[168] Dissonanzen

[169] [173]Es war großer Jagdtag gewesen. Eine Anzahl von Gästen, die nach dem späten Diner ihre benachbarten Wohnsitze noch zu erreichen vermochten, fuhr in leichten Wagen durch das Portal in die dunkle, frostige Herbstnacht hinein. Desto behaglicher fühlten sich die Zurückbleibenden in dem durchwärmten, hell erleuchteten Rauchzimmer, das an die gewölbte Speisehalle stieß. Dort saßen sie nun weit zurückgelehnt mit gekreuzten Beinen, die langen Spitzen der funkelnden Lackschuhe vor sich hinstreckend, plauderten, lachten, schlürften Kognak oder Chartreuse, bis sie sich endlich anschickten, mit dem Schloßherrn ein kleines Baccarat zu machen. Auch eine schöne junge Gräfin, Schwester des Fürsten, die sich in ihrer blaßgelbenCrêpe-de-Chine-Toilette zwischen den schwarzen Smokinganzügen der Herren gleich einer Teerose ausnahm, beteiligte sich an dem Spiel. Sie hatte schon die Jagd mitgemacht und langte jetzt, eine große Zigarre zwischen den Lippen, mit ihren nervigen, prachtvoll beringten Sportshänden nach den Kartenblättern, die ihr zugezählt wurden.

Während sich nun hier unten die Aufregungen des Spiels immer lauter äußerten und stets neue Havannas aus den Stanniolhüllen gelöst wurden, so daß des angehäuften Rauches wegen ein Fensterflügel geöffnet werden mußte, war oben im Salon ein kleinerer, stillerer Kreis um die Fürstin-Mutter versammelt. Diese, eine stattliche Dame mit leicht ergrauten Haaren, saß in einem tiefen, äußerst bequemen Fauteuil und bewegte mit den feinen, schimmernden Fingern zwei Stricknadeln aus Elfenbein, mit [173] denen sie, einen Knäuel Wolle vor sich, für arme Dorfkinder Jäckchen und Röckchen anfertigte. Dieser ruhigen, mechanischen Arbeit pflegte Fürstin Therese einen vorwiegend großen Teil ihrer Zeit zu widmen, während ihr beständig reger Geist nach allen Richtungen hin seine Fühler ausstreckte. Sie selbst nahm nur selten ein Buch zur Hand, was durch eine gewisse Schwäche ihrer Augen bedingt sein mochte. Aber vier Personen waren abwechselnd beschäftigt, ihr viele Stunden des Tages und der Nacht vorzulesen, so daß ihr keine nur irgend nennenswerte literarische Erscheinung fremd blieb. Russen und Deutsche liebte sie sehr; Franzosen, Engländer und Skandinavier standen in zweiter Linie, wenn sie auch diese keineswegs geringer schätzte, wie denn die Objektivität ihres Urteiles in den meisten Dingen Erstaunen erregen konnte. Auch wissenschaftliche Werke wurden zur Lektüre herangezogen, man war aber begreiflicherweise nicht imstande, sie erschöpfend durchzunehmen. Daher strebte die Fürstin auf solchen Gebieten nach Belehrung durch mündliche Unterhaltung, indem sie Gelehrte, Künstler und Schriftsteller in ihre kleinen Zirkel lud, wo die meisten sehr bald heimisch wurden, da sie fühlten, daß man ihnen hier wirkliches geistiges Interesse entgegenbrachte.

Diesmal befand sich im Schlosse ein junger Doktor zu Gast, der in Wien als Privatgelehrter lebte. Eigentlich Polyhistor, hatte er sich seit einiger Zeit ganz auf die Sozialpolitik geworfen und durch eine Reihe publizistischer Artikel ungemeines Aufsehen erregt. Er wurde daher viel in Gesellschaft gezogen, selbst in die hervorragendsten Kreise, denn er besaß auch sehr angenehme weltmännische Eigenschaften. Er war ein ganz vortrefflicher Reiter und Tänzer und zeichnete sich besonders als kühner Radfahrer aus. Als die Fürstin, die mit ihm im Laufe des Winters an einem dritten Orte zusammengetroffen war, erfahren hatte, daß er in einer benachbarten Stadt Vorlesungen halte, schrieb sie ihm dort hin und bat ihn, auf der Rückreise das Schloß zu besuchen. Er hatte die Einladung verbindlichst [174] angenommen, hatte sich gleich bei seinem Eintreffen den Jägern angeschlossen und saß nun in tadellosem Frack und weißer Halsbinde zur Rechten der Fürstin, die sich mit ihm über die soziale Frage unterhielt. Seine schmalen Lippen umspielte dabei ein halb dienstfertiges, halb ironisches Lächeln, während seine runden stahlblauen Augen in einem kalten Feuer glänzten. Sonst aber blieb sein Gesicht unbeweglich, wie die auffallend kahle Schädeldecke, die sich, nach oben etwas zugespitzt, wie ein halbes Straußenei ausnahm. Der Fürstin zugewendet, schien der berühmte Doktor bei seinen Auseinandersetzungen die übrigen Anwesenden gar nicht in Betracht zu ziehen.

Unter diesen befand sich auch ein Schwager der Fürstin, Graf Erwin. Als zweiter Bruder ihres verstorbenen Gemahls hatte er niemals ein beträchtliches Vermögen besessen und auch dieses in seiner bewegten jungen und jüngeren Zeit nahezu aufgebraucht. Geistig begabt und im Theresianum erzogen, war er zum höheren Staatsdienste bestimmt gewesen. Aber er zog es vor, in die Armee zu treten. Als Rittmeister bekam er es satt und ließ sich der Gesandtschaft in Madrid attachieren, wo er bald Legationsrat wurde. Dennoch schien er es auch dort nicht nach seinem Geschmack gefunden zu haben. Denn als die Errichtung des mexikanischen Thrones im Zuge war, trat er als Major in die Dienste des unglücklichen Kaisers Max. Nachdem die Tragödie mit der Katastrophe von Queretaro ihren Ausgang genommen hatte, kehrte er, angegriffen vom tropischen Klima, als müder Mann nach Europa zurück, um fortan in vollständiger Zurückgezogenheit auf dem Familienstammgut zu leben. Er bewohnte, etwas abseits vom Schlosse, einen in Rokokostil erbauten Pavillon, der nunmehr mit dem ausgedehnten Park und der nächsten landschaftlichen Umgebung seine Welt geworden war. Bis auf die seinen Zigarren, die er rauchte, war er vollständig bedürfnislos und ließ sich, wenn er allein mit seinem Diener hier hauste, oder auch sonst, wenn es ihm gerade in den Sinn kam, von einer Gärtnersfrau ein sehr schlichtes [175] Mahl bereiten. Auch dem Schneider gab er äußerst wenig zu verdienen und behalf sich mit seiner verjährten Garderobe, wobei er jedoch immer aufs geschmackvollste gekleidet war und selbst in fadenscheinigen Röcken höchst vornehm aussah. Alle noblen Passionen hatte er längst aufgegeben, selbst die Jagd; nur an mehrstündigen Morgenritten auf einem alten, aber noch immer schönen und feurigen Lipyizaner Schimmel hielt er fest. Langeweile kannte er nicht. Wollte sie ihn hin und wieder doch anwandeln, so griff er nach einem seiner Bücher, deren er allerdings nicht allzu viele besaß. Es waren nur Werke von älteren Autoren in eigentümlicher Auswahl. An der Spitze die französischen Enthymematiker: Montaigne, Chamfort, Larochefoucauld. Dann Voltaires Candide und Rousseaus Bekenntnisse. Englisches fand sich vor von Fielding, Smollet, Swift und Sterne. Deutsches: Brandts Narrenschiff, Lichtenbergs aphoristische Schriften, Thümmels Reisen im mittäglichen Frankreich – und Goethes Werther. Das war, einschließlich des Don Quixote, der Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen und einiger wissenschaftlicher Kompendien so ziemlich alles. Diese Prosaschriften – Verse konnte er nicht ausstehen – las er wieder und wieder, obgleich er sie bereits auswendig wußte. Daran, sagte er, war ihr unvergänglicher Wert zu erkennen. Er stand daher auch in stetem Widerspruch mit der Fürstin, die immer nur Neues las und in ihn drang, dies oder jenes kennen zu lernen. Aber er wies ihr Ansinnen hartnäckig zurück. Manchmal wenn, er sich unbeachtet glaubte, nahm er eines der empfohlenen Bücher zur Hand und blätterte darin. Ertappte man ihn dabei, so legte er es sofort weg und tat nach den paar Seiten, die er gelesen haben mochte, einen oft merkwürdig richtigen Ausspruch über das Ganze. Die Wände des Zimmers, in dem er sich tagsüber aufhielt, waren fast durchgehends mit eingerahmten Kupferstichen Hogarths bedeckt, den er neben Ruysdael für den größten Maler erklärte, den es je gegeben. Dazwischen hingen einige stimmungsvolle Landschaften ohne jede Staffage; über dem Schreibtisch aber [176] war, nicht gerade von Meisterhand gemalt, das Bildnis einer spanischen Dame zu erblicken, die er in Madrid geliebt hatte. Wie man vermuten konnte, nicht glücklich. Dennoch trieb er mit dem Porträt eine Art Idolatrie, was ihn jedoch keineswegs abhielt, irgend einer Dorfschönen nachzustellen, an der er Gefallen fand. Den Damen seiner Kreise gegen über betrachtete er sich schon längst als außerhalb jeder Bewerbung stehend, obgleich er auch jetzt mit seiner schlanken, geschmeidigen Gestalt nicht alt aussah. Sein leicht gelocktes Haupthaar war noch immer dicht und braun; nur in dem feinen, zugespitzten Vollbart zeigten sich Silberfäden. So unterschied er sich sehr augenfällig von dem jungen Doktor, dessen Kahlkopf er unausgesetzt mit eingeklemmtem Monokel betrachtete, während er dem Vortrag mit zerstreuter Überlegenheit folgte.

Desto andächtiger aber lauschte der Hofmeister des noch im Knabenalter stehenden jüngsten Sohnes der Fürstin. Verkündete doch der Redner das Evangelium, zu dem er sich, wie jetzt die meisten jungen Leute in ähnlichen Stellungen, selbst bekannte, wenn ihn auch die Verhältnisse zwangen, der Macht des Besitzes untertänig zu sein. Er hatte noch keine eigentliche Berufswahl getroffen, versuchte sich in allerlei Wissenschaften und war ein begeisterter Bewunderer Bismarcks, Richard Wagners und Nietzsches. Hierin traf er mit dem jungen Fräulein zusammen, das ihm gegenübersaß und eine Art Sekretärin der Fürstin war. In ihrer körperlichen Entwicklung etwas zurückgeblieben, hatte sie ein feines, längliches Gesichtchen und große schwärmerische Augen, die zaghaft und schüchtern in die Welt blickten. In ihrem zarten Busen jedoch trug sie eine feuerige Hingabe an die Ziele der modernen Frauenbewegung, an der sie leider nur aus der Ferne teilnehmen konnte. Aber ihre Begeisterung dafür kam bei jeder Gelegenheit zum Durchbruch, daher sie auch beständig mit einer alternden Französin in Konflikt geriet, die früher Gouvernante und jetzt Vorleserin war. Denn diese hielt mit aller Heftigkeit ihres Temperaments [177] an dem überwundenen Begriff der »Weiblichkeit« fest, für die sie sich ebenfalls bei jedem Anlaß ins Zeug legte. Sie war überhaupt sehr reizbar und geriet in helle Wut, wenn man sie – was gerade deshalb scherzweise oft geschah – eine Deutsche nannte. Sie stammte aus einem kleinen Städtchen in jenem Teile Lothringens, den man den Reichslanden einverleibt hatte, infolgedessen auch ihr Preußenhaß ein grenzenloser war. In dieser Hinsicht hatte sie einen stillen Bundesgenossen an dem bejahrten Hausarzte, der als eingefleischter Altösterreicher dem deutschen Reiche keine Sympathien entgegenbrachte. Aber er hatte die Gewohnheit angenommen, über alles zu schweigen, was nicht mit seinem Amte zusammenhing, und so ließ er sich ebensowenig darüber aus, wie über die moderne Medizin, auf die er mit mißtrauischer Geringschätzung hinabsah, obgleich er in seinem weitläufigen Zimmer die neuesten chirurgischen Instrumente und medizinischen Schriften aufgestapelt hatte. Im Schlosse war er bis zum letzten Diener als hygienischer Tyrann gefürchtet.

So flossen denn in diesem Salon mit seinen steifen Ahnenbildern und verblaßten Gobelins beständig die verschiedenartigsten Gehirnätherschwingungen zu einer eigentümlichen geistigen Atmosphäre zusammen, die etwas von Gewitterluft an sich hatte, wenn auch die taktvolle Objektivität der Fürstin Entladungen in der Regel zu verhüten wußte.

Der Sozialpolitiker hatte eben jetzt eine längere Auseinandersetzung mit einem glänzenden Schlagwort geschlossen, und es wurde still. In diesem Augenblick traten auch zwei Diener, die schon vor der Tür gewartet hatten, mit Teebrettern ein und begannen zu servieren. Die Fürstin nahm eine Tasse, was ihr einen vorwurfsvollen Blick des Hausarztes zuzog, der ihr in letzter Zeit den abendlichen Teegenuß untersagt hatte. Der berühmte Gast folgte ihrem Beispiele, und auch der Graf ergriff eine Tasse, in die er noch ein Löffelchen Rum goß. Der Hofmeister langte nach einem Glase Bier, das Fräulein streckte die schmächtigen [178] Finger nach einem belegten Brötchen, die Französin wählte einige kleine Näschereien aus, während der Arzt seine stoische Enthaltsamkeit durch eine abweisende Handbewegung kundgab.

Als sich die Diener entfernt hatten, sagte die Fürstin: »Ich habe Ihnen noch vielmals zu danken, Herr Doktor. Ihre lichtvollen Belehrungen haben mir wirklich ganz neue Einblicke erschlossen – wenn mir auch, ich gestehe das offen, noch so manches nicht ganz faßlich erscheint.«

»Das ist kein Wunder, liebe Resa«, warf Graf Erwin etwas ungalant ein. »Auf die sozialistische Doktrin läßt sich der Ausspruch anwenden, den Lichtenberg über die Kantsche Philosophie getan: daß man sie in gewissen Jahren eben so wenig zu lernen vermöge wie das Seiltanzen.«

Der Doktor sah ihn überrascht und mit einiger Aufmerksamkeit an. Es wunderte ihn offenbar, dieses Zitat aus dem Munde des Grafen zu vernehmen. »Nun allerdings,« sagte er, »ist es ein Thema, an das man nicht früh genug herantreten kann. Denn später macht sich doch immer ein geheimer, kaum mehr zu überwindender Widerstand geltend.«

»Bei mir gewiß nicht, Herr Doktor«, versetzte die Fürstin. »Ich kann Sie versichern, daß ich dem Gegenstande immer das wärmste, aufrichtigste Interesse entgegengebracht habe. Wir besitzen ja ausgedehnte Industrien, die uns alle diese Fragen seit jeher nahe gebracht. Und meinem verstorbenen Gatten war es ein Herzensbedürfnis, das Los seiner Arbeiter zu verbessern. Es ist vieles veranstaltet und geschaffen worden, das für die Leute als wirkliche Errungenschaft bezeichnet werden kann. Dem einzelnen sind natürlich durch die allgemeinen Verhältnisse Schranken gesetzt. Und in dieser Hinsicht habe ich mich stets wundern müssen, daß der Staat, der doch die Notwendigkeit von Reformen zugibt, nicht ein eigenes Ministerium kreiert –«

»Dafür müßten wir uns bedanken«, unterbrach sie der [179] Doktor hastig. »Das liefe auf bureaukratische Bevormundung hinaus. Nein, Durchlaucht! Wir werden unsere Forderungen schon selbst durchsetzen.«

»Aber verzeihen Sie,« fuhr die Fürstin ziemlich hartnäckig fort, »gerade einige dieser Forderungen sind mir unverständlich geblieben. Zum Beispiel die sechsstündige Arbeitszeit. Ich bitte Sie, was sollen denn die Leute mit der anderen Hälfte des Tages anfangen?«

»Sie sollen sich bilden.«

Ein sarkastisches Lächeln zuckte über das Antlitz des Grafen. »Sie sprechen ein großes Wort gelassen aus«, sagte er.

Der Doktor warf das Kinn empor. »Gewiß ist es ein großes Wort! Es ist die Signatur – und die Forderung unserer Zeit.«

»Leider«, erwiderte der Graf trocken.

»Sie sind also ein Gegner der Bildung, Erlaucht?«

»Keineswegs – wenn ich sie wirklich antreffe.«

»Ich verstehe. Aber Sie müssen doch zugeben, daß Bildung nicht vom Himmel fällt. Sie muß eben erworben werden. Und so müssen die Arbeiter trachten, sich Bildung zu erwerben.«

»Ich möchte wissen, wie sie das anstellen sollten.«

»Wie? Er scheint Ihnen nicht bekannt zu sein, daß bereits allenthalben Volksbildungsvereine ins Leben gerufen sind – daß man bemüht ist, durch zahlreiche, jedem zugängliche Bibliotheken und Vorträge den Gesichtskreis derer zu erweitern, die bis jetzt, an ihre Webstühle gekettet oder in die dumpfe Nacht der Kohlenschächte gebannt, in vollständiger Unwissenheit gelebt haben.«

»Darauf kann ich wieder nur sagen: leider!«

»Ach, hören Sie nicht auf ihn, lieber Herr Doktor«, fiel die Fürstin ein. »Mein Schwager Erwin gefällt sich in Paradoxen. Aber Sie müssen mir doch erlauben, zu bemerken, daß ich alle diese gewiß sehr löblichen Anstalten ziemlich ungenügend [180] finde. Sie können doch nur wenigen geistig Begabten, denen schon ein gewisser Bildungstrieb innewohnt, zugute kommen. Aber für die große Masse –«

»Ist freilich fürs erste noch sehr wenig zu hoffen«, fuhr der Doktor mit einer erzwungen verbindlichen Gebärde fort. »Immerhin kann auf diese Art – gewissermaßen nach dem Gesetze der elektrischen Verteilung – auch in der großen Masse Bildungstrieb geweckt werden. Und vorderhand ist genug erreicht, wenn die geistig höher Veranlagten die erwünschte Anregung und Führung finden.«

»Das ist durchaus nicht notwendig«, sagte der Graf. »Wer geistig veranlagt ist, findet überall Anregung und strebt von selbst seinen Zielen zu. Ich brauche Sie nicht erst darauf aufmerksam zu machen, wie viele Forscher und Erfinder, wie viele Schriftsteller und Künstler aus den ungünstigsten, ja widerstrebendsten Lebensverhältnissen heraus sich zu hohen und höchsten Stufen emporgeschwungen. Vielleicht, ich gebe es zu, auf manchem Umwege und mit verhältnismäßiger Einbuße an Kraft und Erfolg. Dennoch braucht man es einigen wenigen nicht leichter zu machen auf Kosten der unübersehbaren Mehrzahl, in deren Köpfen durch eine mangelhafte Erweiterung des Gesichtskreises nur eine heillose Verwirrung der Begriffe entstehen kann – ganz abgesehen von bis jetzt noch ganz ungeahnten Bedürfnissen und Begehrungen, die infolge solcher Bildungsversuche in den Massen hervorgerufen werden.«

»Es wächst der Mensch mit seinen Bedürfnissen«, sagte der Doktor kategorisch.

»Aber auch sein Elend.«

»Das ist eine gänzlich veraltete Anschauung, Herr Graf. Man ist längst davon abgekommen, das Glück der Menschheit in der Beschränkung zu suchen. Vielmehr muß der ganze Reichtum des Daseins jedem einzelnen erschlossen werden, auf daß er teil habe an allen Lebensgenüssen – bis hinauf zu den reinsten Erhebungen durch die Kunst.«

[181] »Durch die Kunst!« hohnlachte der Graf.

»Ja, durch die Kunst!« wiederholte der Doktor nachdrücklich. »Oder wollen Sie vielleicht dem Arbeiter das Recht auf die Freude am Schönen streitig machen? Wollen Sie ihm Museen, Theater und Konzertsäle verschließen, auf daß er nach wie vor stumpfsinnig vorübergehe an dem Adel und der Bedeutung unserer öffentlichen Bildwerke, an der Pracht unserer Gebäude – ja selbst an den Reizen der Natur?«

»Keineswegs. Ich bin nur gegen eine vorbedachte Züchtung des sogenannten Kunstsinns. Dieser famose Sinn ruft den Nachahmungstrieb hervor und hat in unserer bereits gebildeten Welt Unheil genug angerichtet, da in ihr jeder zweite Mensch malt oder modelliert, komponiert oder dichtet. Soll dieser Wahnwitz auch noch die unteren Volksschichten erfassen?«

»Es soll eben keine unteren Volksschichten mehr geben«, versetzte der Doktor giftig.

»Ich weiß, daß Sie dies beabsichtigen, indem Sie das Oberste zu unterst kehren wollen. Glück zu! Wird aber nicht viel nützen. Schichten bleiben Schichten, ob sie nun aus diesen oder jenen Elementen zusammengesetzt sind. Denn daß die Menschheit jemals aus einer Einschicht bestehen werde, glauben Sie wohl selbst nicht.«

»Oho!« rief der Doktor. »Wir glauben das ganz be stimmt. Es dürfen nur einmal durchaus vernünftige soziale Institutionen Platz gegriffen haben, so ist es nur eine Frage der Zeit, daß bei einer genau abgewogenen und streng durchgeführten Zuchtwahl, die alles Widerstrebende und daher Schädliche dem Absterben preisgibt, eine – wenn auch nicht gleichförmige, aber durchweg harmonisch gegliederte und geläuterte Menschheit entsteht.«

»Ich gratuliere im voraus. Nur schade, daß bis dahin sich unser Planet im Zustand der Erstarrung befinden wird.«

Schon bei Beginn dieser immer hitziger geführten Kontroverse hatte sich der Hausarzt, wie es bei ähnlichen Fällen seine [182] Gewohnheit war, auf lautlosen Sohlen über die Teppiche des Salons in ein Nebengemach begeben, durch das er verschwand. Die übrigen aber folgten mit steigender Spannung und sehr verschiedenen Empfindungen dem Streite der beiden Gegner. Der Hofmeister sah mit weit aufgerissenen Augen unverwandt nach dem Doktor hin, dessen Worte er, die Lippen krampfhaft bewegend, im stillen nachsprach, während die Französin jede Bemerkung des Grafen, für den sie ein faible hatte, mit lebhaft zustimmendem Kopfnicken begleitete. Das Fräulein aber hielt voll innerlichen Bebens angstvoll den Blick gesenkt. Denn sie befürchtete, daß auch die Frauenfrage berührt werden könnte, auf die, wie sie wußte, der in seinen Ausdrücken nicht gerade wählerische Graf übel zu sprechen war. Sie selbst jedoch besaß bei allem Hange zur Emanzipation eine übertrieben feminine Empfindlichkeit gegen jedes derbere und freiere Wort, das ihr sofort das Blut in die schmächtigen Wangen trieb. Aber auch in dem Antlitz der Fürstin wurde allmählich ein ängstlicher Zug sichtbar. Sie hatte zwar derlei Wortgefechte in ihrer Gegenwart nicht ungern, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. An dieser Grenze schien ihr jetzt das Gespräch der beiden Herren angelangt zu sein, und sie überlegte eben, wie sie vermittelnd eingreifen solle, als die Gesellschaft, die unten das Spiel beendet hatte, sehr geräuschvoll über die Treppe herauf und in den Salon geschritten kam, an der Spitze die schöne Gräfin, die einen ganzen Pack zusammengeknüllter Banknoten in der Rechten hielt.

»Da schau', Mama,« rief sie, auf die Fürstin zueilend, »das alles habe ich den Herren abgenommen!«

»Ja, sie hat uns total ausgesackt«, bekräftigte Graf Zdenko, ihr Gatte.

»Ach was,« lachte der Fürst, indem er sich in einen Fauteuil warf, »dir verschlägt es nichts! Mann und Frau greifen doch in eine Tasche.«

Nun nahmen auch die übrigen Ankömmlinge das Wort, [183] und es wurden alle Wechselfälle im Spiel sehr lebhaft durchgesprochen. Auch der Jagd wurde noch Erwähnung getan. Man stritt sich, wer den ersten Bock gefehlt habe, und rechnete wiederholt nach, wieviel jeder einzelne zur Strecke gebracht. Ein süperber Fuchs, den man ganz unvermutet aufgestöbert und geschossen hatte, wurde der Gegenstand besonderer Erörterungen. Damit aber verbreitete es sich rings wie frische, kräftige Waldluft und vertrieb die angehäuften geistigen Moleküle. Auch noch anderes kam an die Reihe. Man sprach jetzt von Wien, von den bevorstehenden Bällen, von Madame Francine und von neuen Roben, von der Wolter, die damals noch lebte, von der Heirat der Palmay und von Girardi. Ein noch sehr junger Baron versuchte eine Coupletstrophe in der Art dieses Künstlers vorzutragen, mit dem er im Äußeren einige Ähnlichkeit hatte. So wurde es immer lauter im Salon; nur Graf Erwin und der Doktor, die sich gegenseitig sonderbare Blicke zuwarfen, verhielten sich schweigend.

Die Fürstin bemerkte die Verstimmung der beiden Herren und sagte endlich: »Na, Kinder, jetzt aber ist es Zeit, daß wir schlafen gehen.« Sie erhob sich etwas mühsam aus ihrem Lehnsessel und umarmte die Tochter. Dann reichte sie dem Doktor die Hand, die dieser mit einer sehr förmlichen Verbeugung an die Lippen führte. »Ich bedauere, daß Sie uns schon morgen vormittag verlassen wollen. Aber ich hoffe, Sie vor Ihrer Abreise noch zu sehen.« Nach diesen Worten bewegte sich die Fürstin, von den übrigen gefolgt, der Tür zu, und bald war alles mit lauten Gutenachtrufen in den weitläufigen Korridoren des Schlosses auseinandergestoben.

Der Hofmeister aber wollte es sich nicht nehmen lassen, den Doktor nach seinem Zimmer zu geleiten. Er hatte die Brust zum Zerspringen voll; er wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort hervor. Dabei hoffte er, daß der Doktor zu ihm sprechen, ihn vielleicht auffordern werde, noch ein wenig bei ihm einzutreten. Aber es geschah nicht. Der andere reichte ihm an der [184] Schwelle ziemlich kühl die Hand und sagte bloß: »Also auf Wiedersehen – morgen beim Frühstück.«

Kaum im Zimmer, machte der Doktor seiner inneren Erregung dadurch Luft, daß er den großen getäfelten Raum .. ach allen Richtungen hin sehr geräuschvoll durchmaß. Den eintretenden Diener, der sich nach allfälligen Wünschen erkundigte, wies er barsch ab. Dann blieb er stehen und stampfte mit dem Fuße. Was war ihm da widerfahren? Überall lauschte man seiner Rede mit gläubiger Andacht, oder doch wenigstens mit schweigender Unterwürfigkeit. Und wenn man sich schon Einwendungen erlaubte, so geschah es mit ehrerbietigem Zögern und in den verbindlichsten Ausdrücken – wie es ja auch heute von seiten der Fürstin geschehen war. Aber dieser Graf hatte ihn von oben herab behandelt – hatte ihn mit hochmütiger Ironie abgekanzelt wie einen Lakai! Die Galle kochte in ihm bis an den Hals hinauf. Sollte er diesen Menschen nicht fordern?! Er griff in die Luft wie nach einer Pistole und streckte den Arm, als gelte es zu zielen. Diese Bewegung, die er mehrmals wiederholte, schien ihn allmählich zur Ruhe zu bringen. Er begann wieder auf und ab zu schreiten, doch in gemessener Haltung, und immer stolzer richtete sich sein Haupt empor. Endlich spuckte er verächtlich aus. »Aristokratischer Hohlkopf!« sagte er, indem er daran ging, sich auszukleiden.

Aber auch der Pavillonbewohner war inzwischen in seinem Schlafzimmer auf und nieder geschritten. Er ärgerte sich über sich selbst, daß er sich mit dem Doktor eingelassen. Denn er war ein kluger Mann und wußte sehr genau, wie ohnmächtig er mit seinen Anschauungen dem Zuge der Zeit gegenüber dastehe. Es fiel ihm daher auch gar nicht ein, seine Meinungen irgendwie geltend machen zu wollen, ja er vermied es, sie vor Fremden auszusprechen. Aber das ganze Wesen des Doktors hatte ihn gereizt. Sein bloßer Anblick war ihm auf die Nerven gegangen. Dieses kaltäugige Vogelgesicht! Dieser haarlose, zugespitzte Schädel! Er machte unwillkürlich eine Bewegung mit[185] dem Arm, als schwinge er eine Reitpeitsche. Dann rief er mit starker Stimme: »Wenzel!« Ein bejahrter Diener erschien und war ihm wie ein Automat bei der Nachttoilette behilflich.

Im Bette blieb Graf Erwin noch eine Zeitlang wach und folgte mit dem Blick dem Rauche seiner Zigarre, der sich langsam zu den Stuckverzierungen des Plafonds hinankräuselte. Jetzt warf er den Stummel in den Aschenbecher, blies das Licht aus und murmelte: »Moderner Esel.«

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 5. Teil. Dissonanzen. Dissonanzen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AF65-7