[259] Dem Andenken meiner Mutter

(1882.)


Zehn Jahre sind es heut' – zehn lange Jahre,
Da lagst du hingestreckt auf dunkler Bahre,
Das Antlitz fahl, das helle Aug' geschlossen,
D'raus mir der Liebe reinster Strahl geflossen.
Du wiesest nicht den sanften Glanz der Ruhe,
Der Todte oft verklärt in ihrer Truhe;
Ein herber Ernst verschärfte deine Züge
Und deiner Lippen marmor'nes Gefüge.
Der Ernst des Schmerzes war's, den du getragen
In deiner Seele bis zu alten Tagen –
Des Duldens Ernst, den du, mich nicht zu schrecken,
Stets in ein Lächeln wußtest zu verstecken.
Mir aber blieb nicht fremd, was du gelitten,
Ich sah es klar, wie schweigend du gestritten –
Mußt' ich doch selbst in deinen Lebenszeiten
Dir stets das allertiefste Weh' bereiten.
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Hingehen sahst du mich auf steilen Bahnen;
Wohin sie führten, konntest du wohl ahnen,
Es blieb dein Geist dem meinen nicht verschlossen –
Wie wär' ich sonst auch deinem Schooß entsprossen?
Doch wußte diese Welt an bangen Zweifeln
Gar viele dir in Herz und Sinn zu träufeln;
Sie wußte deinen Stolz dir zu verbittern
Und ließ dich für das Heil des Sohnes zittern.
Wer weiß es nicht, wie schlaue Tröpfe malen
Die Nichtigkeit von allen Idealen –
Wie hoch dem Neid stets ferne Ziele gelten,
Um die erreichten als ein Nichts zu schelten.
Wer kennt sie nicht, des falschen Mitleids Wärme,
Daß der Getroffene sich tiefer härme –
Nicht jenen frechen Muth, der unerschrocken
Dem Guten Schlechtes vorzieht mit Frohlocken.
Wer kennt es nicht, dies stumme Achselzucken,
Dies niederträchtig harte Lobverschlucken,
Dies Schweigen, wenn man nicht mehr kann verneinen,
Auf's neue stets bereit zum Wurf mit Steinen.
Dies Alles mußtest du gleich mir ertragen,
Und oft im Inn'ren wolltest du verzagen;
Denn leicht nicht konnt' ich meine Kraft entfalten,
Und fast schon schien's: sie würden Recht behalten.
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Und das auch war's, was dir in letzter Stunde
Als scheuer Seufzer klang aus bleichem Munde –
Das war es, was verschärfte deine Züge
Und deiner Lippen marmor'nes Gefüge.
Das war es, was mit schmerzlichem Erkennen
Ich selber fühlte in der Brust mir brennen,
Als ich gebrochen, stumm und ohne Zähre
An deiner Leiche blickte wie in's Leere.
Und heute noch fühl' ich es brennen leise,
Da ich geblickt schon nach dem höchsten Preise –
Und eines Kranzes spät erworb'nen Segen
Bei deinem Grabe still kann niederlegen.

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Gedichte. Gedichte. Drittes Buch. In memoriam. Dem Andenken meiner Mutter. Dem Andenken meiner Mutter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AF68-1