[156] An eine junge Holländerin

Rom, im Herbst 1873.


Auf des Wartsaals hartem Sopha
Liegend halb, das ros'ge Antlitz
Von dem blauen Reiseschleier
Hold umflossen, blickst du sinnend
Nach dem Fremdling, der inmitten
Tief gebräunter Römerenkel
Vor dir steht mit heller Locke
Und mit Augen, blau wie deine.
Will er dich der fernen Heimat
An der Zuidersee gemahnen,
Die du in der Schwestern Kreise
Und der Eltern Hut verlassen,
Um zu schau'n die ew'ge Roma,
Um zu schau'n den Dom Sankt Peter
Und Apoll im Vaticane?
Wahrlich, unbefriedigt scheinst du
Von den Herrlichkeiten allen –
Und doch müd', fast überdrüssig,
Ungeduldig schon, zu scheiden
Von dem wunderbaren Leben,
Das dich hier so fremd umwogt hat.
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Und aus deines Blickes Leuchten,
Aus dem Wallen deines Busens
Spricht die Sehnsucht, die du mitnimmst,
Wie du sie hieher getragen:
Jene Sehnsucht, die sich nimmer
Durch den Schutt zerfall'ner Tempel
Und geborst'ner Colonnaden,
Nicht durch Raphaels Engelsköpfe
Stillen läßt, noch durch die bleichen
Marmorbilder der Hellenen.
Und wie ich dich so betrachte,
In die lebenswarme Fülle
Deiner Schönheit mich versenkend:
Fühl' ich, wie auch meine Seele,
Die sich eben sanft beschwichtigt
Auf der Kunst geweihtem Boden,
An dem Geiste hoher Ahnen,
Wieder heiß verlangend aufbebt.
Tiefverhalt'ne Gluthen lodern
Fühl' ich plötzlich, und es ist mir,
Als hätt' ich in dir gefunden
All das Glück, darnach ich ringe,
Seit ich athme – und entbehre ...
Horch! Ein Pfiff und laute Rufe;
Thüren werden aufgerissen –
Und schon trittst du, rasch den Schleier
Niederlassend, mit den Deinen
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Zarten Fußes auf die Schienen,
Wo du im Waggon verschwindest. –
Träumend steh' ich vor dem Zuge,
Der zu neuem Lauf sich rüstet
Mit Gestöhn und wildem Schnauben.
Jetzt ein Ruck – ein leises Rollen –
Und er führt dich in die Weite,
Rascher immer, immer mächt'ger
Vorwärts drängend. Und ich folg' ihm –
Erst mit Blicken, dann im Geiste,
Wie er hineilt durch die hehre
Götterlandschaft mit den alten
Wundervollen Städtebildern,
Bis zu jenem hellen, lichten
Marmorbautenkranz am Arno.
Und von da, hinan, hinunter,
Nach Bologna, nach Venedig,
Durch die grünen deutschen Lande,
Fort am Rheinstrom – bis sich endlich
Aus der Fluth entfernten Meeres
Deine Vaterstadt emporhebt:
Amsterdam, so reinlich kühlig –
Amsterdam, wo bald der stolze
Mynheer, wohl der Ersten Einer
An der weltberühmten Börse
Und ein großer Tulpenzüchter,
Dir die ringgeschmückte Hand reicht,
Um zu stillen jene Sehnsucht,
Die du einst nach Rom getragen ...
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Ich jedoch – hinunter will ich
Durch Campanien im Fluge,
Nach dem Golfe von Neapel,
Wo das Leben tausendfarbig
Aufblitzt, wo der jugendliche
Phönix Schönheit aus den Flammen
Wildesten Genusses täglich
Neu ersteht – und selbst der alte
Dräuer mit der Rauchkapuze
Machtlos wird vor Myriaden
Lustgeschwellter Daseinskeime.
Dort im Rausche jener tollen
Stadt will ich vergessen lernen,
Daß ich dich geseh'n, du holde,
Mir verlor'ne Menschenblume.
Und bewähren soll sich wieder
Mein Verhängniß, das mich immer
Aus erhab'nen Lichtgefilden
Niederzwingt in dunkle Tiefen
Unruhvollen Erdendranges,
Bis ich einst an unerfüllten
Herzenswünschen still verblute –
So wie du!

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Gedichte. Gedichte. Zweites Buch. Aus dem Tagebuch der Liebe. An eine junge Holländerin. An eine junge Holländerin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AF19-4