei er mich ›junger Mann‹, oder auch ›amicule‹ nannte. Er war überhaupt von einer feinen Jovialität und hatte durchaus nichts ›Protestantisches‹ an sich, wie denn in dem kleinen Familienkreise ein zarter, warmer, inniger Gemütston vorherrschte, wie man ihn jetzt kaum irgendwo mehr antrifft. Von mir wußte man nur, daß ich aus gutem Hause und der einzige Sohn meiner Mutter war; näher einzudringen vermied man – und von dem, was mich eigentlich hierher zog, hatte man keine Ahnung. Man fürchtete daher auch nichts – und es war nichts zu fürchten. Ich liebte Seraphine mit der schüchternen Seligkeit eines jünglinghaften [256] Knaben – und sie brachte mir in stiller Unbefangenheit ein erwachendes Mädchenherz entgegen. Wir wußten es beide, sprachen es jedoch niemals aus. Auch kein vielsagender Blick – geschweige denn eine kundgebende Zärtlichkeit. Einmal aber, als Fritz, um ein neues Stück zu erproben, wieder sein Theater aufgeschlagen hatte, und wir als die einzigen Zuschauer in dem verdunkelten Zimmer nebeneinander saßen, streifte meine rechte Hand ganz zufällig ihre linke. Erschrocken zogen wir beide die Hände zurück – um sie gleich darauf zu sanftem, unschuldvollem Umfassen ineinander zu legen.


Während dieser schönen, glücklichen Zeit hatte ich meine früheren Genossen mehr und mehr vernachlässigt. Man schien es anfänglich gar nicht zu bemerken. Die meisten mochten seit jeher das Gefühl gehabt haben, daß ich nicht recht in die Verbindung taugte, bekümmerten sich daher nicht viel um mich. Nur Thoms und ein paar seiner nächsten Kumpane zeigten mir finstere Gesichter, sagten aber auch nichts. Denn ich war doch noch an einigen Nachmittagen im Kaffeehause erschienen und hatte mich, häusliche Abhaltungen vorschützend, mit klingender Münze von den Kneipabenden losgekauft, was immerhin eine gewisse Befriedigung hervorrief. Als ich aber endlich geradezu wegblieb, regte sich in Thoms die Galle. Eines Tages, nach Schulschluß, winkte er mich gebieterisch zu sich heran und stellte mich zur Rede. Und da ich eine landläufige Ausflucht vorbrachte, sagte er: ›Ach was, faule Fische! Wir wissen schon, wo du jetzt deine Zeit zubringst. Bei dem kleinen Luther. Er soll eine hübsche Schwester haben. Freilich noch der reine Fratz! Na, das ist deine Sache. Wir aber werden es nicht ruhig hinnehmen, daß du uns so ohne weiteres den Rücken kehrst.‹

Der drohende Blick, den er mir dabei zuwarf, beleidigte mein Selbstgefühl. ›Nun, was wollt Ihr denn tun?‹ fragte ich gereizt.

[257] ›Das wirst du schon sehen‹, erwiderte er und kniff die Augen zusammen. ›Wenn du morgen bis sieben Uhr nicht in Hernals bist, so ziehen wir in corpore vors Rote Haus. Wir werden dich schon zu finden wissen.‹ Und da er sah, wie ich erschrocken zusammenzuckte, fuhr er mit bösartigem Behagen fort: ›Wirst es wohl nicht darauf ankommen lassen. Wir müssen diesmal vollzählig sein. Denn es ist die letzte Kneipe im Jahr, da man die Weihnachtstage doch in der Familie zubringen muß. Auch den Silvesterabend. Den aber wollen wir morgen gleich im voraus feiern. Wir werden Punsch trinken. Neuhauser, der auch kommt, hat versprochen, ein paar Flaschen Essenz mitzubringen. Also laß es dir gesagt sein!‹ Damit drehte er sich auf den Absätzen um und überließ mich meiner Fassungslosigkeit.

Ja, ich war fassungslos. Seine Worte, das fühlte ich, hatten keine leere Drohung enthalten, wenn er kommandierte, ließen sich die übrigen zu jedem Unfug herbei. Es half nichts: ich mußte morgen erscheinen, so doppelt widerwärtig mir jetzt das ganze Treiben war. Und auch Neuhauser sollte kommen! Dieser Neuhauser, der Sohn eines reichen Fabrikanten in Schottenfeld, war bis in die fünfte Klasse hinein unser Mitschüler gewesen, hatte aber wegen absoluter Unfähigkeit – oder vielmehr Faulheit das Studieren aufgegeben und lebte jetzt im elterlichen Hause als bloßer Tagdieb. Dennoch hatte ihn Thoms gewissermaßen als Gast in die Verbindung aufgenommen, weil er über unbeschränkte Geldmittel verfügte und auch durch sonstige Eigenschaften dem verlotterten Senior besonders zusagte. Erst siebzehnjährig, war er bereits ein entnervter Wüstling, der in letzterer Zeit ein Liebesverhältnis mit einer Arbeiterin aus der väterlichen Fabrik angeknüpft und sie zu seiner Maitresse erhoben hatte. Sie war auch einmal mit ihm in die Kneipe gekommen. Was ich beim Anblick dieses Mädchens empfunden, läßt sich schwer in Worte fassen. Im Grunde war es Abscheu, der aber eine gleichzeitige Regung des Wohlgefallens [258] nicht zu überwältigen vermochte. Wenn Ihnen das heute vielgenannte Gemälde Stucks ›Die Sünde‹ auch nur in der Reproduktion bekannt ist, so haben Sie eine annähernde Vorstellung. Ein breites, eigentlich häßliches Gesicht mit vorragenden Backenknochen und einem großen, verbissen sinnlichen Munde. Die niedere, in der Mitte leicht eingedrückte Stirn von schweren, glanzlos dunklen Haaren umwölkt. Die Formen voll, wuchtig, träg – dabei eine matte, gelbliche Hautfarbe, der aber, besonders an den schön geformten, langbefingerten Händen, ein perlmutterartiger Schimmer verliehen war. So saß sie, mit allerlei Schmuck behangen, neben dem weit jüngeren Neuhauser, der, obgleich er sie selbst hier eingeführt hatte, von krankhafter Eifersucht erfüllt schien. Offenbar wußte sie das und hatte, wie um ihn zu beruhigen, eine Hand auf seinem Arm liegen, während sie, nur wenig sprechend, ihre verschleierten Augen im Kreise wandern – und zuweilen auf mir ruhen ließ. Ich sah dann immer weg, aber ich empfand, wie etwas um mein Gesicht kroch, gleich unsichtbaren Spinnenfüßen. Und dann mußte ich doch wieder hinblicken – und da gewahrte ich, wie um ihren Mund ein flüchtiges Lächeln zuckte. Sie richtete aber kein Wort an mich; erst als sie bei der allgemeinen Bewegung des Aufbruches in meine Nähe kam, griff sie mir rasch und verstohlen unter das Kinn, wobei sie die Oberlippe wie in wilder Begehrlichkeit emporzog und einen kurzen, tierischen Laut ausstieß. Es war nur ein flüchtiger Moment gewesen; aber ich fühlte ihre heiße, etwas feuchte Hand um Hals und Kinn bis ich nach Hause kam, und noch vor dem Einschlafen rieb ich die Stelle mit meinem Taschentuche. Seitdem hatte ich Toni – so hieß sie – nicht wieder gesehen; der Eindruck hatte sich verflüchtigt – fast auch die Erinnerung. Jetzt aber, bei dem Gedanken, daß ich vielleicht morgen mit ihr zusammentreffen könnte, stand ihr Bild plötzlich mit voller Deutlichkeit vor mir. Ich sah die üppige Gestalt, die schweren, trägen Bewegungen, die lauernden Augen – und unwillkürlich griff [259] ich dorthin, wo mich ihre Hand angefaßt hatte. Ich fürchtete mich .........

In dieser Seelenstimmung ging ich nach Hause, wo ich den Abend allein mit meiner Mutter zubrachte, die von dem allen keine Ahnung hatte.

Als ich nach einer unruhigen Nacht in die Schule kam, fiel mir an Fritz eine eigentümliche Befangenheit auf; es war, als könne er mir nicht in die Augen sehen. Nach einer Weile flüsterte er mir plötzlich zu: ›Du mußt dann gleich mit mir kommen. Seraphine hat dir etwas zu sagen.‹

›Was ist es denn?‹

›Ich weiß nicht.‹

›Du weißt schon – willst nur nicht mit der Sprache heraus.‹

Er kämpfte mit sich selbst. ›Irgend ein Tratsch,‹ erwiderte er endlich. ›Aber du wirst es schon von meiner Schwester hören. Mama hat heute ihren Einkaufstag und ist daher nicht zu Hause. Du kannst dich also mit Seraphine ungestört aussprechen.‹

Während der Lehrstunden wälzte ich allerlei Vermutungen in mir herum. Kein Zweifel: man hatte Nachteiliges über mich erfahren – und gewiß bezog es sich aus meinen Verkehr mit den ›Großen‹ .....

Als wir in der Greweschen Wohnung angelangt waren, hieß mich Fritz in dem Kabinett verweilen. Er selbst begab sich in das anstoßende Zimmer, kehrte aber gleich wieder zurück. ›Geh nur hinein,‹ sagte er; ›sie erwartet dich.‹

Klopfenden Herzens trat ich ein. Sie saß in ihrem karierten Kleidchen an dem kleinen Tisch beim Fenster; erhob sich aber rasch und schritt mir entgegen. Sie sah eigentümlich blaß, und doch wie erhitzt aus; ihre sonst so hellen Augen hatten eine trübe, fast dunkle Färbung. ›Kennen Sie eine Majorin Schmidt?‹ fragte sie ohne jede Einleitung.

›Allerdings‹, erwiderte ich, einigermaßen verblüfft. ›Sie kommt sehr oft zu meiner Tante –‹

[260] ›Ganz recht, zu Ihrer Tante. Und wissen Sie, daß man dort gar nicht gut von Ihnen spricht?‹

›Das kann ich mir wohl denken. Aber woher – –?‹

›Von Resa hab' ich es erfahren‹, sagte sie und stützte sich auf die Lehne eines nahen Sessels. ›Ich habe gestern mit Mama dort einen Besuch gemacht, den wir schon lange schuldig waren. Die Majorin kommt zuweilen auch in dieses Haus – und hat allerlei von Ihnen erzählt – –‹

›Nun, was hat sie denn erzählt?‹

›Daß Sie mit jungen Leuten verkehren, die sich in Kaffee- und Wirtshäusern herumtreiben und sogar – –‹ Sie wendete das Haupt ab und ließ sich auf den Sessel nieder.

›Ich ahne, was Sie sagen wollen, Fräulein Seraphine.‹

›Es ist also wahr?‹

›Wahr und nicht wahr. Ich kann nicht leugnen, daß ich in dieser Gesellschaft –‹

›Und weiß das Ihre Mutter, Rudolf?‹

›Sie weiß es – und weiß es nicht. Aber sie kennt mich, und der scharfe Spürsinn meiner Frau Tante, den ich nur bewundern kann, wenn er mich auch keineswegs überrascht, wäre nicht imstande, mich in ihren Augen herabzusetzen. Und auch Sie sollten mich nicht verachten, Seraphine! Ja, ich bin in diese Gesellschaft hineingeraten. Ich weiß selbst nicht, wie. Doch niemals habe ich mich dabei wohlgefühlt, habe mich losgemacht, so oft es nur anging. Und seit ichSie kenne, bin ich ganz weggeblieben.‹

›Wirklich?‹ Sie sah mich forschend an.

›Ich lüge niemals, Fräulein Seraphine. Und Sie müssen fühlen, daß ich die Wahrheit spreche, denn Sie wissen, daß ich Sie – –.‹ Ich sprach das Wort nicht aus und ließ mich nur auf ein Knie nieder, ihre Hand ergreifend, die sich ganz kalt anfühlte. Sie entzog sie mir nicht und legte die andere still auf meinen Scheitel. So verweilten wir, ohne zu sprechen. Mit einmal spürte ich, wie ihr zarter Leib zusammenschauderte. [261] ›Was ist – was haben Sie, Seraphine?‹ fragte ich, zu ihr aufblickend.

›Ich weiß nicht – schon seit zwei Tagen fühle ich mich nicht ganz wohl. Ich muß mich erkältet haben. Aber stehen Sie jetzt auf.‹ Und als ich vor ihr stand, sagte sie leise: ›Ich liebe Sie ja auch, Rudolf – habe Sie schon geliebt, eh' ich Sie noch kannte. Aber was soll daraus werden? Wir sind noch so jung – –‹

Ich erwiderte nichts. Man könnte zwar jetzt über diese vorzeitige Liebesszene lächeln, aber für uns war es ein ernster feierlicher Augenblick – ein Augenblick, wie man ihn nur in der ersten Frühe des Lebens kennt, wo Herz und Sinn noch rein, noch ganz von Idealen erfüllt sind ......

›Freilich, wenn Sie mich wahrhaft lieben,‹ fuhr sie fort, während sie sich langsam erhob, ›dann – – Papa und Mama haben auch lange aufeinander gewartet. Werden Sie ausharren, Rudolf?‹

Ich legte die Hand beteuernd an die Brust.

›Ich glaube Ihnen‹, sagte sie still. ›Und nun kann ich auch gestehen, daß mich die hämischen Mitteilungen Resas nicht irre gemacht. Sie sind ja Ihren Jahren voraus und kein Knabe mehr, wie mein Bruder, der gerade deshalb so an Ihnen hängt. Es bekümmerte mich nur der Eltern wegen, die es nun ebenfalls erfahren werden – vielleicht schon erfahren haben. Mama war gestern Abend auffallend ernst und nachdenklich. Aber was auch erfolgen mag: mein Herz gehört Ihnen.‹ Sie war nur ganz nahe getreten, und ließ das Haupt an meine Schulter sinken. Ich umfing sie sanft und streifte ihr Haar mit den Lippen. Dabei fühlte ich wieder, wie ein starker Schauer durch ihren Körper ging.

›Ich habe Fieber‹, sagte sie. ›Gehen Sie jetzt. Mama kann jeden Augenblick nach Hause kommen. Adieu, Rudolf.‹

Ich trat in das Kabinett, wo mich Fritz mit Spannung erwartete. ›Nun?‹ fragte er.

[262] ›O, es ist gut! Es ist alles gut! Ich kann dir jetzt nicht mehr sagen.‹ Damit nahm ich Mütze und Mantel und stürzte fort, die Treppe hinunter.

Draußen hatte es zu schneien begonnen. Während die Flocken niederwirbelten, eilte ich nach Hause, wie von Flügeln getragen. In meinem Zimmer jedoch überfiel es mich mit ganzer Wucht, daß ich heute nach Hernals mußte. Aber mußte ich denn? Warum hatte ich Seraphine nichts davon gesagt? Sie war ein so kluges Mädchen und hätte mir gewiß guten Rat erteilt! Wenigstens wüßte sie darum! Es erschien mir jetzt wie schändliche Lüge, wie niederträchtige Verheimlichung, daß ich geschwiegen. Aber ich hatte ja gar nicht mehr daran gedacht – hatte in meinen seligen Empfindungen alles vergessen. Und nun war es zu spät. Ja, ich mußte nach Hernals, denn ich konnte sie und die Ihren dem bösartigen Mutwillen der Großen nicht aussetzen. Und es geschah ja zum letztenmal, daß ich dorthin ging! Es wird sich dann schon irgend ein Aus-weg finden lassen. Und immerhin konnte ich mich in der Nachmittagsschule ihrem Bruder anvertrauen, auf daß er ihr Mitteilung mache, wenn er es für gut fände.

Doch Fritz empfing mich gleich mit den Worten: ›Seraphine läßt dich grüßen. Sie hat sich zu Bett gelegt. Mama wollte es.‹

›Was mag sie nur haben?‹

›Es wird eine Grippe sein.‹

›Wenn sie nur nicht ernstlich erkrankt –‹

›Das möge Gott verhüten! Es wären traurige Weihnachten. Nun, ich hoffe, ein paar Tassen Lindenblütentee machen sie wieder gesund. Jedenfalls aber bleibt sie morgen zu Bett. Du kommst ohnehin nicht. Denn morgen ist Sonntag, und da gehst du zu deiner Tante.‹

›Zu meiner lieben Tante –‹

›Ach was, laß die Tante Tante sein!‹

Ich sagte ihm also nichts und begleitete ihn nur nach der Schule bis vor das Rote Haus, wo wir uns trennten. Eine [263] Stunde später trat ich die verhaßte Wanderung an, nachdem ich zuvor noch meiner guten Mutter bedeutet hatte, daß ich heute ziemlich lang ausbleiben dürfte.«


»Ich sehe die Spelunke noch vor mir,« fuhr der Hofrat fort, »in der wir uns damals versammelten. Ein niederes, halb im freien Feld gelegenes Haus mit verfallendem Schindeldache und einem windschiefen Anbau, der den wüsten ländlichen Hof seitwärts abgrenzte. Wenn man durch das Tor trat, hatte man links die Gaststube, die eigentlich nur zur Zeit der Heurigenschänke besucht wurde; sonst blieb das düstere, modrig feuchte Lokal in der Regel leer. Von dort aus gelangte man über ein Paar Stufen in das uns angewiesene Zimmer-chen; es stieß schon an den Anbau, wo der halbbäuerliche Wirt mit drei Kindern und einer Magd als Witwer hauste. Der Raum war sehr niedrig, man konnte mit der Hand fast an die Decke langen. Nur ein Tisch stand darin, an welchem auf einer Bank und einigen gebrechlichen Stühlen ungefähr zwölf Personen Platz fanden. In der nächsten Ecke war ein winziges Blechöfchen zu erblicken, und an der Wand dämmerte ein erblindeter Spiegel mit dahinter gesteckten, vergilbten Palmzweigen. An einem hölzernen Kleiderrechen, dem mancher Nagel fehlte, hing eine alte Gitarre mit verschossenem blauen Bande.

Dort also, beim Schein von zwei trüben Talglichtern, saßen wir jetzt: neun an der Zahl. Sieben junge Burschen – und, wie das bei solchem Anlaß vorauszusehen gewesen, zwei Mädchen, die mit ihren Liebhabern – sie hießen Stockinger und Rüttmann – gekommen waren. Obgleich Thoms mir gegenüber die notwendige Vollzähligkeit besonders hervorgehoben, fehlten doch zwei Mitglieder des Bundes; auch Neuhauser war noch nicht erschienen. Der Senior, der mich im Kaffee-Hause mit höhnischer Genugtuung begrüßt hatte, machte daher [264] schon ein recht ärgerliches Gesicht; ich selbst aber schöpfte einige Hoffnung, daß mir ein Zusammentreffen mit Toni erspart bleiben werde. Aber schon trat sie mit ihrem Geliebten durch die Tür. Eine stürmische Begrüßung erfolgte. Man nahm Toni den Mantel, so wie zwei große, mit Papier umwickelte Flaschen ab, die sie in den Armen trug; dann wurde dem Paar ein Ehrenplatz zu gewiesen. Es traf sich, daß ich Toni etwas näher zu sitzen kam, als damals; sie aber schien mich gar nicht zu beachten, während ich nicht umhin konnte, den Blick auf sie zu heften. Sie trug heute eine leicht mit Pelz verbrämte Jacke, einen weitläufigen Korallenschmuck und hatte das Haar mit einem roten Bande durchflochten. So unterschied sie sich sehr eigentümlich von den anderen Frauenzimmern, die zwar auch in ihrer Weise Staat gemacht hatten, aber trotz unechter Geschmeide und bunter seidener Halstücher in verwaschenen Kattunkleidern recht ärmlich aussahen. Die eine, blond und mager, hektische Röte auf den Wangen, hatte das Haar an den eingesunkenen Schläfen in große Schnecken gedreht; die andere war ein kleines, sehr dralles Frauenzimmer, mit weißrotem Puppengesicht und kleinen, etwas schielenden schwarzen Glaskugelaugen. An dieser Schönen schien Thoms Gefallen zu finden. Er hatte sie schon früher an seine Seite gesetzt und bedrängte sie nunmehr, da er guter Laune geworden, mit Zärtlichkeiten – ganz unbekümmert um ihren Geliebten Rüttmann, der sich übrigens gar nicht eifersüchtig bezeigte, vielmehr das Mädchen willig dem despotischen Kollegen zu überlassen schien.

Herr Schallmaier, der Wirt, welcher gegen Erlag von zwei Zwanzigern für jeden Teilnehmer – so billig konnte man es damals noch haben – die ganze Besorgung der Silvestervorfeier übernommen hatte, war inzwischen mit seinem kupfrigen Schelmengesicht ab und zu gegangen. Er tischte Rauchfleisch, Salami und Käse auf; sogar eine große Schüssel mit welschem Salat. Dazu eine mächtige ›Pitsche‹, bis an den Rand mit [265] Bier gefüllt, das man, da hier nur Wein verzapft wurde, aus dem nächsten größeren Gasthause herüber geholt. Nun ging es ans Schmausen, und als das Bier alle war, erschienen einige Flaschen ›Gerebelter‹, der, wie Herr Schallmaier versicherte, den jungen Herrschaften besonders munden würde. Auch etwas Süßes für die ›Damen‹ brachte er: einen riesigen Gugelhupf, der Toni zum Anschneiden überreicht wurde.

Der ›Gerebelte‹ den ich als abgesagter Feind des Bieres nun ebenfalls kostete, war wirklich gut – das heißt, wie zu jener Zeit alle Weine, noch unverfälscht. Er tat auch bald seine Wirkung: man begann lustig zu werden. Mit hochgeschwungenem Glase stimmte Thoms das Gaudeamus an, dem andere Burschengesänge folgten, die mit zahlreichen Libationen verbunden waren. Obgleich ich an meinem Glase jedesmal nur nippte, stieg mir doch das ungewohnte Getränk zu Kopf, und unwillkürlich wurde ich in die herrschende Stimmung mit hineingezogen. Erst als das Fuchslied: ›Was kommt dort von der Höh'?‹ an die Reihe gelangte, kam ich wieder zur Besinnung. Denn man hatte das Lied aus mich gemünzt und die Stellen: ›Was macht die Frau Mama? Was macht die Mamsell Sœur?‹ mit besonders satirischer Betonung hervorgehoben. Sie schnitten mir ins Herz, und bei den Selbstvorwürfen, die sie weckten, versank ich in ein mißmutiges Schweigen. Ich achtete gar nicht darauf, daß jetzt Stockinger, ein vierschrötiger Bengel mit langen, studentisch hinter die Ohren gestrichenen Haaren, ein Solo ›Im tiefen Keller sitz' ich hier‹ zum besten gab. Er besaß eine wuchtige Bastßimme, auf die er sehr stolz war und welche er bei jeder Gelegenheit prahlerisch ertönen ließ.

Als er geendet hatte, bemerkte ich, daß Toni die braunen, von bläulichen Lichtern durchzuckten Augen eindringlich auf mich gerichtet hielt. ›Na, junger Herr,‹ sagte sie, ›warum sitzen S' denn gar so tasig da? An was denken S' denn?‹

›An was wird er denken!‹ rief Thoms höhnisch, ›an seine Geliebte denkt er.‹

[266] Toni kniff die Augen zusammen. ›An seine Geliebte? I hab', g'laubt, er is no' a Unschuld.‹

›Das wird er wohl auch sein, der zimperliche Fuchs‹, lachte Thoms. ›Seine Flamme geht ja noch in Hosen.‹

Ein allgemeines Gelächter folgte diesem Ausspruch. Toni aber wandte langsam den Kopf ab, während ich in meiner Verwirrung um so weniger eine Entgegnung fand, als inzwischen die hektische Blondine die Gitarre herabgelangt hatte und nun auf dem arg verstimmten Instrumente zu präludieren begann.

›Ah, die Mahltschi!‹ rief man von allen Seiten. ›Die Maltschi will uns was singen!‹

›Singen net‹, sagte das Mädchen. ›I bin heut' net bei Stimm'. Mir tut die Brust weh.‹ Sie hüstelte.

›Na, so spiel' halt die Tanz'!‹ sagte Stockinger.

›Ja, ja, die Tanz'!‹ stimmte man bei. ›Die spielt ihr keiner nach!‹

›Die Tanz' spiel 'i‹, erwiderte die Blonde, sichtlich geschmeichelt, griff mit Macht in die schrillenden Saiten und hub mit einer Reihe von Walzern und Ländlern an, die immer mehr Anklang fanden, bis sie endlich mit allgemeinem Händeklatschen und Fußgestampf begleitet wurden.

Nur Toni schenkte den tollen Klängen wenig Aufmerksamkeit. Sie hatte aus einer kleinen, im Tisch angebrachten Lade ein abgegriffenes Spiel Karten hervorgeholt und schickte sich an, mit langsamen, trägen Handbewegungen eine Art Patience zu legen, die ihre Gedanken mehr und mehr zu beschäftigen schien. Neuhauser, der an ihrer Seite saß, beobachtete dieses Gehaben mit scheelen Blicken. Er hatte dem Wein über Gebühr zugesprochen; man sah, daß er bereits angetrunken war. Dennoch hatte sein auffallend langes, hageres Gesicht die gewöhnliche Fahlheit beibehalten; nur die weitgeschlitzten gelblichen Augen glühten. Endlich, da die Gitarrespielerin gerade eine Pause eintreten ließ, sagte er mit heiserer Stimme: ›Was schlagst denn Karten auf? Denkst schon wieder an ihn?‹

[267] Toni zuckte zusammen. Sie wollte offenbar heftig erwidern; aber sie überwand sich. ›An ihn denk' i net mehr‹, sagte sie ruhig. ›I hab' nur aus den Karten etwas über dem seine Geliebte erfahren wollen.‹ Dabei deutete sie mit einer Kopfbewegung nach mir hin.

›Was kümmert dich die Geliebte von dem?!‹ entgegnete er gereizt. ›Was kann dir d'ran liegen?‹

›Nix liegt mir dran‹, versetzte sie und schob mit einem bösen Blick die Karten zusammen. ›Aber du bist schon wieder eifersüchtig. Trink' lieber net so viel. Es wird dir übel wer'n.‹

›Willst mir schon wieder vorschreiben?‹ schrie er. ›Jetzt trink' ich erst recht! Wo bleibt denn der Punsch? He, Wirtshaus!‹ Er polterte mit einer leeren Flasche auf dem Tisch.

Herr Schallmaier eilte aus der Gaststube, wo er sich bei seinem eigenen Wein aufhielt, herbei.

›Was ist's mit dem Punsch?‹

›'s Wasser kocht schon längst, Herr von Neuhauser, aber –‹

›Die Essenz fehlt! Dort am Fensterbrett steht sie. Die größere Flaschen. In der andern ist Rum. Den wollen wir selber nachgießen.‹

Der Wirt ergriff die Flasche, eilte ab, und es dauerte nicht lange, so wurde die Terrine samt frischen Gläsern hereingebracht. Neuhauser füllte diese eigenhändig mit einem blechernen Schöpflöffel. ›Profit!‹ rief er, nachdem die Arbeit getan war. Die Gläser klangen nun zusammen, und man schlürfte das dampfende, stark duftende Getränk, dessen Wirkung in den meisten Gesichtern immer deutlicher erkennbar wurde.

Die Geliebte Stockingers, deren Wangen wie Feuer flammten, hatte wieder die Gitarre ergriffen und stieß jetzt aus ihrer keuchenden Brust einige kreischende, gesangartige Töne hervor.

›Bravo! d' Maltschi singt!‹ rief man im Kreise. ›Das is g'scheidt! Jetzt wird's erst lustig!‹

[268] ›Na, es geht net!‹ erwiderte Maltschi. ›Die Brust tut mir zu weh.‹

›A was, trink' nur no a Glas'l Punsch!‹ schrie Neuhauser. ›Der wird dir gut tun. So. Noch ein bissel Rum nach! Und jetzt sing'! Laß dich net bitten.‹ Er zog seine Börse und warf einen Fünfer auf den Tisch. ›Das ist von mir! Aussa mit die Vierzeiligen!‹

›No, meint'wegen!‹ sagte das Mädchen, räusperte sich lange und ließ endlich eine Folge von kurzen Strophen vernehmen, wie sie damals der schamlose Humor der Wiener Volkshefe hervorbrachte. Immer frecher, immer lasziver wurde der Text, immer schallender das Johlen der Zuhörer, welche die ärgsten Zoten im Chorus wiederholten. Ein häßliches, orgiastisches Bild entfaltete sich. Thoms hatte die Kleine auf den Schoß gezogen und liebkoste sie, während die anderen Burschen lüstern beifällige Blicke auf die Gruppe warfen. Neuhauser war halb an Toni hingesunken; sein erschreckend bleiches Gesicht lag auf ihrer Schulter. So lallte er, die Augen verglast, von Zeit zu Zeit die unzüchtigen Worte nach, welche Maltschi, sich überschreiend, mit gebrochener Stimme sang.

Plötzlich glitt er von der Bank herab und lautlos zu Boden.

Man blickte bestürzt nach ihm hin; Maltschi verstummte. Nur Thoms blieb ruhig sitzen, die Kleine auf dem Schoß festhaltend, während man sich jetzt um Neuhauser drängte und ihn auf die Bank emporbrachte, wo er besinnungslos liegen blieb.

›I hab's ja g'wußt‹, rief Toni, keineswegs besorgt, sondern mit ärgerlichem Abscheu. ›Aber er laßt si nix sag'n. Jetzt liegt er da!‹

›Schütt's ihn mit Wasser an‹, sagte Thoms lakonisch.

›Anschütten net!‹ entgegnete Toni. ›Aber schaut's, daß a Wasser kommt. I werd' ihm kalte Umschläg' auf'n Kopf machen.‹

Einige eilten fort und kehrten mit dem Wirt zurück, der einen Wasserkrug und ein nicht allzu reinliches Wischtuch mitbrachte. Während sich Toni anschickte, dieses einzutauchen, [269] sagte der Wirt: ›Wissen's was, Fral'n? Tragen wir den jungen Herrn in mein Zimmer 'nauf. Dort legen wir ihn aufs Bett – und er kann glei' sein' Rausch ausschlafen.‹

Diese Szene brachte mich wieder zu mir selbst. Denn trotz des Ekels, den ich bisher empfunden, hatte ich doch den Punsch nicht ganz verschmähen dürfen. So hatten sich auch meine Gedanken, die ich in solcher Atmosphäre gewaltsam von Seraphine ablenkte, allmählich verwirrt, und meine Augen wie durch trübe Nebel nach Toni hingeblickt – der einzigen Nüchternen in dem mehr oder minder berauschten Schwarm. Sie nahm jetzt ihren Mantel um und folgte dem Wirt, der mit Hülfe Stockingers und noch zwei anderer den Volltrunkenen hinausschleppte.

›Gut, daß er draußen ist‹, rief Thoms. ›Der Kerl vertragt nix. Wir aber wollen uns jetzt einen Krambambuli machen!‹

›Ja, ja, Krambambuli!‹ brüllte es ringsum.

›Na also! Schaut euch nach einer Blechschüssel um! Schallmaier soll Zucker hergeben. Wir werden ihn schon zahlen.‹

Rüttmann, Thoms gegenüber stets dienstbereit, eilte fort und kam bald mit dem Gewünschten zurück. Der Zucker lag schon in der Schüssel; nun wurde reichlich Rum darüber gegossen und angezündet, während gleichzeitig die beiden Talgkerzen, bis zur Neige herabgebrannt, von selbst erloschen.

Inzwischen war auch Stockinger mit den Genossen wieder erschienen. Sie brachten die Nachricht, daß Neuhauser drüben zur Besinnung gekommen, aber sofort in tiefen Schlaf verfallen sei. Nun schnarche er, von Toni bewacht, im Bette des Wirtes. Ich aber nahm jetzt den günstigen Augenblick wahr, um mich zu befreien. Eine Weile noch verblieb ich unter den Gestalten, die um die bläulich wallende Flamme standen. Diese verlieh allen Gesichtern eine leichenhafte Färbung, während das Lied: ›Krambambuli, das ist der Titel des Tranks, der sich bei uns bewährt‹ mit ohrenzerreißendem Mißklang angestimmt wurde. [270] Als sie ins Zucken und Verflackern geriet, benützte ich die beginnende Dunkelheit, um rasch mein Überkleid vom Nagel zu langen und aus dem Zimmer zu verschwinden.

Draußen in der leeren Gaststube qualmte ein schwindsüchtiges Öllämpchen. Ich eilte an das Haustor. Es war verschlossen; der große plumpe Schlüssel steckte jedoch. Ich wollte ihn drehen – es gelang mir nicht; das eingerostete Ungetüm trotzte meinem vollsten Kraftaufwand. Ich beschloß also, das Freie durch den Hof zu gewinnen, wo, wie ich aus Erfahrung wußte, eine schadhafte Stelle des Staketenzaunes leicht zu überklettern war. Im Hofe angelangt, blieb ich unwillkürlich stehen und atmete in vollen Zügen die klare, kalte Winternachtluft ein. Rings war alles verschneit, und die weiße Fläche, von der sich der Zaun und einige kahle Bäume dunkel abhoben, schimmerte im hellen Licht des fast vollen Mondes.

Als ich mich jetzt in Bewegung setzte, vernahm ich eine Stimme, die mir von oben halblaut zurief: ›Was machen denn Sie da, junger Herr?‹

Ich blickte empor. Auf dem offenen Außengang des Anbaues stand Toni, in ihren Mantel gehüllt.

Ich war bei ihrem Anblick zusammengezuckt und fand nicht gleich eine Antwort. ›Ich gehe fort‹, sagte ich endlich.

›Schon jetzt? Ich hab's freilich bemerkt, daß es Ihnen da drunten net gar angenehm war. Mir auch net. Aber kommen S' a bissel herauf.‹ Sie winkte leicht mit der Hand.

Nun überkam mich ein eigentümlicher Zustand, der sich heute vielleicht auf Suggestion zurückführen ließe. Ich wollte entfliehen, suchte die schadhafte Stelle des Zaunes mit den Augen – aber ich bestieg die schmale, hölzerne Freitreppe, die zu ihr hinanführte.

›So, das is schön‹, sagte sie, als ich oben war. ›Leisten S' mir a wenig G'sellschaft. Der Neuhauser schlaft da drin.‹ Sie wies nach einer nahen Tür. Aber es is z' kalt da heraußen. Gehn wir auch ›nein.‹ Sie ergriff meine Hand und führte [271] mich in ein kleines Zimmer, das von einer langschnuppigen Kerze matt erhellt war. Auf einem wüsten Bette lag Neuhauser, den Kopf in ein eingesunkenes Federkissen halb vergraben; sein linker Arm hing schlaff über das schmale Lager hinab.

Toni nahm das Licht vom Tische und beleuchtete ihn. ›Da schaun S' nur, wie er ausschaut. Grauslich. Und mit dem Menschen muß i geh'n!‹

›Müssen? Warum müssen Sie denn?‹

›Fragen S' do net so! I bin a arm's Madel. Vielleicht bring' i's no dahin, daß er mi heirat' – wenn er a jünger is als i. Aber gern hab' i'hn net. I hab' nur mein' Lois gern.‹

›Lois?‹ wiederholte ich ganz gedankenlos.

›Ja, mein' Lois. Aber der will wieder mi net. Amal freilich hat er mi schon woll'n. Er hat mi ganz narrisch gern g'habt – aber jetzt mag' er mi nimmer. Und schau'n S'‹, – sie trat dicht an mich heran und blickte mir ins Gesicht –›schaun S', Sie segn ihm ganz gleich. Drum g'fallen S' mir auch so gut.‹ Sie zog die Oberlippe empor, wie damals, und griff mir mit heißer Hand unter das Kinn.

Ich trat einen Schritt zurück, indem ich unwillkürlich an meinen Hals langte.

›No, i beiß' Ihna net!‹ sagte sie halb ärgerlich, halb gutmütig. ›Sein S' net so g'schamig. A Bussel können S' mir schon geben. Ihre Geliebte weiß's ja net.‹ Und schon hatte sie mich auch umschlungen und ihre geöffneten Lippen saugten sich an meinem Munde fest.

Nun aber, obgleich von ihr selbst an Seraphine gemahnt, fühlte ich mich durchrieselt. Etwas noch nie Gekanntes, unwiderstehlich Mächtiges trieb mich, den vollen, blühenden Frauenleib zu umfassen, der sich an den meinen drängte. Aber ein ebenso Mächtiges wehrte sich dagegen. Ich trachtete Toni von mir zu zwingen, während ich mit den Augen nach dem schlafenden Neuhauser wies.

›Ach was‹, flüsterte sie, meinen Wink ganz anders deutend. [272] ›Lassen S' den! Der liegt wie a Toter. Da könnte ma a Kanon' abfeuern, so wacht er net auf Kommen S' nur!‹ –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Als ich bald darauf aus dem Zimmer trat, erfüllte mich öde, dumpfe Trauer. Was ich gegen Seraphine verbrochen, kam mir jetzt gar nicht zum Bewußtsein: ich empfand nur, daß ich etwas Unwiderbringliches verloren hatte.«


* * *


Ein längeres Schweigen trat ein.

»Und was geschah weiter?« fragte ich.

»Am nächsten Tage brach bei Seraphine der Scharlach aus. Eine diphtheritische Komplikation trat hinzu. Noch in derselben Woche starb sie, ohne daß ich sie wiedergesehen hätte. Was ich in jenen Tagen gelitten, mit welchen Empfindungen ich an der Seite des weinenden Fritz ihrer Leiche gefolgt bin, damit will ich Sie – und mich verschonen. Genug: ich glaubte damals nicht weiter leben zu können. Aber ich lebte weiter. Und leben heißt vergessen – wenn auch hin und wieder die dunklen Schatten der Vergangenheit auftauchen.«

In diesem Augenblick wurde die Tür leicht aufgeklinkt, eine kleine, weiß behandschuhte Hand raffte die Portiere ein wenig zur Seite, und ein schöner, dunkeläugiger Frauenkopf spähte vorsichtig in das Zimmer. Hinter ihm kam in dämmernden Umrissen die Gestalt eines sehr berühmten Porträtmalers zum Vorschein. Als die Dame bemerkte, daß jemand im Zimmer war, ließ sie erschrocken den Vorhang sinken, und die beiden verschwanden lautlos.

»Auch ein Sündenfall«, sagte der Hofrat nach einer Pause. »Aber kein erster.« Dann stand er auf, um sich wieder in die Gesellschaft zu begeben.

Ich folgte ihm.

[273]

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 4. Teil. Sündenfall. Sündenfall. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AD7C-9