[107] [109]Die Steinklopfer

1.

[109] [113]I.

Wer in früherer Zeit – heutzutage ist der Eindruck nicht mehr so gewaltig – die Bahn über den Semmering, die sich längs gähnender Abgründe und schroffer Felswände emporwindet, zum ersten Male befahren hat, der wird, wenn der Zug über schwindelerregende Viadukte donnerte oder plötzlich mit schrillem Pfeifen in die Nacht endlos scheinender Tunnels hineinbrauste, jene mit erhabenem Grauen gemischte Bewunderung empfunden haben, die uns stets überkommt, wenn wir etwas, das wir bisher für unmöglich gehalten, verwirklicht vor uns sehen. Und wenn dann die gekoppelte Wagenreihe, allmählich ebenen Boden erreichend, wieder gefahrlos zwischen lachenden Triften forteilte, dann wird er sich voll Stolz, der Sohn eines Jahrhunderts zu sein, das solche Wunderwerke hervorbringt, in seinen Sitz zurückgelehnt und sich mit halbgeschlossenen Augen hinübergeträumt haben in die Errungenschaften der Zukunft, welche in der Eröffnung des Suezkanals und dem Durchstich des Mont Cenis noch immer nicht ihre kühnste Betätigung gefunden. An eines aber, das kann man zuversichtlich annehmen, werden die wenigsten gedacht haben: an die Tausende und Abertausende von Menschen, welche im Schweiße ihres Angesichtes, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felsen gesprengt, Steinblöcke gewälzt, Abgründe überbrückt und so recht eigentlich jene Verkehrsstraße geschaffen, auf welcher man, fast so rasch wie der Gedanke, aus der unruhvollen, staubdurchwirbelten Hauptstadt am Ufer der Donau an den Strand der blauen Adria versetzt werden kann. [113] Von zweien solcher armen Menschen, welche seit jeher, ohne daß ihnen selbst bis jetzt die Segnungen des Fortschritts zuteil geworden wären, treulich mitgeholfen bei der großen Kulturarbeit der Völker, will ich nun eine kleine Geschichte erzählen. Nicht etwa, um das harte Los dieser Parias der Gesellschaft, die unsere Dome und Paläste, unsere Unterrichtsanstalten und Kunstinstitute bauen, in grellen Farben zu schildern, oder darzutun, welche Rolle der sogenannte fünfte Stand dereinst noch im Laufe der Begebenheiten zu spielen berufen sein dürfte: sondern nur, um ein schlichtes Lebensbild aus der großen Masse derjenigen festzuhalten, deren Dasein, von schweren körperlichen Mühen überbürdet, im Kampfe um das tägliche Stück Brot meist unbekannt und unbeachtet dahingeht, bis es zuletzt in irgendeinem dumpfen Winkel der Erde spurlos endet – nur um zu zeigen, wie Leid und Lust jedes Menschenherz bewegen und daß sich überall im kleinen abspielt die große Tragödie der Welt. –

Die Bahn war hergestellt. Der zyklopische Lärm der Arbeit, das Donnern der Sprengschüsse war verhallt, und das zahl- und rastlose Menschengewirr, das sich aus dem entlegenen Böhmen, den mährisch-ungarischen Niederungen, aus dem steinigen Karst und dem gesegneten Friaul hier zusammengefunden hatte, war weiter südwärts gezogen, um dort sein mühevolles Tagewerk fortzusetzen. Das tief in die Wälder hinein verscheuchte Wild kehrte allmählich wieder zurück und wagte sich, wie neugierig, auf den riesigen Höhenpfad, der, noch unbefahren, gleich einer vergessenen Spur menschlicher Tatkraft in dem stillen Frieden des Hochgebirges lag. Nur hier und dort, etwa zwei Wegstunden voneinander entfernt, stand noch eine jener geräumigen Bretterhütten, welche die Nomaden der Arbeit in Scharen bewohnt und bei ihrem Aufbruche wieder niedergerissen hatten. Sie beherbergten eine Anzahl von Zurückgebliebenen und späteren Nachzüglern, welche bestimmt waren, den Oberbau gänzlich zu vollenden. Denn noch galt es, an [114] mancher Stelle Schienen zu legen, Geleise zu beschottern, Telegraphenstangen aufzurichten und Wächterhäuschen auszumauern, an deren Gesimse die zierlichen Schwalben, welche sich tagsüber oft in langen Reihen auf den elektrischen Drähten niederließen, bereits ihre Nester geklebt hatten.

Eines Nachmittags, es war Sonntag, saß vor einer solchen Hütte, welche sich, etwas abseits von der Bahn, an schroffe Felsen lehnte, eine weibliche Gestalt auf der Schwelle. Sie war barfuß, hatte um das Hinterhaupt ein grobes dunkles Tuch geschlungen, und das Antlitz, das daraus hervorsah, war welk und von jener bräunlich fahlen Hautfarbe, welche der Sonnenbrand in blassen Gesichtern zu erzeugen pflegt. Die Stirn wies tiefe Furchen auf, und um den Mund lag ein Zug öder Traurigkeit, was die Sitzende älter erscheinen ließ, als sie sein mochte, und die verkümmerte Mädchenhaftigkeit ihres Leibes seltsam hervorhob. Die Sonne stand nicht mehr hoch; über die meisten Abhänge hatten sich bereits dunkle, schweigende Schatten gelagert. Aber auf dem Wiesengrunde vor der Hütte und in den Wipfeln des seitwärts ansteigenden Waldes blitzte und funkelte noch der helle Strahl, in welchem sich eine Schar von Faltern, Bienen und Libellen über bunten Blumenkelchen tummelte. Die Einsame jedoch achtete nicht der lieblichen Sonnenpracht, die sich vor ihr ausbreitete, sondern hielt den Blick unverwandt auf eine schadhafte Männerjacke gerichtet, mit deren Wiederherstellung sie eifrig beschäftigt war. Diese Arbeit schien ihr recht sauer zu werden; denn ihre rauhe, schwielige Hand, welche die Nadel mühsam und ungelenk führte, hatte wohl sonst nur Haue und Schaufel anzufassen. Jetzt wurde sie durch nahende Schritte aufgestört, und als sie das Haupt hob, gewahrte sie, wie vom Bahngeleise her ein Mann auf die Hütte zuschritt, dessen Erscheinung einen kläglichen Anblick darbot. Klein und unansehnlich von Wuchs, trug er einen alten, zerschlissenen Soldatenkittel, welcher, zu lang und zu weit, seinen Körper wunderlich umschlotterte, während ihm eine blaue, abgegriffene Feldmütze tief über [115] die Stirn herabfiel. Er wankte im Gehen, obgleich er sich auf einen knorrigen Baumast stützte, und der kleine Sack von fadenscheinigem Zwillich, den er über die Schultern gehängt trug, ziemlich inhaltslos aussah. So näherte er sich, scheu und verlegen aus matten, farblosen Augen blickend, der Erwartungsvollen. »Ist das die Hütte Nummer sieben?« fragte er mit unsicherer Stimme.

»Ja, das ist sie«, erwiderte die andere in jenem eigentümlichen, hart klingenden Deutsch, wie es im südlichen Böhmen gesprochen wird. »Was willst du?«

»Man hat mich zur Arbeit heraufgeschickt.« Und dabei wies er einen Zettel vor, den er in der Hand hielt.

Sie betrachtete noch immer seinen seltsamen Anzug und sein dünnbärtiges Antlitz, das jämmerlich bleich und abgemagert aussah. »Der Aufseher ist nicht zu Hause«, sagte sie endlich: »Er ist mit den andern nach Schottwien hinuntergegangen zum Wein. Setz dich einstweilen dort nieder, wenn du müd bist.« Und mit einem letzten Blick auf sein hinfälliges Wesen nahm sie, ihrer unterbrochenen Arbeit sich besinnend, rasch wieder Nadel und Faden auf.

Der Ankömmling erwiderte nichts, sondern schleppte sich bloß ein paar Schritte seitwärts, wo er sich mit allen Zeichen der Erschöpfung im Grase niederließ. Dort lag er, während die Sonne tiefer und tiefer sank, ihr letztes Gold verschüttend. Lautlose Stille herrschte ringsum; nur hoch im lichten Azur des Abendhimmels kreiste mit langgedehntem Schrei ein Geier.

Plötzlich erklang in der Ferne ein wüster Männerchor. Die Emsige schrak auf. »Jesus, da sind sie schon«, sagte sie halblaut zu sich selbst, »und ich habe die Jacke noch nicht fertig.«

Immer näher, immer stärker scholl der Gesang, und es dauerte nicht lange, so kam eine Schar verwildert aussehender Gesellen heran, aus deren Mitte, besser als die andern gekleidet, ein Mann von herkulischem Wuchse emporragte. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; sein breites, aufgedunsenes [116] Gesicht war vom Weine gerötet, und der Strohhut, der ihm tief im Genick saß, ließ graue, verworrene Haare sehen. Er hatte seinen Rock ausgezogen und über die linke Achsel geworfen; in der rechten Hand, die feist und stämmig aus dem losen Hemdärmel hervorsah, trug er einen großen Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den übrigen trugen schwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf dem Rücken. »Heda! Tertschka!« rief der Mann mit dem Korbe in heiserem Tone, »mach Licht drinnen, daß wir den Proviant in den Keller schaffen können!« Und da er jetzt vor ihr stand und ihm die Jacke, die sie ängstlich an sich drückte, in die Augen fiel, fragte er barsch: »Nun, ist sie gemacht?«

»Noch nicht ganz«, war die zaghafte Antwort.

»Was? Nicht?« kreischte er, und sein Gesicht wurde blaurot. »Hab' ich dir nicht gesagt, daß ich sie morgen brauche?«

»Ich hab' mich den ganzen Nachmittag damit geplagt. Aber ich kann's nicht so schnell machen wie eine, die das Nähen gelernt hat.«

Der stille Vorwurf, der in diesen Worten lag, schien ihn noch mehr zu reizen. »Du weißt immer etwas zu erwidern!« schrie er. »Aber ich sage dir nur, wenn ich die Jacke morgen früh nicht habe, so gib acht, was dir geschieht!« Und er drang, den Korb auf den Boden stellend, auf die Zurückweichende ein, als wollte er schon jetzt seine Drohung zur Wahrheit werden lassen. Dabei fiel sein Blick auf die Gestalt im Soldatenkittel, die sich inzwischen furchtsam genähert hatte. »Wer ist der da?« fragte der Wütende, indem er die erhobene Hand sinken ließ.

»Er ist zur Arbeit hergewiesen«, sagte Tertschka, schwer atmend.

Der Aufseher – denn er war es – trat mit der ganzen Wucht seines vierschrötigen Wesens vor den Kleinen hin und musterte ihn von oben bis unten. »Zur Arbeit? Der Kerl kann ja kaum auf den Füßen stehen!«

»Ich hab' einen weiten Weg gemacht«, sagte der andere schüchtern. »Vom Ottertal herüber.«

[117] »Das ist auch was!« höhnte der Aufseher, indem er beim Schein des Zwielichtes in den Zettel sah, der ihm mit bebender Hand überreicht wurde. »Huber nennst du dich?« fragte er nach einer Pause, aufblickend.

»Ja; Georg Huber.«

»Wie kommst du zu dem Soldatengewand?«

»Ich bin Urlauber.«

»Was? du hast beim Militär gedient?«

»Sieben Jahre; im zwölften Regiment. Jetzt aber haben sie mich heimgeschickt, weil ich das böse Fieber nicht loskriegen kann, das ich mir bei der Belagerung von Venedig geholt.«

»So, das Fieber hast du auch? Was die in der Baukanzlei für Leute aufnehmen! Lauter Krüppel, die man nur zum Steineklopfen verwenden kann; und da wundern sie sich, daß es nicht vorwärts geht. Aber merk dir's, du«, fügte er mit einer drohenden Handbewegung bei, »wenn du nicht täglich deine zwei Fuhren Schotter zuwege bringst, so jag ich dich fort! Hier ist kein Spital.« Und damit langte er wieder nach dem Korbe und ging, während die andern folgten, in die Hütte, wo er an der Hinterwand eine mit Eisen beschlagene Tür aufschloß. Diese führte in eine Höhlung, welche mehrere Stufen tief in den Felsen gesprengt war und als Keller benützt wurde. Tertschka leuchtete mit dem Kienspane, den sie von einem weitläufigen Herde genommen und angezündet hatte, voran, und die Lebensmittel wurden untergebracht. Hierauf schloß der Aufseher die Tür wieder hinter sich ab und zog sich in eine Art Verschlag zurück; die übrigen aber streckten sich, miteinander kauderwelschend und ohne ihren neuen Kameraden zu beachten, längs der Seitenwand auf eine Schütte alten Strohes zur Nachtruhe hin. Georg stand noch immer scheu und verlegen unweit des Einganges; endlich trat Tertschka an ihn heran. »Geh' schlafen«, sagte sie und deutete mit der Hand nach einer leeren Stelle des gemeinschaftlichen Lagers. Er folgte ihrem Winke; ängstlich bedacht, so wenig Raum als möglich einzunehmen, schob er seinen Quersack [118] unter den Kopf, breitete den abgelegten Kittel gleich einer Decke über sich und schlief mit einem tiefen Seufzer ein. Tertschka aber zündete noch eine kleine Öllampe an und begann, am Herde niedergekauert, wieder emsig zu nähen. Endlich ließ sie die Nadel sinken und unterzog die Jacke einer genauen Prüfung. Dann blies sie, mit der vollbrachten Arbeit zufrieden, das qualmende Flämmchen aus und legte sich, angekleidet, wie sie war, in einem Winkel neben dem Herde nieder. –

Draußen duftete die blaue Sommernacht, und zur Dachluke der Hütte herein, in den dunklen, vom Atemgeräusch der Schlafenden durchzogenen Raum sahen die zitternden Sterne.

2.

II.

Der Morgen dämmerte kaum, als es in der Hütte lebendig wurde und Georg aus dem Schlafe erwachte. Er sah, wie die Männer nach und nach das dürftige Lager verließen, allerlei Werkzeug ergriffen, das rings an den Wänden lehnte, und damit aus der Tür gingen. Er hatte sich gleichfalls erhoben, war in seinen Kittel geschlüpft und stand unschlüssig und erwartungsvoll da, als sich Tertschka, einen schweren Hammer mit langem Stiel auf der Schulter, ihm näherte. »Der Aufseher schläft noch«, sagte sie. »Aber ich weiß, was du zu tun hast. Nimm den Hammer dort; wenn du willst, kannst du mit mir an die Arbeit gehen.« Er tat, wie sie ihn hieß, und trat mit ihr hinaus in die Frühe. Draußen war es kühl und still; nur hier und dort zwitscherte ein Vogel, und auf der Wiese lag der helle Tau. Sie gingen schweigend an das Bahngeleise und längs desselben noch eine Strecke hinauf bis zu einem verödeten Steinbruch, wo sich bereits einige andere Arbeiter eingefunden hatten, während die übrigen, mit Karren und Schaufeln ausgerüstet, an der Bahn verteilt waren. Tertschka schritt mit Georg an den Männern vorüber zu einer höher gelegenen flachen Mulde hinan. »Das ist mein Platz«, sagte sie, indem sie sich mitten [119] unter Bruchsteinen und Geröll auf den Boden niederließ. »Ich bin nicht gern bei denen dort. Sie sind ein wüstes, hämisches Volk. Aber du kannst bei mir bleiben, wenn es dir recht ist.« Er erwiderte nichts und setzte sich still neben sie. »Siehst du, diese Trümmer müssen in kleine Stücke zerschlagen werden. Das dort«, setzte sie hinzu und deutete mit der Hand auf einen kleinen Berg von angehäuftem Schotter, »das hab' ich in dieser Woche zustande gebracht.« Er zog einen größeren Kalkstein zu sich heran und schlug mit dem Hammer darauf. Der Stein blieb ganz. »Stärker!« rief Tertschka und führte nun selbst einen Streich, daß die Stücke umherflogen. Er sah sie verwundert an und erprobte noch einmal seine Kraft. Diesmal mit besserem Erfolg, und so begannen die beiden, ohne mehr ein Wort zu wechseln, ihr Tagewerk. Der Ort, wo sie saßen, erschloß eine prachtvolle Fernsicht über die mächtigen Hebungen und Senkungen der weithin ausgebreiteten Gebirgsnatur. Hart an der Bahn und in gleicher Höhe mit ihr klebte die Burgruine Klamm wie ein Geiernest an einer bewaldeten Felsenzacke; tief unten in einer engen Talschlucht, langgestreckt und mit rötlichen Dächern, lag der Markt Schottwien. Dahinter ragte dunkel der Sonnwendstein auf, und von den grünen Matten an seinem Fuße herüber schimmerte, mit Bäumen umpflanzt, die freundliche Kirche »Maria Schutz« genannt. Aber die Emsigen hatten kein Auge für das herrliche Bild; sie hämmerten und klopften, in dumpfem Eifer tief zur Erde hinabgebeugt. Höher und höher stieg die Sonne und brannte schon heiß und sengend auf ihre Scheitel nieder. Die Schläge Georgs wurden immer schwächer, immer langsamer; endlich ließ er den Hammer sinken, lüftete die Mütze und trocknete sich den Schweiß ab, der in hellen Tropfen über sein Antlitz rann. Auch Tertschka hielt inne. »Bist du schon müd?« fragte sie, indem sie ihn teilnehmend ansah.

»Weiß Gott, das bin ich«, antwortete er mit tonloser Stimme. »jetzt spür ich erst, wie arg mich das Fieber heruntergebracht hat.«

[120] »Wie hast du auch da heraufkommen können, krank und hinfällig, wie du bist?« fuhr sie fort.

»Was hätt' ich anderes tun sollen? Betteln vielleicht? Das vermag ich nicht. Handwerk hab' ich keins gelernt. Vater und Mutter sind mir früh gestorben, und da hab' ich im Ort die Gänse hüten müssen und später die Kühe – bis in mein achtzehntes Jahr. Denn ich war immer an Kraft zurück, und kein Bauer hat mich als Knecht nehmen mögen. Aber den Herren von der Assentierung war ich doch recht. ›Im zweiten Glied kann er mitlaufen‹, meinten sie und haben mir den weißen Rock angezogen. Und nun hat man mich krank und elend nach Hause geschickt. Eine Zeitlang wurd' ich von der Gemeinde erhalten; dann hieß es, ich solle gehen und Steine klopfen. Na – und jetzt klopf ich sie«, schloß er mit bitterem Lächeln, während er wieder nach dem Hammer griff.

Sie hatte schweigend das Haupt gesenkt. »Aber du wirst es nicht aushalten«, sagte sie still.

»Vielleicht doch; wenn ich nur wieder zu essen habe. Es ist mir recht schlecht gegangen in den letzten Tagen, und seit gestern früh hab' ich nicht einen Bissen über die Lippen gebracht.«

Sie antwortete nichts und zog langsam ein Stück schwarzen Brotes hervor, das in ihre Schürze gewickelt war, brach es in zwei ungleiche Teile und reichte ihm den größeren hin. »Iß«, sagte sie.

Er warf einen scheuen Blick auf das Gebotene. »Das ist dein Brot«, erwiderte er leise und ablehnend.

»Das tut nichts; ich hab' an dem da genug.« Und da er noch immer keine Miene machte, es zu nehmen, so legte sie es dicht an seiner Seite auf den Boden nieder. »Du wirst auch durstig sein«, fuhr sie fort. »Ich will dir einen Trunk Wasser holen; dort oben fließt eine Quelle.« Und damit stand sie auf, bückte sich nach einem Krüglein, das halb zerscherbt zwischen dem Geröll lag, und stieg bis zum Tannicht oberhalb des Steinbruchs hinauf, wo ein dünner Wasserstrahl unter dunklem Moose [121] hervorrieselte. Sie füllte das Krüglein, trank, füllte es wieder und kehrte zurück. Das Brot lag noch immer unberührt neben Georg. Aber das Wasser nahm er. »Ich danke dir«, sagte er innig, nachdem er getrunken hatte.

»Weshalb? Ich tu's ja gern. – Aber jetzt iß«, fuhr sie, sich wieder setzend, mit sanftem Drängen fort. »Von mir kannst du's schon nehmen.«

Er langte verschämt nach dem Brote. »Du hast gewiß im Leben auch schon viel Not gelitten, weil du so gut bist«, sagte er, indem er, ohne sie anzusehen, ein Stückchen wegbrach. –

»Ja, das hab' ich. Und ich spür auch jetzt noch oft genug, wie weh der Hunger tut.«

Es war, als blieb ihm der Bissen im Halse stecken.

»Auch jetzt noch?« fragte er endlich. »Wird denn die Arbeit gar so schlecht bezahlt?«

»Mir wird sie gar nicht bezahlt.«

»Was? Du bekommst keinen Tagelohn?«

»Nein; den behält der Aufseher.«

»Der Aufseher?«

»Er ist mein Stiefvater.«

»Dein Stiefvater –« wiederholte er, noch immer ganz gedankenlos vor Erstaunen.

»Ja; mein rechter Vater ist bei der Arbeit verunglückt, als ich noch ganz klein war; abstürzende Erde hat ihn verschüttet. Dann ist die Mutter bei dem Aufseher geblieben, der damals, wie mein Vater, Teichgräber war und mit ihm in Böhmen umherzog.«

»Also aus Böhmen bist du? Darum redst du auch so fremd und hast einen so seltsamen Namen. Ter – ich kann ihn gar nicht nachsagen.«

»Tertschka«, ergänzte sie. »Deutsch heißt es Therese.«

»Hierzulande würden sie dich Resi nennen. – Aber«, fuhr er fort, »wenn dein Stiefvater deinen Lohn behält, so muß er dir doch zu essen geben.«

[122] »Gerade so viel, daß ich nicht verhungere. Du glaubst nicht, wie geizig er ist. Sich selber läßt er's freilich wohl geschehen, und es vergeht fast kein Tag, an dem er sich nicht betrinkt. Aber den andern gönnt er das Wasser nicht, wenn sie es ihm nicht bezahlen, und um ihn her könnt' alles verhungern, eh er aus freien Stücken die Hand auftät'. So muß ich mich mit dem begnügen, was am Herd abfällt, und dabei behält er, wie gesagt, meinen Lohn und obendrein die vierzig Gulden in Silberstücken, die mir meine Mutter hinterlassen hat. Das wäre jedoch alles das Schlimmste nicht. Aber er ist auch ein boshafter Mensch, der mich oft schlägt. Du hast gestern gesehen, wie er mich wegen der Jacke anließ.«

»Ja, das hab' ich gesehen.«

»Und so war er auch stets mit meiner Mutter. Ich laß mir's nicht nehmen, daß sie die Schwindsucht, an der sie gestorben ist, von einem Schlage bekam, den er ihr einst im Zorn und Rausch vor die Brust versetzt hat.«

Sie schwieg, in traurige Erinnerungen verloren. Endlich sagte Georg: »Wenn dich dein Stiefvater gar so übel behandelt, warum bleibst du bei ihm?«

»Weil ich weiß, daß er mich nicht fortließe«, antwortete sie nach einer Pause. »Er braucht ein so armes, hilfloses Ding um sich, das er ungestraft quälen und martern kann. Denn er ist im Innersten feig, wenn er auch oft grimmig und wütend wird. – Und wohin sollt' ich gehen?« setzte sie mit einem Seufzer hinzu. »Es ist überall nicht gut in der Welt.« Sie hatte bei diesen Worten wieder ihren Hammer ergriffen; Georg, etwas gestärkt, tat desgleichen, und bald waren sie neuerdings in ihre harte Arbeit vertieft.

So verrann Stunde um Stunde, und die Mittagshitze lagerte sich glühend über Berg und Tal. Weithin regte sich nichts; nur der eintönige Fall der Hämmer war in der Stille zu hören und der Ruf des Spechtes. Von Zeit zu Zeit stimmten die Männer längs der Bahn einen kurzen, rauhen Gesang an.

[123] Plötzlich ertönte der schrille Laut einer Glocke. »Was ist das?« fragte Georg, der sah, daß die andern ihre Werkzeuge hinlegten und auf die Hütte zuschritten.

»Der Aufseher hat zum Essen geläutet«, erwiderte Tertschka.

»Zum Essen –« wiederholte er matt. »Und was gibt es denn bei euch?«

»Heidegrütze und Kartoffeln. Heute wird auch Schweinefleisch sein; denn das haben sie gestern mitgebracht.«

»Es ist schon lange her, daß ich kein Fleisch mehr gegessen habe«, sagte er nachdenklich.

»Iß auch heute keins, du hast das Fieber; es könnte dir schaden. Denn der Aufseher hat kein Gewissen und nimmt dem Metzger in Schottwien die schlechte, verdorbene Ware ab, und da er's bei der Bauleitung durchgesetzt hat, daß jeder, was er zum Leben braucht, bei ihm kaufen muß, so schlägt er alles teuer genug los und hat seinen sündhaften Gewinn dabei. Drum kocht er auch selbst; denn er traut keinem von uns.«

»Er kocht?«

»Ja. Um die Arbeit kümmert er sich wenig und läßt es gehen, wie's geht. Nur zuweilen einmal kommt er nachsehen, und dann flucht und wettert er; freilich am meisten mit solchen, die nicht den Mut haben, etwas zu erwidern.«

»Seltsam; aber mit dem Fleisch hat es bei mir keine Gefahr«, sagte Georg bitter. »Denn da ich kein Geld habe, kann ich mir auch keines kaufen.«

»Je nun, er würde dir schon borgen bis Samstag, wo der Lohn ausbezahlt wird. Aber weh dir, wenn er dich einmal auf der Kreide hat! Nicht allein, daß er dir alles doppelt anrechnet, er zwingt dich auch, mit ihm zu zechen und Karten zu spielen, damit er dich ganz in die Klauen bekommt. Dann siehst du von dem Deinigen keinen Kreuzer mehr und bleibst ihm verfallen wie die arme Seele dem Teufel.«

Er hatte ängstlich zugehört. »Aber wie stell ich es an, bis Samstag zu leben«, sagte er kleinlaut. »Heut ist erst Mittwoch. [124] Wenn ich nichts von ihm auf Borg nehmen darf, so muß ich verhungern.«

Sie hatte sich schon früher am Saume ihres Rockes zu schaffen gemacht und einen kleinen Teil der Naht aufgetrennt. Jetzt zog sie ein zusammengewickeltes Stückchen Papier daraus hervor und entfaltete es langsam. Es war eines jener Banknotenfragmente, welche damals in Österreich unter dem Namen »Viertel« im Umlaufe waren und die mangelnde Scheidemünze ersetzen mußten. Sie reichte es Georg hin. »Nimm«, sagte sie; »das langt bis Samstag, wenn du recht sparsam bist. Du kannst es mir allwöchentlich kleinweise von deinem Lohn zurückgeben.«

Er blickte sprachlos auf das abgegriffene Zettelchen in ihrer Hand. Überraschung, Rührung und verschämte Freude malten sich wundersam in seinem Antlitz. Er war wie betäubt und regte sich nicht.

»Es ist mein einziges«, fuhr sie treuherzig fort. »Unser Ingenieur hat mir's geschenkt, als er im vorigen Monate hier war. Er hatte seinen Mantel in der nächsten Hütte liegen lassen, und den mußt' ich ihm holen. Aber du tust mir einen Gefallen, wenn du das Geld nimmst. Ich fürcht immer, ich könnt' es verlieren; derhalb hab' ich's auch in meinen Rock eingenäht. Wenn der Aufseher darum wüßte, hätt' er mir's längst abgefordert.« Und damit legte sie es in seine Hand. »Aber jetzt komm und laß uns zum Essen gehen. Vergiß nicht, was ich dir wegen des Fleisches gesagt habe, und begnüg dich mit dem übrigen. Das Mehl ist zwar auch meistens dumpfig; aber gestern haben sie frische Kartoffeln gebracht. Und abends kannst du dir ein Glas Branntwein gönnen; das wird dir gut tun.« Er stand auf und folgte ihr schweigend. Nach einigen Schritten blieb er stehen und blickte ihr tief in die sanften braunen Augen. »Wie soll ich dir's vergelten, Tertschka«, sprach er mit zitternder Stimme. »So gut und lieb wie du war noch kein Mensch mit mir.«

[125] »Ach was«, erwiderte sie; »man muß sich gegenseitig helfen in der Welt. Und dann – du bist ja auch gut. Das hab' ich dir gleich gestern angesehen, als du kamst.«

Sie hatten die Hütte erreicht. Drinnen umlagerten die andern, aus schadhaften Näpfen essend, bereits den Herd, an welchem der Aufseher stand, die Ärmel aufgekrempelt und mit vorgebundener Schürze. Er war eben im Begriffe, ein mächtiges Bratenstück anzuschneiden, dessen brenzlicher Duft den Eintreten den entgegenschlug und Georg einen unwillkürlichen Seufzer entlockte. Auch die übrigen blickten gierig nach dem fetttriefenden Fleische und nahmen der Reihe nach ein Stück davon in Empfang, das sie von der Faust weg verzehrten. Einige legten Geld dafür nieder; bei den meisten jedoch machte der Aufseher ein Zeichen in ein kleines Büchlein. Georg hatte von Tertschka einen Napf erhalten; damit näherte er sich nun dem Herde. Der Aufseher sah ihn befremdet an. Endlich entsann er sich. »Aha, der Knirps von gestern!« rief er. »Nun, hast du etwas gearbeitet?«

»Ja; Steine hab' ich zerschlagen.«

»Und nun hast du Lust, zu essen. Was willst du?«

»Ich möcht euch um Grütze und Kartoffeln bitten.«

Der Aufseher tat ihm das Verlangte in den Napf und nahm das Papier in Empfang, das ihm Georg hinreichte. »Du wirst doch auch ein Stück Braten wollen«, sagte er dann.

Das war nun eine gewaltige Versuchung für den Armen. Aber er gedachte der Warnung Tertschkas und erwiderte, während der andere schon das Messer ansetzte: »Nein, ich esse kein Fleisch.«

»Was? Bist du ein Knicker? Bei deinem verhungerten Aussehen solltest du froh sein, etwas Ordentliches in den Leib zu kriegen.«

»Er hat das Fieber; das fette Fleisch könnt' ihm übel bekommen«, sagte Tertschka hinzutretend; denn sie fühlte, daß es dieser barschen Aufdringlichkeit gegenüber die Willenskraft Georgs zu stützen galt.

[126] »Halt dein Maul!« schrie der Mann. »Wer hat dir gesagt, was ihm wohl oder übel bekommt? Misch dich nicht in Dinge, die dich nichts angehen!« Und zu Georg gewendet fuhr er fort: »Also willst du, oder willst du nicht?«

Diese Worte klangen wie ein Befehl, das lockende Gericht nicht zurückzuweisen. Aber der Schüchterne nahm all seinen Mut zusammen und erwiderte: »Sie hat recht, ich darf das Fleisch nicht essen.«

»Nun, so laß es sein!« schrie der andere giftig, indem er das Messer beiseite warf. »Bitten werd ich dich nicht.« Und da Georg vor ihm stehen blieb, fragte er: »Auf was wartest du noch?«

»Ihr sollt mir herausgeben«, antwortete jener stockend.

»Ja, ja, ja!« rief der Aufseher. »Glaubst du, ich werde die lumpigen paar Kreuzer behalten?« Und damit warf er ihm den Rest in Kupfermünze hin und drehte ihm verächtlich den Rücken. Georg, den Napf in der einen Hand, las mit der anderen mühsam die umherrollenden Geldstücke auf; dann setzte er sich in einen Winkel und begann sein karges Mahl zu verzehren, das mittlerweile schon ziemlich kalt geworden war. Er sah dabei, wie der Aufseher eine grünliche Flasche ergriff und einigen Verlangenden Branntwein in ein kleines Glas goß, welches, geleert und wieder gefüllt, von Mund zu Mund wanderte. Er aber vertröstete sich auf den Abend, den Worten Tertschkas gemäß, welche inzwischen, dürftig genug, ebenfalls Mittag gehalten hatte und nun auf einen Wink des Stiefvaters daran ging, das Kochgeschirr zu scheuern. Die andern lagerten sich draußen im Schatten der Hütte, um den Rest der Ruhestunde zu verschlafen. Der Aufseher jedoch nahm eine kleine Pfanne vom Herde, in welcher sich ein lecker zubereitetes Huhn befand, und stellte sie nebst Teller und Eßzeug und einer Flasche Wein auf den nahen Tisch. Als er sich eben anschicken wollte, behaglich zu schmausen, fiel sein Blick auf Georg, welcher, den leeren Napf zwischen den Knien, still überlegte, ob er nicht Tertschka [127] beim Scheuern helfen solle, wovon ihn aber eine geheime Scheu vor dem grimmigen Manne abhielt. »Was sitzt du da und gaffst?« schrie jetzt dieser. »Pack' dich hinaus zu den andern! Ich brauch' hier keinen Spion, der mir den Bissen vom Maul wegguckt!« Georg schrak empor, schlich aus der Hütte und legte sich draußen auf den sonnigen Boden nieder, da er im Schatten keinen Platz mehr fand. Nach einer Weile ließ der Aufseher wieder die Glocke zur Arbeit erschallen; er selbst begab sich in seinen Verschlag, um nun auch Siesta zu halten. Die Männer reckten und dehnten sich und folgten nur zögernd dem Rufe; einige drehten sich sogar auf die andere Seite und schliefen weiter. Georg aber schritt mit Tertschka wieder zum Steinbruch hinan, wo sie, bis der Abend sank, ihrer harten Pflicht oblagen. Und auch in den Tagen, die nun folgten, saßen sie nebeneinander. Denn die Kräfte Georgs hoben sich wirklich; die bitterste Not war ja vorüber, zudem schien der frische Hauch der Gebirgsluft heilend auf seinen fiebersiechen Körper zu wirken. Er schwang den Hammer schon ganz rüstig und erzählte dabei der armen Genossin allerlei aus seinen Militärjahren. Es waren freilich keine munteren Abenteuer und kecken Soldatenstreiche, was er vorbrachte; bei seinem scheuen und in sich selbst gedrückten Wesen hatte er ja nur die Schattenseiten eines Standes kennengelernt, der so manchem anderen den heitersten Genuß des Daseins eröffnet. So konnte er nur berichten von den Leiden der Rekrutenzeit, welche ihm die unerbittliche Korporalsfaust zur Hölle gemacht, von langem Schildwachstehen im Schnee, von beschwerlichen Märschen und nächtlichen Kampierungen im Regen und Sturm – und vor allem, wie er bei der Belagerung Venedigs mit seinem Regimente vor dem Fort Malghera gestanden und dort ihrer Hunderte in der faulen Sumpfluft vom Typhus und von der Cholera hinweggerafft wurden. Tertschka hörte still zu. Vieles faßte sie nur halb oder gar nicht; denn die Dinge, von denen er sprach, hatten ja stets so fernab von ihr gelegen, und vollends von einer Stadt, die mitten im Wasser erbaut [128] sei, konnte sie sich keinen Begriff machen; wie ihr denn auch bei dem Worte »Meer« nichts als eine undeutlich schimmernde Wolke vorschwebte. Aber sie fühlte heraus, wie schlecht es Georg all seine Tage ergangen sei, und erzählte hinwieder auch, was ihr Trübes und Trauriges aus ihrem trüben, einförmigen Dasein in der Erinnerung geblieben war. So trösteten sie sich unbewußt gegenseitig, und es tat ihnen wohl, daß sie jeden Morgen, die Hämmer auf der Schulter, zum Steinbruch hinanstiegen und die langen sonnigen Tage nebeneinander verbringen konnten, wobei sie oft den Ruf der Glocke überhörten oder darob erschraken, weil er sie aus ihrer wehmütig trauten Einsamkeit in die wüste Gemeinschaft der Hütte zurücktrieb. –

Aber nicht lange sollte die Zeit dauern, wo sich die beiden in lang erduldeter Not und still entsagendem Kummer, wie andere in Lust und Fröhlichkeit und drängender Lebensfülle, immer inniger zusammenfanden. Sei es, daß der Aufseher durch die andern Arbeiter von ihrem Einvernehmen übelwollende Kunde erhalten, sei es, daß er es mit dem Instinkte der Bosheit von selbst erraten hatte – genug: er stand eines Tages hinter ihnen. »Was hockt ihr da beieinander wie die Kröten?« schrie er, während sie erschrocken aufsahen. »Marsch, du Hungerleider, zu deinen Kameraden, wo du hingehörst!« Und damit streckte er gebieterisch die Hand gegen den untern Teil des Steinbruches aus. »Und du, heimtückisches Aas«, wandte er sich zu Tertschka, während Georg betroffen und sprachlos dem Befehl Folge leistete, »mir scheint, du hältst es mit dem elenden Krüppel da? Wart', das will ich dir austreiben! Wenn ich euch noch einmal beisammen seh', so ist der Kerl die längste Zeit hier gewesen, und du erblickst mir kein Tageslicht mehr!« –

So wurden sie rauh und plötzlich auseinandergerissen. Georg mußte in den nächsten Tagen unten am Bahngeleise arbeiten, und wenn sie um die Mittagsstunde oder nach Sonnenuntergang in der Hütte zusammentrafen, so wagten sie kaum, sich anzusehen, geschweige nur ein Wort miteinander zu reden. [129] Denn der Aufseher behielt sie scharf im Auge, und auch die andern schienen mit stumpfer Schadenfreude über ihnen zu wachen.

Eines Abends jedoch – es war Samstag – hatte sich der Aufseher mit einigen Zechgenossen in die Schenke einer nahen Ortschaft begeben, indes die Zurückgebliebenen, wie gewöhnlich, den eben erhaltenen Wochenlohn an ein Spiel Karten wagten, dessen beschmutzte Blätter in ihren Händen die Runde machten. Während es dabei immer wüster und lärmender herging, faßte Georg Mut, sich verstohlen Tertschka zu nähern, die in ihrem Schlafwinkel auf einer alten Kiste saß, das Haupt auf die Hände gestützt. »Tertschka«, sagte er leise, indem er ein kleines ledernes Beutelchen aus der Tasche zog, »hier ist das letzte von dem Gelde, das ich dir schuldig bin.« Und dabei legte er sachte einige Kreuzer in ihren Schoß.

»Ach, lass' es«, erwiderte sie; »du wirst es noch brauchen.«

»Wozu sollt' ich's brauchen?« fuhr er niedergeschlagen fort. »Ich habe keine Freude mehr auf der Welt, seit ich nicht mehr mit dir arbeiten kann.«

»Ich auch nicht«, sagte sie leise.

»Weshalb er uns nur auseinandergejagt hat?« begann er nach einer Weile. »Ihm könnt' es doch eins sein, ob wir beisammen sitzen oder nicht; wenn wir nur unser Tagewerk ordentlich verrichten.«

Sie blickte vor sich hin. »Er ist ein böser Mensch«, sagte sie endlich, »der nicht sehen kann, daß es einem anderen wohl ist, und jeden gern um sein Liebstes bringt.«

Tertschka war bei diesen Worten aufgestanden, hatte den Deckel der Kiste zurückgeschlagen und holte jetzt langsam eine wollene Jacke, einen Rock aus Kattun und ein Paar schwere Schuhe hervor. Dann noch ein verschossenes rotes Halstuch und einen alten Rosenkranz mit einem Kreuzlein von Messing daran, welche Gegenstände sie samt und sonders auf dem wieder herabgelassenen Deckel der Kiste sorglich zurechtlegte.

»Was tust du denn da?« fragte Georg, der ihr zusah.

[130] »Ich will morgen nach Schottwien hinunter in die Kirche gehen«, erwiderte sie. »Er kann's freilich nicht leiden, denn er kennt keinen Herrgott und hat schon die Mutter immer gescholten, weil sie sonntags niemals die Messe versäumen wollte und mich immer mit sich nahm. Er weiß mir immer etwas in den Weg zu legen, und ich bin schon zwei Monate nicht mehr von der Hütte weggekommen. Aber morgen geh' ich; er soll sich anstellen, wie er will. Ich mag nicht das Beten ganz verlernen unter dem Volk, das nur ans Trinken und Kartenspielen denkt.«

Georg sah vor sich hin. »Ich bin auch schon lang in keiner Kirche gewesen«, sagte er. »Wie schön wär' es, wenn ich morgen mit dir gehen könnte.«

»Ja, es wär' schön; aber es kann nicht sein.«

»Je nun«, fuhr er fort, »der Aufseher müßt' es gerade nicht merken. Wir gingen ein jedes für sich allein fort, und wir fänden uns erst unten wo zusammen.«

Sie dachte nach. »Du hast recht; so wär' es möglich. Aber du müßtest lange vor mir aufbrechen. Gleich links von der Hütte führt ein schmaler, versteckter Steig ins Tal hinab; unten steht ein hölzernes Kreuz – dort könntest du mich erwarten. Aber jetzt geh«, setzte sie ängstlich drängend hinzu, »damit die andern nicht merken, daß wir miteinander gesprochen haben.«

Und so ging er und suchte das harte Lager auf, wo er mitten unter dem lauten Gezänk der Spielenden in froher Erwartung des kommenden Tages sanft einschlief. –

Am andern Morgen funkelte die Welt in hellem Sonnenglanze, als Georg den steilen Fußpfad hinabstieg, welchen ihm Tertschka bezeichnet hatte. Er lugte dabei nach dem Kreuz im Tale aus und gewahrte bald, wie es morsch und windschief aus jungen Fichtenschößlingen hervorsah. Nun hatte er es erreicht und setzte sich, da es noch früh war, auf den bemoosten Steinblock, der gleichsam als Betschemel davor lag. Tiefes, sonntägliches Schweigen umgab ihn; selbst die Bienen über den [131] Gentianen, die hier in reicher Zahl ihre dunkelblauen Kelche erschlossen, schienen nicht zu summen. Georg kam ein unwillkürliches Lauschen an, und wie er so recht in die Stille hineinhorchte, da ward es ihm, als vernehm' er ein leises, feierliches Gewoge von Glockentönen in der Luft. Nach und nach aber stellte sich die Ungeduld des Erwartens ein. Er erhob sich, schritt auf und nieder und pflückte einige Gentianen, auch weiße und gelbe Blumen, die hier und dort wucherten. »Die will ich der Tertschka geben, wenn sie kommt«, sagte er zu sich selbst, indem er auf den unbeabsichtigten Strauß sah, den er in der Hand hielt. Dann brach er noch ein langes Farrenkraut ab und steckte es an seine Mütze, wo es sich, hin und her schwankend, gleich einer Schwungfeder ausnahm. Endlich gewahrte er auf der Höhe ein flatterndes Gewand, und bald war Tertschka bei ihm, welcher er bis zur Hälfte des Steiges hinauf entgegengeeilt war. »Da bin ich«, sagte sie rasch atmend. »Er hat mich diesmal ohne viel Worte gehen lassen.« Georg stand vor ihr und sah sie an. Sie hatte heute ihr Kopftuch abgelegt, trug das schlichte Haar frei gescheitelt und ihr Antlitz wurde von dem verblichenen Rot des Halstuches sanft umleuchtet. Auch die dunkle Jacke, die freilich viel zu weit war, und der helle Kattunrock standen ihr so übel nicht. »Wie schön du heut aussiehst!« sagte er endlich. Sie schlug erglühend die Augen nieder. »Ich hab' das alles noch von meiner seligen Mutter«, erwiderte sie, indem sie den bauschenden Rock zurechtdrückte. »Ich trag es so selten, und da hält es sich.« »Da, hast du Blumen«, fuhr Georg fort; »ich hab' sie unterdessen gepflückt.« Sie nahm den Strauß, den er früher halb hinter sich verborgen hatte, und wollte ihn vor die Brust stecken. Aber er war zu groß, und sie behielt ihn in der Hand, um welche sie den Rosenkranz gewunden hatte. So schritten die beiden durch die grünen Gefilde und an schmalen Äckern vorüber, wo das Korn bereits geschnitten und aufgehäuft lag, bis sie den Markt Schottwien erreicht hatten. Dort trafen sie alles in Bewegung. Denn es war eben Kirchtag, und die [132] lange breite Gasse, aus welcher der Ort besteht, wimmelte von festlich gekleideten Menschen und leichtem Fuhrwerk. Vor der Kirche aber hatte man Bretterbuden aufgeschlagen, und dort war eine Menge der verschiedenartigsten Dinge bunt nebeneinander zum Verkauf ausgelegt. Tücher, Tabakspfeifen, Messer, Glasperlen und Wachskorallen; allerlei Kochgeschirr, Pfefferkuchen und Spielzeug für Kinder. Sie blieben eine Weile bewundernd vor all diesen Herrlichkeiten stehen, und Georg bekam Lust, eine Pfeife zu kaufen. Als er noch Soldat war, hatte er geraucht; später, in seinem Elend, hatte er's aufgeben müssen, nun aber, da er sein Brot erwarb und weder trank noch spielte wie die andern, konnte er sich diesen Genuß wohl wieder gönnen. Er teilte seine Absicht Tertschka mit, und diese sprach ihm zu, er möge nur handeleins werden; sie selbst würde unterdessen langsam vorausgehen. »In der Ortskirche sind zu viele Menschen«, sagte sie. »Eine halbe Wegstunde außerhalb des Marktes liegt eine einsame Kirche; in der bin ich schon einmal gewesen und will auch heute wieder hineingehen.« Sie meinte damit »Maria Schutz« am Fuße des Sonnwendsteins. Georg drängte sich durch eine Gruppe von Gaffern und Feilschenden und er stand eine hübsche Porzellanpfeife mit bunten Troddeln. Dabei fiel ihm ein funkelnder Schmuck von gelben Glasperlen in die Augen, und er dachte, wie schön sich der am Halse Tertschkas ausnehmen würde. Da der Preis, welchen der Händler forderte, nicht allzu hoch war, so ließ er sich das Geschmeide in Papier wickeln und steckte es zu sich. Mit den paar Kreuzern, die er auf eine Guldennote herausbekam, kaufte er in der anstoßenden Bude ein großes Herz aus Pfefferkuchen; dann sprang er noch um ein bißchen Tabak in den nächsten Kramladen und eilte mit seinen Schätzen der Vorangegangenen nach. Er zeigte ihr zuerst die Pfeife, die ihr wohl gefiel. »Das ist für dich«, sagte er hierauf und gab ihr das Herz. Es war mit einem farbigen Bildchen geschmückt, das ein zweites kleines Herz vorstellte, von einem Pfeile durchbohrt; ein Blumengewinde [133] faßte das Ganze ein. Sie betrachtete es still und schob es mit dankendem Lächeln zwischen den Strauß und den Rosenkranz ein. »Ich habe noch etwas für dich gekauft«, fuhr er nach einer Weile fort, indem er das kleine Päckchen langsam aus der Tasche zog und die Perlen durch die geöffnete Papierhülle blitzen ließ. Sie warf einen Blick darauf. »Wie kannst du nur soviel Geld für mich ausgeben!« sagte sie; aber ihre Miene strahlte von froher Überraschung und reinster Freude. »Für dich möcht ich alles hingeben«, erwiderte er innig. »Aber nimm es gleich um; es wird dir gut stehen!« Sie reichte ihm, was sie in der Hand hatte, und legte dann den Schmuck um ihren Hals. Da er aber etwas eng und rückwärts festzumachen war, so konnte sie damit nicht recht zustande kommen. »Laß das mich tun!« rief er, gab ihr wieder alles zurück, drückte, nachdem sie sich umgewendet, ihre braunen Haarflechten sanft empor und schob die beiden Teile einer kleinen Schließe ineinander. »So!« sagte er, indem er mit zufrieden prüfendem Blick vor sie hintrat. Dann gingen sie fröhlich weiter und hatten bald die Kirche erreicht, die aus schattigen Wipfeln hervorsah. Sie trafen nur sehr wenige Beter an; ein alter Priester mit grämlichen Gesichtszügen war eben zum Altar getreten und begann gleichgültig die Messe zu lesen. Tertschka kniete in der letzten Reihe der Bänke nieder, legte den Strauß und das Herz vor sich hin und faltete die Hände. Georg blieb hinter ihr stehen. Es wurde ihm ganz eigentümlich zumute in dem stillen Raume. Durch die hohen schmalen Bogenfenster fiel das Licht sanft und mild herein; er hörte das Gemurmel des Priesters, das Klingen des Ministrantenglöckleins, und Andacht durchschauerte ihn. Aber beten konnte er nicht: er blickte nur unverwandt auf Tertschka, die vor ihm kniete und mit gesenktem Haupte leicht die Lippen bewegte. Die Messe war bald zu Ende; der Priester gab den Segen, und die Anwesenden entfernten sich. Nur Tertschka verweilte noch. Endlich bekreuzigte sie sich, stand auf und schritt, während Georg folgte, nach der Tür, wo der Küster bereits [134] ungeduldig die Schlüssel klirren ließ. Draußen leuchtete der goldene Vormittag, und nicht weit von der Kirche entfernt streckte ein stattliches Wirtshaus einen Busch von Tannenreisern gar einladend aus. »Willst du dich schon auf den Heimweg machen?« sagte Georg, da Tertschka wieder schweigend den Weg nach dem Markte einschlug.

»Wohin sollten wir denn?« erwiderte sie und sah empor.

»Dort drüben ist ein Wirtshaus. Ich glaube, wir könnten uns heut etwas zugute tun, Tertschka. Wer weiß, ob wir wieder einmal miteinander gehen.«

»Nun, wenn du Lust hast«, sagte sie und blieb stehen. »Der Aufseher wird freilich schelten, wenn ich so spät zurückkomme. Aber du hast recht: wer weiß, ob wir wieder einmal miteinander gehen.«

Sie schritten also auf das Haus zu, vor welchem sich ein sanfter Hügel erhob. Dort wurzelte eine alte, riesige Buche und breitete ihre Äste über einer Anzahl roh behauener Tische und Bänke aus. Aber niemand saß daran. Es war ganz still und einsam hier; nur drinnen schien sich geschäftiges Leben zu regen. Endlich sah der Wirt aus der Tür, in schneeweißen Hemdärmeln, ein grünes Samtmützchen auf dem Kopfe. Er trat, die ungewohnten Gäste von der Seite anblickend, heraus und brachte auf das Begehren Georgs Wein in einem großen Henkelglase, Brot und Fleisch. Das setzte er ihnen auf den Tisch, an welchem sie sich niedergelassen hatten, verlangte gleich die Bezahlung und eilte wieder ins Haus zurück. Georg schob Tertschka den Teller zu, und diese zerlegte nun das Fleisch in kleine Stücke. Dann brachen sie das Brot und begannen gemeinschaftlich zu essen, wobei sich Tertschka, da der Wirt nur für einen gesorgt hatte, des Messers als Gabel bediente. Auch den Wein genossen sie zusammen, nacheinander das Glas zum Munde führend. Nach beendetem Mahle brannte Georg seine Pfeife an und sah wohlgemut dem Rauche nach, der sich leicht und bläulich in die sonnige Luft hineinkräuselte. »Schau, Tertschka«, sagte [135] er, indem er seine Hand auf die ihre legte, »das hätten wir uns gestern früh nicht träumen lassen, daß wir heute so fröhlich beieinandersitzen würden.«

»Ja«, erwiderte sie, »ich hätt' es nicht verhofft.«

Inzwischen war der Mittag herangerückt, und mit einemmal ertönten in der Ferne lustige Klänge von Hörnern und Klarinetten. Gleich darauf stürzte der Wirt aus der Tür. »Die Hochzeiter sind da!« rief er dem nachfolgenden Gesinde zu. »Sputet euch! die Tische sollten schon gedeckt sein.« Der Befehl wurde rasch ausgeführt, und es war auch hohe Zeit; denn schon kam, von der lärmenden Ortsjugend umsprungen, ein stattlicher Zug in Sicht. Spielleute voran; dann ein jugendliches Brautpaar; hintendrein die ganze Sippschaft, zahlreiche Hochzeitsgäste und ein Rudel Neugieriger. Im Nu waren die Tische besetzt und umlagert, und nun ging es an ein Schmausen, Trinken und Jubilieren, und die Musikanten, die auch Streichinstrumente mitgebracht hatten, fiedelten und bliesen dazu, daß ihnen fast der Odem ausging. Es waren seltsam wechselnde Empfindungen, die unser Paar inmitten dieser lauten Lustbarkeit überkamen. Zuerst hatten sie erstaunt in das bunte Gewirr hineingeblickt; dann aber konnte Tertschka das Auge nicht mehr von der Braut abwenden. Die sah auch gar schön aus und mußte eine reiche Bauerstochter gewesen sein. Sie trug ein knappes Mieder von schwarzem Samt, das ihren schlanken Wuchs deutlich hervortreten ließ; ein Kettlein von eitel Gold war fünf- oder sechsmal um ihren Hals geschlungen, und das hohe Myrtenkränzlein in dem blonden, hinten in zwei langen Zöpfen herabfallenden Haar stand ihr zu dem etwas stolzen und strengen Gesichte wie eine kleine Krone. Auch der Bräutigam war ein stattlicher Junge, dem gegen Bauernsitte ein Bärtchen an der Oberlippe dunkelte und dessen schmuckes, mit Gemsbart und Feder gezierter Jägerhut wohl imstande war, die Bewunderung Georgs auf sich zu lenken. Nach und nach aber beschlich die beiden ein banges, drückendes Gefühl der Verlassenheit unter den vielen [136] Menschen, davon gar manche sie mit scheelen Blicken musterten, als wollten sie fragen: »Was haben die hier zu schaffen?«

Endlich wandte sich Tertschka an Georg. »Komm, laß uns fortgehen. Wir taugen nicht unter die Leute. Wir wollen uns drüben am Waldrand niedersetzen. Dort können wir alles von weitem mit ansehen und der Musik zuhören.«

Er war es zufrieden, und so schritten sie dem dunklen Fichtenwald entgegen, dessen Saum die helle Wiese begrenzte. Auf einem kleinen Abhange ließen sie sich nieder und lauschten den Klängen, die, lieblich gedämpft, zu ihnen herüberzogen. Mit einemmal ward es still; sie sahen, wie drüben alles von den Tischen aufstand und einen Halbkreis bildete. Gleich darauf begannen wieder die Geigen zu schwirren.

»Die Brautleute tanzen!« rief Tertschka. Und wirklich war es so. In gehaltenem Tempo und mit zierlichen Wendungen bewegten sich die hohen schlanken Gestalten auf dem grünen Plan. »Wie lustig sie sich drehn!« fuhr Tertschka fort, indem sie sich unbewußt an die Schulter Georgs lehnte. »Schau nur!«

»Ja, es sind glückliche Leute«, sprach er, ohne hinzusehen, wie im Traum. – »Wenn wir nur auch einmal Hochzeit haben könnten.«

»Ach geh«, sagte sie leise und langte nach einer roten Blume, die zu ihren Füßen blühte.

»Resi«, fuhr er fort – es war das erstemal, daß er sie so nannte – und legte seinen Arm scheu und bebend um ihren Leib, »Resi – ich hab' dich so lieb!«

Sie erwiderte nichts; aber in dem Blick, den sie zu ihm aufschlug, lag es für ihn wie ein wogendes Meer von Glück. Und als jetzt drüben die Geigen lauter jubelten und das Brautpaar, durch allseitiges Rufen und Händeklatschen angefeuert, sich im stürmischen Wirbel dahinschwang, da zog er sie fest ans Herz, und ihre Lippen schlossen sich zu einem langen, tiefen Kusse zusammen. –

3.

[137] III.

Soll ich, der ich diese einfache Geschichte wahrheitsgetreu zu erzählen mir vorgesetzt, nun auch die Seligkeit zu schildern versuchen, welche die beiden von jetzt an überkommen hatte? Ich glaube, daß ich darauf verzichten darf; und zwar nicht bloß deshalb, weil keine Worte zu dem Gefühl hinanreichen, das ihnen mit einem Male den vollen Lichtglanz, den überschwenglichen Reichtum des Daseins erschlossen hatte, sondern auch, weil wohl jeder den Zauber der Liebe an sich selbst erfahren hat und so imstande ist, sich das Glück Georgs und Tertschkas nach seinem eigenen Herzen auszumalen. Freilich mußten sie dieses Glück scheu und ängstlich geheimhalten wie ein Verbrechen; aber es lebte und blühte desto schöner in der Tiefe ihres Innern fort, und bei der angebotenen und lang geübten Begnügsamkeit ihres Wesens waren sie zufrieden, wenn sie sich des Morgens, Mittags und Abends verstohlen entgegenlächeln oder zu einem flüchtigen Händedruck aneinander vorüberstreifen konnten. Auch schien es, als ob der Aufseher immer weniger auf sie achte, daher sich ihre Besorgnis, er könnte vielleicht doch von ihrem gemeinsamen Gange nach Schottwien Kenntnis oder Vermutung haben, mehr und mehr verlor. Ja, Georg wagte sich sogar, wenn er, um Schotter zu holen, mit seinem Schiebkarren nach dem Steinbruch mußte, manchmal rasch zu Tertschka hinauf, wo dann den Liebenden in einer kurzen Umarmung die Welt versank. In einem solchen Augenblick jedoch erschallten plötzlich nahende Tritte, und als sie erschrocken auseinanderfuhren, sahen sie den Aufseher, der mit hohn- und wutverzerrtem Antlitz hinter ihnen stand. »Hab' ich euch, ihr Racker!« schrie er. »So befolgt ihr mein Gebot und meint, ich merke euer Treiben nicht! Ich wußte recht gut, daß ihr letzthin den ganzen Sonntag miteinander herumgezogen seid; aber ich wollt' euch auf frischer Tat ertappen, und jetzt sollt ihr mir's büßen!« Und damit ergriff er Georg [138] rückwärts beim Halse und schleuderte ihn ein paar Schritte weit zu Boden, daß Sand und Geröll aufstob. »Fahr' deinen Schotter hinab, du Galgenstrick, und dann schnürst du deinen Bündel und gehst! Wenn du mir noch einmal unter die Augen kommst, so schlag ich dich krumm und lahm!« Bei diesen Worten stieß er den mühsam sich Aufrichtenden zu dem Schiebkarren und trieb ihn mit drohend geschwungener Faust den Abhang hinunter. Hierauf kehrte er zu Tertschka zurück und betrachtete sie lange mit einem bösen, grausamen Blicke. »Mit dir«, sagte er endlich, »werd' ich später reden.« Und er ging, unverständliche Worte in sich hinein murmelnd.

Betäubt, seiner Sinne beraubt, war Georg bei seinen Genossen angelangt. Er hatte mechanisch den Schiebekarren ausgeleert; dann setzte er sich auf einen Stein und blickte gedankenlos ins Weite hinaus. Der Himmel war am Morgen schon leicht umwölkt gewesen; nun hatte sich ein trüber, grauer Tag zusammengezogen. Herbstlicher Windhauch strich leise durch die Wipfel der Tannen, und ein feiner, kalter Regen fiel auf die Erde. Aber Georg empfand die Tropfen nicht, die scharf in sein Antlitz schlugen. Feurige Funken tanzten vor seinen Augen, und ein heißer Schauer durchrieselte die Leere seiner Brust. Nach und nach jedoch drängte sich das Bewußtsein der erlittenen Schmach immer mächtiger in ihm hervor und mischte sich mit dem brennenden Gefühl des Unrechtes, das man an ihm und Tertschka zu begehen im Begriffe stand. Fortjagen wollte man ihn, und sie auseinanderreißen, die so tief und innig verbunden waren? Wer durfte das? Niemand! Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr empörte sich seine sonst so verschüchterte und duldende Seele, und eine hehre Kraft, ein heiliger Mut lohten darin auf, jeder Macht der Erde entgegenzutreten, die sich solcher Gewalttat unterfinge. Seine unscheinbaren Züge nahmen allmählich den Ausdruck fester Entschlossenheit an, und seine fahlen Augen funkelten wundersam. Endlich erhob er sich und schritt, während [139] ihm die andern verwundert nachsahen, zu Tertschka empor. Die saß da und weinte.

»Weine nicht, Resi!« sagte er, und seine Stimme klang ernst und tief.

Sie antwortete nicht.

Er hob ihr sanft das Haupt empor. Sie schluchzte noch lauter.

»Weine nicht«, wiederholte er. »Es hat alles so kommen müssen. Aber es ist gut; wir wissen nun, was wir zu tun haben.«

Sie sah vor sich hin.

»Er hat mich fortgejagt; ich muß gehen – und du gehst mit mir.«

Es war, als hörte sie ihn nicht.

»Unten in Krain bauen sie die Eisenbahn weiter«, fuhr er fort. »Dort finden wir Arbeit.«

Sie schüttelte langsam das Haupt.

»Du willst nicht, Resi? Und sieh, noch eins. Ich hab' einmal gehört, daß ausgediente Soldaten, die im Krieg waren, Bahnwächter werden können. Ich laß mir ein Gesuch schreiben; vielleicht glückt es mir, und wir bekommen dann eines von den kleinen Häusern, wie sie unten am Geleise stehen, und können darin leben als Mann und Frau. – Und wenn es damit nichts ist«, setzte er rasch hinzu, da sie noch immer kein Zeichen der Beistimmung gab, sondern nur heftiger weinte, »wenn es damit nichts ist, so muß es auch recht sein. Wir wollen ein paar Jahre fleißig arbeiten und sparen, soviel wir können. – Aber so sprich doch ein Wort, Resi!«

»Ach«, jammerte sie, »was du da sagst, ist alles schön und gut; aber du bedenkst eins nicht, daß mich der Aufseher nicht fortläßt.«

»Er muß dich fortlassen. Du bist kein Kind mehr. Auch hat er sonst nichts mit dir zu schaffen. Du bist eine Arbeiterin wie jede andere und kannst gehen, wann und wohin du willst.«

[140] »Glaub' mir, er läßt mich nicht gehen – und mitdir schon gar nicht! – Ich hab' dir's bis jetzt verschwiegen«, fuhr sie nach einer Pause fort, während sich ihr Antlitz mit dunkler Röte überzog, »aber nun muß ich dir's sagen. Schon zur Zeit, da die Mutter noch lebte, wollte er oft zärtlich mit mir tun; aber ich wich ihm aus und drohte, ich würd' es der Mutter klagen. Im vorigen Sommer jedoch kam er eines Abends allein aus dem Wirtshaus zurück und fing wieder an und sagte, er würde mich heiraten. Und da ich ihm kein Gehör gab, wollt' er Gewalt brauchen. Ich aber hab' mich seiner erwehrt und hab' ihm gesagt, was ich von ihm denke. Seitdem haßt er mich bis aufs Blut und rächt sich, wie er kann.«

Georg war bis in die Lippen hinein bleich geworden, und seine Brust rang mühsam nach Atem. »Der Elende!« stieß er endlich hervor. »Und bei dem solltest du bleiben? Jetzt, da ich das weiß, noch weniger! Du ziehst mit mir, und er soll sehen, wie er's verhindern kann.«

»Trau' ihm nicht«, rief sie ängstlich. »Er ist imstande, einen zu morden, der schwächer ist als er.«

»Ich fürcht' ihn nicht«, erwiderte Georg, und seine kleine Gestalt reckte sich scheinbar weit über ihr Maß hinaus. »Er hat mich früher von hinten angefallen, und ich war nicht darauf gefaßt. Aber er soll mir noch einmal kommen!«

»Jesus!« klagte sie und rang die Hände; »ich könnt' es nicht sehen, daß ihr aneinandergerietet.«

»Nun, es wird so arg nicht werden«, versetzte er, seine Erregung niederkämpfend. »Wir wollen zu ihm – jetzt gleich – und ihm ruhig und gemessen unseren Entschluß mitteilen. Du wirst sehen, daß er nichts erwidert. Denn so schlecht, so niederträchtig er auch ist, erkennen muß er, daß er kein Recht und keine Macht hat, dich zu halten.«

Sie rang noch immer verzweifelt die Hände.

»Fasse Mut, Resi«, sagte er ernst. »Willst du mich allein ziehen lassen?«

[141] Sie flog ihm an die Brust und klammerte sich an seinem Halse fest.

»Nun also«, fuhr er fort und strich ihr sanft das Haar aus der Stirn, »gehen wir.« Und sie schritten langsam auf die Hütte zu: sie die Brust voll Bangen und Zagen vor den Dingen, die sie kommen sah, er unerschütterliche Kraft und Zuversicht im Herzen.

Als sie über die Schwelle traten, saß der Aufseher mit einem Messer in der Hand am Tische und schälte Kartoffeln. Er blickte etwas betroffen auf das Paar; aber seine Überraschung schlug allsogleich in Zorn und Wut um. »Was wollt ihr zwei da?« schrie er, indem er sich halb erhob und den Griff des Messers wie kampfbereit auf den Tisch stützte.

»Ihr habt mir die Arbeit gekündigt«, erwiderte Georg in ruhigem Tone. »Ich komme, um meine Sachen zu holen und Euch zu sagen, daß die Tertschka mit mir geht.«

Der Aufseher machte eine Bewegung, als wollte er auf ihn zustürzen; jedoch fühlte er sich durch die ernste, sichere Miene, mit welcher Georg vor ihm stand, wider Willen eingeschüchtert.

»Darauf geb' ich gar keine Antwort«, knirschte er endlich.

»Ihr braucht auch keine zu geben. Tertschka ist frei und ledig und kann tun, was sie will.«

Der Aufseher keuchte.

»Nimm, was dir gehört, Resi«, fuhr Georg fort, indem er sich wandte, um seinen Quersack zu suchen, »und dann komm«.

In der Brust des anderen arbeitete es heftig. Er wußte augenscheinlich nicht, was er beginnen sollte. Aber in dieser Unentschlossenheit warf er einen Blick nach Tertschka, welche ihre Seelenangst nicht verbergen konnte. Und als sie jetzt auf die Kiste zuschritt, sprang er auf sie los und stieß die Entsetzte in den Keller hinunter, dessen Tür halb offen stand. Dann schloß er diese ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. »So, das ist meine Antwort«, stammelte er, vor Aufregung am [142] ganzen Leibe zitternd, während er sich wieder am Tische niederließ und mit erzwungener Ruhe seine Beschäftigung fortzusetzen begann.

Das war so rasch, so unvermutet geschehen, daß es Georg nicht hatte verhindern können. Er faßte sich jedoch allsogleich, hängte ohne jedes Zeichen von Eile seinen Sack über die Schulter und näherte sich mit langsamen Schritten dem Aufseher. »Laßt die Tertschka heraus«, sagte er ruhig.

Der Aufseher schälte Kartoffeln.

»Laßt die Tertschka heraus.«

Die Hände des Aufsehers zitterten. Und als Georg zum dritten Male, jedoch eindringlicher, seine Forderung wiederholte, sprang er auf und ballte die Faust. »Geh jetzt – geh!« rief er, »sonst – –«

»Was – sonst?« erwiderte Georg gelassen. »Ich fürcht Euch nicht, wenn Ihr auch stärker seid. Vorhin hattet Ihr leichtes Spiel mit mir, denn ich war wehrlos, wie jetzt die Tertschka. Aber Aug' in Aug' steh ich Euch!« Das Antlitz des Aufsehers war gräßlich anzusehen. Haß, Rachsucht und lähmende Feigheit wogten darin auf und nieder. Er rang nach Luft und seine Hände griffen unsicher vor sich hin. Georg gewahrte das alles, und seine Brust stählte sich mehr und mehr. »Drum rat ich Euch«, fuhr er fort, »gebt gutwillig heraus, was mein ist; sonst nehm ich mir's mit Gewalt.«

Während dieser Worte hatten sich einige Männer in der Hütte eingefunden; denn die Mittagsstunde nahte heran. Ihre Anwesenheit wirkte stachelnd auf den Aufseher. Er fühlte sich sicherer, und seine Feigheit, die er selbst mit Wut empfand, bäumte sich aus Furcht, von anderen bemerkt zu werden, zu frecher Verwegenheit empor. »Habt ihr gehört?« rief er, gegen die Männer gewendet, »der Kerl wagt es, mir zu drohen, weil ich das schlechte Weibsbild, die Tertschka, eingesperrt hab, daß sie nicht mit ihm davonläuft.«

»Beschimpft uns nicht!« rief Georg, dessen Blut unwillkürlich [143] höher aufwallte. »Wir sind zwei ehrliche Leute. Ihr habt kein Recht, die Tertschka einzusperren, wenn sie auch schlecht wär'.«

»Was? kein Recht hätt' ich?! Sie ist mein Stiefkind und bei mir aufgewachsen!«

»Leider Gottes! Mehr sag ich nicht; ich will Euch schonen vor diesen da.« Und dabei deutete er nach den Männern, die mit stumpfem Behagen dem wachsenden Streite zusahen.

»Hört ihr den Hund? Schonen will er mich! Packt ihn und werft ihn hinaus!«

Die Männer blickten einander an; aber sie regten sich nicht. Hinter der Kellertür war lautes Ächzen vernehmbar.

»Seht Ihr?« fuhr Georg in steigender Erregung fort; »es fällt keinem ein, mich anzurühren. Drum sag ich Euch zum letztenmal: gebt die Tertschka frei – oder ich nehm den Hammer dort. Zwei Schläge damit, und die Tür geht in Trümmer!«

»Was? Die Tür willst du mir einschlagen? Du Räuber! Du Dieb! Hinaus! Sonst laß ich die Gendarmen holen!«

»Laßt sie holen« rief Georg flammend. »Dann wird sich zeigen, wer im Recht ist! Dann wird sich zeigen, warum Ihr die Tertschka eingeschlossen habt! Dann wird zutage kommen, wie Ihr sie von klein auf mißhandelt, wie Ihr der Armen schändlich nachgestellt und ihr den sauer verdienten Taglohn und das Erbteil der Mutter, deren Tod Euch auf dem Gewissen brennt, vorenthalten habt! Dann wird zutage kommen, wie Ihr hier oben mit den Schwachen und Wehrlosen umgeht und wie Ihr Euch mästet mit dem Schweiß und Blut der Arbeiter, die man Euch anvertraut!« – Georg hielt unwillkürlich inne. Die Wucht und die Wahrheit dieser Anklagen hatten bei dem Aufseher das Maß zu Rande und ihn selbst um alle Besinnung gebracht. Sein Antlitz war bläulich fahl geworden; aufbrüllend wie ein verwundeter Stier, schäumenden Mundes, die Augen weit vorgequollen – so [144] stürzte er sich mit hochgeschwungenem Messer auf Georg. Dieser aber hatte den Hammer erfaßt und schwang ihn gegen den Angreifer. Ein dumpfer Schlag erdröhnte; der Aufseher, vor die Brust getroffen, wankte – und taumelte, während sich ein Schwall dunklen Blutes aus seinem Munde ergoß, röchelnd zu Boden.

Einen Augenblick herrschte lautlose Stille; stummes, ödes Grausen hatte die Anwesenden ergriffen. Georg aber stand da, wie David an der Leiche Goliaths. »Resi! Resi!« rief er jetzt, indem er mit raschen Schlägen das Türschloß aufsprengte, »komm heraus, Resi! Du bist frei; unser Peiniger liegt am Boden!«

»Jesus Maria!« schrie sie, hervoreilend, und schlug mit einem Blick auf den Getroffenen die Hände zusammen. »Er ist tot! Georg! Georg! Was hast du getan! Jetzt wird man dich fortführen und als Mörder vors Gericht stellen!«

»Das soll man! Ich werde Red' und Antwort geben. Die dort müssen es bezeugen, daß er mir mit dem Messer ans Leben wollte. – Geht hinunter«, wandte er sich an die Männer, »und meldet, daß der Arbeiter Georg Huber den Aufseher erschlagen hat.«

Es dauerte lange, bis sich einer dazu entschloß. Georg aber setzte sich mit Tertschka draußen vor der Hütte nieder. Sie weinte in einem fort; er, noch immer gehoben von dem Vollgefühle seiner Tat, die ihm ein vollstrecktes Richteramt erschien, streichelte ihr von Zeit zu Zeit sanft tröstend die Wangen. Endlich erschienen zwei Herren von der Bauleitung und ein Gendarm. Sie ließen sich alles erzählen und sprachen dann eifrig miteinander. »Eingeliefert muß er werden«, sagte der Gendarm. »Er ist Urlauber und gehört vor das Militärgericht in Wiener Neustadt.« Da sich Georg willig und fügsam erwies, so wurde ihm mitgeteilt, daß man ihm keine Fesseln anlegen wolle; zu der jammernden Tertschka aber sprach der Gendarm, sie möge sich trösten; nach allem, was er gehört, [145] dürfte es so schlimm nicht werden. Ja, er gestattete ihr sogar, sich mit auf den Vorspannswagen zu setzen, der ihn und Georg später nach Wiener Neustadt brachte – und so fuhren sie in den sinkenden Abend hinein und in die dunkelnde Nacht, während man oben die Leiche fortschaffte und ein endloser Regen vom Himmel niederströmte.

4.

IV.

Ein Garnisons-Stockhaus ist ein Gefängnis wie jedes andere, nur mit dem Unterschiede, daß diejenigen, welche sich darin befinden, alte, schadhafte Uniformen auf dem Leibe tragen. Man findet dort Soldaten von allen Farben und Abzeichen, und da sie sich samt und sonders als Glieder eines Standes fühlen, so herrscht unter ihnen mehr Eintracht, als dies anderswo der Fall zu sein pflegt; wie denn auch bei dem Völklein eine gewisse, durch Aufrechterhaltung der verschiedenen Rangunterschiede bedingte Zucht und Ordnung nicht zu verkennen ist. Trotzdem bleibt ein solches Stockhaus immerhin ein gar wüster, trübseliger Ort, und es darf uns nicht wundernehmen, daß es Georg in jenem zu Wiener Neustadt nicht allzu wohl ums Herz ward. Ein mürrischer Profos, von einer Wache begleitet, hatte ihn bei später Nacht in den dunklen, stark bevölkerten Raum eingeschlossen, wo er sich, da für ihn noch kein Strohsack in Bereitschaft war, neben geräuschvoll atmenden Schläfern auf das blanke Holzlager hinstreckte. Aber schlafen konnte er nicht. Der gehobene Mut, die beschwingende Zuversicht, welche ihn erfüllt hatten, waren schon während der langen, traurigen Fahrt einigermaßen ins Sinken geraten; nun schlichen bange Zweifel und scheue Vorwürfe an ihn heran. Und als endlich ein bleicher Lichtschein durch die verschalten Fenster dämmerte, nach und nach die kahlen, schmutzigen Wände und die unerfreulichen Gesichter seiner Mitgefangenen beleuchtend, da fiel ihm die Erkenntnis seiner Lage immer [146] deutlicher, immer schwerer auf die Seele. Nicht, daß er etwa die Folgen seiner Tat allzusehr gefürchtet hätte; war er doch angegriffen worden und hatte sich seines Lebens wehren müssen; aber er sah im Geiste das Bild des Erschlagenen vor sich, sah ihn bleich und regungslos im Blute liegen, und in seinem weichen, wohlempfindenden Gemüte mischten sich jetzt mit dem schaudernden Bewußtsein, einen Menschen getötet zu haben, Reue und Mitleid und ließen ihn tief beklagen, daß alles so habe kommen müssen. Dieser unfreie und gedankenvolle Zustand wurde noch dadurch gesteigert, daß Tage um Tage, Wochen um Wochen vergingen, ohne daß man Georg ins Verhör genommen oder sonst sich um ihn gekümmert hätte. Denn nun stellte sich auch die Sorge ein, wie sich die nächste Zukunft gestalten würde, und quälte ihn um so mehr, als er über das Schicksal Tertschkas, nach welcher er eine schmerzliche Sehnsucht empfand, in völliger Ungewißheit war. Das arme Geschöpf hatte wohl durch Vermittlung des Gendarmen ein Nachtlager und gleich in den nächsten Tagen beim Neubau eines Hauses Arbeit gefunden, aber in ihrem Inneren sah es trostlos aus. Keiner von denen, die an dem Baugerüste vorübergingen und zufällig bemerkten, wie sie Backsteine oder mit Mörtel gefüllte Kübel hinanschleppte, hätte gedacht, mit welch tiefem Gram und Herzeleid sie das alles verrichtete. Abends jedoch, wenn die Arbeit eingestellt wurde, und an Sonn- und Feiertagen umkreiste sie scheu die Kaserne, in welcher sich das Stockhaus befand, und spähte zu jedem vergitterten und geblendeten Fenster empor, ob sie nicht irgendwo das Antlitz Georgs entdecken könnte, so zwar, daß sie mehrmals von den Schildwachen hart angelassen und fortgescheucht wurde. In ihrer Not wandte sie sich endlich an die Soldaten der Torwache und bat sie, ihr zu sagen, wo sich der Gefangene Georg Huber befände; sie möchte gern mit ihm reden. Da bekam sie denn freilich nur rohes Gelächter und unziemliche Späße zu hören, bis sich endlich ein gutmütig aussehender Unteroffizier ihrer erbarmte, indem er [147] sich bereit erklärte, besagten Gefangenen ausfindig zu machen und demselben ihre Grüße zu bestellen; ihn zu sehen und mit ihm zu reden, könne ihr jedoch nicht verstattet werden, es wäre denn, daß sie vom Auditor hierzu die Erlaubnis bekäme. Den solle sie aufsuchen; aber sie müsse schon am Morgen zu ihm gehen, denn tagsüber sei der Herr selten zu Hause anzutreffen. So suchte sie denn früh am nächsten Sonntage ihre wollene Jacke und den Kattunrock hervor und begab sich damit angetan nach dem Hause, welches ihr der Unteroffizier bezeichnet hatte. Dort mußte sie eine lange Zeit im Flur warten; denn sie erhielt den Bescheid, der Herr Auditor schlafe noch. Endlich trat dieser, bereits völlig angekleidet, aus der Tür und fragte sehr eilig, was sie wolle. Er ließ sie nicht ausreden und sagte, die Erlaubnis, mit den Arrestanten zu sprechen, könne nur in den seltensten Fällen erteilt werden; sie solle sich übrigens beruhigen, denn die ganze Angelegenheit würde in Bälde ausgetragen sein. Wenig getröstet ging sie wieder; und wirklich verstrich abermals Woche um Woche, ohne daß über Georg irgendeine Entscheidung erfolgt wäre. Denn, um es nur zu sagen, der Auditor war ein lebenslustiger junger Mann, dem die Schönen der Stadt näher am Herzen lagen als seine Gerichtsakten; zumal Verhandlungen, welche beurlaubte Soldaten betrafen und also in dienstlicher Hinsicht nicht so dringend waren, schob er gerne auf die lange Bank. In ihrer nunmehr gesteigerten Sorge trachtete Tertschka wieder ihren Vertrauten aufzufinden, und dieser meinte, daß ihr nichts anderes übrigbliebe, als sich an den Obersten des Platzkommandos zu wenden. Der sei zwar ein etwas strenger Herr; aber er habe schon vielen Menschen geholfen. Sie entschloß sich also auch dazu und mußte, ehe sie vorkam, wieder lange warten, jedoch diesmal nicht im Flur, sondern in einem warmen Vorgemach, was ihr um so wohler tat, als der Winter bereits ins Land gerückt war. Endlich hörte sie ein Geklirr von Säbeln; einige Offiziere traten aus den Gemächern des Obersten und gingen, [148] wie es schien, etwas niedergeschlagen fort. Nach einer Weile öffnete sich wieder die Tür; ein stattlicher Mann mit leicht ergrautem Schnurrbart blickte heraus und fragte ziemlich barsch nach ihrem Begehren. Da sie aber gleich zu weinen anfing, wurde sein Antlitz milder; er hieß sie eintreten und hörte, nachdem er sich gesetzt hatte, schweigend an, was sie vorbrachte. Dann stellte er einige Fragen an sie und forderte sie endlich auf, den ganzen Hergang zu erzählen. Das tat sie nun; freilich gar schlicht und unbeholfen, aber mit einem solchen Ausdruck von Wahrheit, daß der Oberst, der dabei öfter seinen Schnurrbart leicht emporstrich, sichtlich ergriffen wurde. Nachdem sie geendet hatte, stand er auf, legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und sagte, sie möge getrost von hinnen gehen. Er gäbe ihr sein Wort, daß nunmehr die ganze Angelegenheit in kürzester Frist und, wie er hoffe, zu Georgs Gunsten erledigt sein werde. Freien und gehobenen Herzens entfernte sie sich; der Oberst jedoch ging noch eine Weile sinnend im Gemache auf und nieder, wobei er von Zeit zu Zeit die Sporen leise aneinanderschlug. Endlich ließ er durch eine Ordonnanz den Auditor zu sich bescheiden. Er mußte ziemlich lange warten, bis der junge Mann ganz erhitzt mit einer raschen Verbeugung hereintrat.

»Herr Auditor«, begann der Oberst, »es ist vor ungefähr vier Monaten ein Urlauber namens Georg Huber behufs kriegsrechtlicher Untersuchung hier eingeliefert worden.«

Der Auditor fuhr unwillkürlich mit der Hand nach der Stirn. »Georg Huber – ja, ja, ganz recht. Es handelt sich, wie ich glaube, um einen Totschlag –«

»Allerdings; darum handelt es sich. Und ich wünschte, die Untersuchung beendet zu sehen.«

»O nichts leichter als das«, fuhr der andere aufatmend fort. »Es ist eine ganz gewöhnliche Geschichte, wie sie unter solchen Leuten nur zu oft vorkommt. Man läßt den Mann ein paarmal durch die Gasse laufen, und die Sache ist abgetan.«

[149] »Nicht doch, Verehrtester«, erwiderte der Oberst. »Das wäre ein höchst oberflächliches, gewaltsames Verfahren. Es liegt mir im Gegenteile daran, daß diese Angelegenheit, wenngleich möglichst rasch, so doch ohne jede Überstürzung mit größter Umsicht und Sorgfalt geprüft und verhandelt werde. Denn ich erlaube mir, ohne damit Ihrer richterlichen Einsicht vorgreifen zu wollen, die Bemerkung, daß hier, wie ich mich überzeugt habe, sehr eigentümliche Verhältnisse mit im Spiele sind.« Der Oberst hatte bei diesen Worten die Brauen zusammengezogen; der Auditor wußte, was das zu bedeuten habe, machte eine stramme Verbeugung und ging. Dann eilte er geraden Weges in seine Kanzlei, und da es ihm keineswegs an Scharfblick und Fertigkeit gebrach, so dauerte es wirklich nicht allzulange, daß Georg und die Zeugen, unter welch letzteren sich auch Tertschka befand, vernommen waren und von dem versammelten Kriegsgerichte folgendes Urteil geschöpft wurde: »Georg Huber, Urlauber des zwölften Regiments, sei des verübten Totschlages schuldig erkannt und zu einem Jahr schweren Kerkers verurteilt. In Erwägung des Umstandes jedoch, daß er sich teilweise im Falle der Notwehr befunden, sowie anderer erheblicher Milderungsgründe und mit Hinblick auf seine tadellose Dienstzeit sei ihm die ausgestandene längere Untersuchungshaft als Strafe anzurechnen.« Der Auditor errötete ein wenig vor sich selbst, als er diese letzten Zeilen niederschrieb; aber weit höher färbte sich sein Antlitz am nächsten Tage, als er dem Obersten das Urteil zur Bestätigung überbracht hatte, und dieser, nachdem er das Blatt gelesen, ihm lächelnd auf die Achsel klopfte und sagte: »Da sieht man, daß eine kleine Saumseligkeit im Dienste auch hin und wieder ihr Gutes haben kann.« Aber er reichte ihm die Hand und verabschiedete ihn freundlich.

Zwei Tage darauf ließ der Oberst Georg und Tertschka zu sich rufen. Er betrachtete sie lange und schweigend; dann fragte er nach diesem und jenem und schloß damit, daß er ihnen den Rat erteilte, vorderhand in der Stadt zu bleiben. Für [150] ihren Unterhalt durch angemessene Arbeit wolle er Sorge tragen, und sie würden noch später von ihm hören. Nachdem die beiden mit scheuen Dankesworten das Zimmer verlassen hatten, ging der Oberst wieder mit leisem Sporengeklirr auf und ab. Es waren seltsame Gedanken, die ihn bewegten. Er hatte vor vielen Jahren ein schlankes blondes Fräulein geliebt und war sehr unglücklich gewesen. Nicht etwa, daß die Schöne seine Neigung zurückgewiesen hätte; darüber würde sich seine stolze, kräftige Jünglingsseele wohl bald getröstet haben, aber er war in seinen reinsten Empfindungen betrogen und mißbraucht worden, und das hatte ihn mit dauernder Bitterkeit und einer krankhaften Verachtung des weiblichen Geschlechtes erfüllt, die er gern offen zur Schau trug, wie er denn auch das Wesen der Liebe überhaupt angriff und behauptete, diese wäre zwar in den Romanen hirnverbrannter Poeten, niemals aber im wirklichen Leben zu finden. Und nun, nachdem er diese Meinung, einem leisen Widerspruche seines Innern zu Trotz, so lange und leidenschaftlich vor sich selbst und anderen aufrechterhalten hatte: nun war ihm mit einem Male in diesem armen, verkümmerten Menschenpaare die Liebe mit all ihrer Tiefe, Hingebung, Treue und Zärtlichkeit, in ihrer ganzen heiligen Kraft entgegengetreten – und stille Beschämung und unsägliche Rührung zogen in seine Brust. Auch ein klein wenig Neid mischte sich mit hinein: aber er beschloß, soweit dies von ihm abhinge, die beiden glücklich zu machen fürs ganze Leben. – –


* * *


Dort, wo die schwärzlichen Schienen längs der rauschenden Mur, an grünen Wiesen und anmutigen Auen vorüber, sich hinziehen, im Umkreise des Schlosses Ehrenhausen, das von einem bewaldeten Hügel freundlich auf den Ort gleichen Namens hinabschaut, steht ein einsames Bahnwächterhaus. Ein winziges Stückchen Feld, mit Mais und Gemüse bepflanzt, liegt dahinter, und vor der Tür, umfriedet von einer dichten Bohnenhecke, [151] blühen rötliche Malven und großhäuptige Sonnenblumen. In diesem kleinen Anwesen, das den Vorüberfahrenden gar still und friedlich anmutet, leben, wie sie es einst kaum zu hoffen gewagt, Georg und Tertschka seit mehr als fünfzehn Jahren als Mann und Frau, und es braucht wohl nicht eigens bemerkt zu werden, daß ihnen der Oberst dazu verholfen hatte. Man merkt kaum, daß sie älter geworden, und sie verrichten gemeinsam den Dienst, der ihnen bei Tag und Nacht schwere Verantwortlichkeit auferlegt. Aber sie finden dennoch nebenher Zeit und Gelegenheit, ihr Streifchen Feld zu bebauen, eine Ziege samt einigen gackernden Hühnern zu halten und zwei flachshaarige Kinder aufzuziehen, die sich als willkommene Spätlinge eingestellt haben und ganz munter hinter dem Bohnenzaune heranwachsen. Auch trauliche Abendstunden sind ihnen vergönnt, wo sie Hand in Hand vor der Türe sitzen, der untergehenden Sonne nachschauen und noch immer den Tag preisen, an welchem sie sich zum ersten Male auf der Höhe des Semmerings begegnet. Und dann zieht die Vergangenheit mit allen Leiden und Freuden an ihnen vorüber – bis zu jenem Augenblicke, wo das Verhängnis schwer und furchtbar über sie hereingebrochen war – und doch ihr Glück begründet hatte. Und wenn dann in die Helle ihrer Brust ein trüber, dunkler Schatten fallen will, dann rufen sie schnell die Kleinen heran, die sich liebkosend in die Arme der Eltern schmiegen und mit den großen Kinderaugen so harmlos in die Welt hineinblicken, als lebten sie nicht den wechselvollen Schicksalen entgegen, die sich forterben von Geschlecht zu Geschlecht, solange noch Menschen atmen auf der alternden Erde.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 1. Teil. Die Steinklopfer. Die Steinklopfer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-ADDB-6