[39] [41]Der »Exzellenzherr«

[41] [45]Gegen Ende der Sechziger Jahre hatte ich meine Wohnung in Wien aufgegeben und mich in einem der nächsten Vororte niedergelassen, wo mir die Annehmlichkeiten des Stadt- und Landlebens vereint geboten waren. Durch eine stattliche, belebte Hauptstraße mit der Residenz zusammenhängend, zeigte die ausgedehnte Ortschaft an dieser Stelle schon damals ziemlich großstädtisches Aussehen und Treiben, während in den zahlreichen Neben- und Seitengassen, wo anmutige, von weitläufigen Gärten umblühte Landhäuser mit niederen Hütten und hölzernen Scheunen abwechselten, noch vollständige idyllische Ruhe herrschte. Auch das Haus, in dem ich mich eingemietet hatte, besaß gewissermaßen diesen Doppelcharakter. Zwei Stockwerke hoch, in einer langen, mit Bäumen bepflanzten Gasse aufragend, hielt es die Mitte zwischen Villa und Zinsbaute und blickte dabei mit seinen Fenstern auf ein wahres Wipfelmeer von Gärten, auf die weithin gedehnte Stadt, auf die grünen Auen der Donau – bis in das goldene Marchfeld hinein. Zudem hätte ich keine erwünschtere Nachbarschaft finden können, als die Menschen, mit denen ich unter einem Dache lebte. Die rechte Seite des Erdgeschosses nahm ein Stabsoffizier außer Dienst ein, der nach Art alter Hagestolzen seinen Ruhegehalt mit bequemlicher Regelmäßigkeit verzehrte; links von ihm betrauerte eine kinderlose Witwe von zweifelhafter Jugend und eben solcher Schönheit den frühen Tod des Gatten, wobei sie jedoch, wenn auch in aller Stille und in allen Ehren, bereits [45] nach einer neuen zweiten Hälfte auszublicken schien. Das erste Stockwerk war ausschließlich von den Hauseigentümern, einem hochbetagten Ehepaare ohne Nachkommenschaft, in Besitz genommen, das, mit allerlei körperlichen Gebrechen behaftet, in langsamem Absterben begriffen war. Eine Treppe höher befanden sich meine Zimmer, und neben mir hauste, in würdiger Zurückgezogenheit, ein alleinstehendes Schwesternpaar, zwei ältere Damen von vornehmer Abkunft, die ihre Tage so ruhig und gleichmäßig verbrachten, daß ich ihres Daseins kaum würde inne geworden sein, wenn mich nicht eine von ihnen hin und wieder durch meisterhaftes Klavierspiel erquickt hätte. So wurde mir denn das stille Haus mit seiner reizvollen Fernsicht, das in der ganzen Gasse gemeinhin das »Kloster« genannt wurde, von Jahr zu Jahr lieber, und so oft ich eine Reise unternommen hatte, kehrte ich immer wieder mit wahrem Behagen in die schlichten, mir so innig vertrauten Räume meiner Wohnung zurück.

Als dies im Spätsommer des Jahres 187* zum letzten Male der Fall war, fand ich nach längerer Abwesenheit manches im Hause verändert. Die Eigentümer waren gestorben; die einsame Witwe hatte sich wieder verheiratet. Die kleine Wohnung der letzteren stand leer; in das erste Stockwerk aber war – so teilte mir meine Aufwärterin mit – ein sehr vornehmer Herr eingezogen, ein »Exzellenzherr«, wie der Volksmund diejenigen bezeichnet, welche den Ehrentitel »Exzellenz« führen. Die Frau nannte auch mit einiger Anstrengung des Gedächtnisses einen Namen, der mir nicht unbekannt klang. Denn ich entsann mich, daß ein ehemaliger Landespräsident so geheißen habe, den man bei seiner plötzlichen Versetzung in den Ruhestand mit der Würde eines Geheimen Rates ausgezeichnet hatte. Seither war er im öffentlichen Leben verschollen und vergessen – wie so mancher andere, der dem Staate mehr oder minder bedeutende Kräfte zur Verfügung gestellt. Ich legte also auch kein besonderes Gewicht auf diesen neuen Mietsmann, [46] konnte mich jedoch eines gewissen Eindruckes nicht erwehren, als ich am nächsten Morgen vom Fenster aus eine hohe, würdevolle Gestalt in leicht gebückter Haltung und auf einen Stock gestützt langsam durch den Hof in den bereits herbstlich gelichteten Garten schreiten sah. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch eine bald darauf erfolgte zufällige Begegnung, wobei ich in ein blasses, einnehmendes Gesicht blickte, das den Stempel körperlichen Leidens trug, und aus welchem mir klare, braune Augen wohlwollend entgegenleuchteten.

So war es mir eigentlich nicht unwillkommen, auf Umwegen zu erfahren, daß der Exzellenzherr, der ganz einsam lebte – er hatte nur einen Kammerdiener bei sich – mich näher kennen zu lernen wünsche. Es hieß, er habe schon die Absicht gehabt, mich zu besuchen, sei jedoch davon zurückgekommen, weil er mich zu stören oder zu belästigen fürchte. Ich beschloß also, ihm nun selbst meine Aufwartung zu machen. Schon am nächsten Vormittage kleidete ich mich sorgfältiger an und begab mich hinunter. Der Kammerdiener ließ mich ohne jede Anmeldung sogleich mit zuvorkommender Hast in ein großes Zimmer mit drei Fenstern treten, wo sein Herr lesend in einem bequemen Lehnstuhle saß und sich von diesem bei meinem Eintritt, wie es schien, nicht ohne Anstrengung erhob.

»O das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte er, indem er mit flüchtigem Erröten auf mich zukam. »Aber Sie machen mir da, wie ich sehe, eine offizielle Visite. Solche anspruchsvolle Erwartungen zu hegen, kam mir nicht in den Sinn. Ich habe nur recht sehr gewünscht, daß Sie mir, da wir unter dem Schutze der gleichen Laren leben, manchmal das Vergnügen Ihres Umganges möchten zuteil werden lassen.«

»O Exzellenz –« warf ich ein, während ich seiner Aufforderung nachkam und mich setzte.

»Ich bitte, lassen Sie diese Bezeichnung beiseite«, sagte er ruhig. »Sie paßt durchaus nicht zu meinem Wesen – zu meiner Umgebung.« Dabei machte er mich mit einer bezeichnenden [47] Gebärde auf die Ausstattung des Zimmers aufmerksam, welche in der Tat sehr einfach, ja nach heutigen Begriffen fast ärmlich zu nennen war. Nur ein paar Ölbilder in schweren Goldrahmen – die meisten augenscheinlich Familienporträts – und ein massiver, schön gearbeiteter Schreibtisch zeugten von Vornehmheit. »Ich liebe es in der Tat nicht,« fuhr er fort, »wenn man mir diesen Titel gibt, der mich – ich sage das vollkommen aufrichtig – bei den geringfügigen Diensten, welche dem Staate zu leisten mir vergönnt gewesen, eigentlich nur beschämen kann. Da wir aber noch nicht so vertraut miteinander sind, um uns schlichtweg beim Namen zu nennen, und es also durchaus getitelt sein muß, so sagen Sie einstweilen Herr Präsident zu mir. Das kann, das darf ich mit einigem Fug und Recht annehmen – obgleich ich jetzt nichts anderem mehr präsidiere als meinen Büchern.«

Er wies bei diesen Worten nach einer ziemlich umfangreichen Bibliothek, die sich auf einfachen Holzgestellen an der Wand hinzog. »Es sind zumeist ältere Werke,« sagte er nach einer Pause; »namentlich was die schöne Literatur betrifft. Denn offen gestanden, mir stehen die neuen Hervorbringungen auf diesem Felde mit wenigen Ausnahmen ziemlich fremdartig gegenüber. Man wird eben alt und vermag sich in der modernen Empfindungsweise nicht mehr zurechtzufinden. Lernen aber kann – oder soll wenigstens der Mensch jederzeit, und so trachte ich, auf anderen geistigen Gebieten nicht zurückzubleiben. Noch vor einigen Jahren habe ich mich leidenschaftlich für die Naturwissenschaften interessiert. Aber nachdem ich den Tiefenpunkt erreicht hatte und also keine Aufschlüsse mehr erhielt, erkaltete meine Teilnahme, denn die Breite der Einzelheiten ist doch nur für den Fachgelehrten von Wert. Jetzt, da mein öffentliches Leben abgeschlossen hinter mir liegt, sind es historische Schriften, die mich am meisten anziehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welchen eigentümlichen Genuß es mir bereitet, mich an dem Faden der geschichtlichen Ereignisse [48] in die Vergangenheit zurückzulenken, wobei mir einerseits die unabwendbare Notwendigkeit alles Geschehenen und Geschehenden, sowie andererseits die Nichtigkeit und das Traumartige des menschlichen Daseins so recht zum Bewußtsein kommt.«

Dieses einleitende Gespräch samt der darauffolgenden Unterhaltung, die sich über verschiedenartige Gegenstände erstreckte, zeigte mir, daß ich mich einer edlen und bedeutenden Persönlichkeit gegenüber befand, welche, wie ich bei fortgesetztem Verkehr immer deutlicher erkannte, von seiten der öffentlichen Meinung weit unter Gebühr geschätzt wurde. Es war hier wieder einmal zu sehen, wie höhere Eigenschaften von der Welt unbemerkt bleiben können, sei es nun, daß dem Besitzer jenes vordringliche Etwas fehlt, das notwendig ist, diese Eigenschaften durchzusetzen und geltend zu machen, sei es, weil sie mit der gerade herrschenden Zeitströmung im Widerspruch stehen und daher mit der ganzen Individualität verkannt oder doch sozusagen instinktiv bis zur völligen Vereinsamung beiseite liegen gelassen werden. So schien auch der Präsident kaum Bekannte im gewöhnlichen Sinne, noch weniger aber Freunde zu haben. Ab und zu kam wohl einmal ein Wagen gefahren, dem irgend ein Würdenträger entstieg, um sich in die stille Wohnung hinauf zu begeben. Aber diese Besuche waren stets sehr kurz und sichtlich nur ganz konventionell abgestattet; auch schienen sie dem Empfänger nicht sehr erwünscht und angenehm zu sein.

Dies alles aber erhöhte nur meine bescheidene Zuneigung zu dem einsamen Manne, der sich übrigens auch bald menschlicher Teilnahme bedürftig erwies. Denn er war, wie ich gleich beim ersten Anblick erkannt hatte, körperlich leidend; und zwar an einer mit der Zeit langsam vorgeschrittenen Krankheit, welche sich, in ihren Anfängen wohl nicht genug beachtet, bei Beginn des Winters mit einem Male sehr empfindlich geltend machte. Wenn sie den Präsidenten auch nicht an das Bett fesselte, so wirkte sie doch sehr entkräftend, verhinderte ihn, die gewohnten längeren Spaziergänge zu unternehmen, und machte ihm endlich sogar [49] anhaltendes Lesen und Denken zur Unmöglichkeit, was den Gemütszustand des Leidenden, der das fünfzigste Lebensjahr noch nicht lange überschritten hatte, sehr verdüsterte. Der behandelnde Arzt erklärte, daß sich im ganzen wenig tun ließe, verordnete eine zweckmäßige Diät und vertröstete im übrigen auf die Wirkungen einer Badekur, die bei Eintritt des nächsten Frühjahrs sofort unternommen werden sollte.

Als ich in jener trüben und bänglichen Zeit eines Abends bei dem Präsidenten eintrat, fand ich ihn zu meiner Verwunderung im Dunklen sitzen. Denn er mochte sonst die Dämmerung im Zimmer nicht und konnte es überhaupt nie hell genug um sich haben. Nachdem die beiden großen und bequemen Lampen, deren er sich stets bediente, angezündet waren, nahm er ein Papier vom Schreibtische und hielt es mir zwischen Daumen und Zeigefinger entgegen. Es war ein etwa handgroßer, vergilbter Zettel, mit wenigen Worten beschrieben.

»Ist es nicht eigentümlich?« sagte er. »Dieses Stück Papier hatte ich vor Jahren verlegt und habe späterhin alle meine Mappen, meine Schriften und Briefe – ja meine ganze Bibliothek durchstöbert, ohne es finden zu können, so daß ich es für verloren hielt. Und heute entdecke ich es zufällig in jenem kleinen alten Sekretär, woselbst es zwischen einem der vielen Schubfächer und der Hinterwand eingeklemmt gesteckt hatte.«

»Und welche Bewandtnis hat es mit diesem Zettel?«

»Er schien einst bestimmt gewesen zu sein, in meinem Leben einen Wendepunkt herbeizuführen – hat es aber nicht vermocht. Ich will Ihnen, wenn Sie nichts dagegen haben, die Geschichte, die sich daran knüpft, heute erzählen. Spannen Sie jedoch Ihre Erwartungen nicht zu hoch; was Sie hören werden, ist eigentlich nur für den Erzähler von Wert und Bedeutung. Da ich jedoch weiß, daß Sie mir eine ungewöhnliche Teilnahme schenken, so kann ich es immerhin wagen. Übrigens wird sich aus diesen Mitteilungen so ziemlich mein ganzes Wesen vor Ihnen entwickeln – und dabei manches Streiflicht auf die [50] Zeit fallen, in der ich gelebt und gewirkt. Ich kann also in dieser Hinsicht vielleicht auch Ihr objektives Interesse in Anspruch nehmen: ist doch das Leben jedes Einzelnen ein Stück Weltgeschichte.«

Der Kammerdiener brachte den Tee; bald darauf lehnte sich der Präsident im Sofa zurück und begann:


* * *


»Es war vor sechzehn Jahren, daß ich meine Vaterstadt Wien, von der mich der Staatsdienst längere Zeit hindurch fast ununterbrochen ferne gehalten, auf die Dauer wiedersah. Meine ersten Dienstjahre hatte ich in einer kleineren Provinzstadt zugebracht; späterhin wurde ich – mit bereits ziemlich hohem Range – in Ungarn verwendet. Als dort ein Umschwung eintrat, erwuchs eine große Überzahl an deutschen Beamten, die man einstweilen auf Wartegebühr setzte. Dieses Los traf auch mich. Obgleich ich nun niemals zu den Ehrgeizigen und Vielgeschäftigen, auch nicht zu jenen gehört habe, die da meinen, daß von ihrem Eingreifen das Heil der Welt abhänge, so kam es mir doch sehr unerwünscht, in diesem Augenblicke sozusagen kaltgestellt zu werden. Denn eben jetzt, wo ein neuer staatlicher Frühling anzubrechen schien, hatte ich hoffen dürfen, eine freiere und ersprießlichere Tätigkeit, als bisher, entfalten zu können. Aber zuletzt ergab ich mich doch leichten Herzens in die Umstände; denn ich war noch jung und konnte mich gedulden. Zudem erkannte ich, daß jedem, wer er auch sei, ein paar Jahre ruhiger Sammlung und Einkehr in sich selbst nur zu wünschen seien – und daß gerade mir ein besonderer Vorteil daraus erwachsen könne. Ich war als Knabe und Jüngling kein besonders fleißiger Schüler gewesen. Unstät und träumerisch, hatte ich in die Welt wie in ein bewegtes Bild hineingeblickt, wobei ich mir zwar sehr früh über Menschen und Dinge ein selbständiges Urteil bildete, aber auch in den meisten Lehrgegenständen zurückblieb, und wenn ich dennoch die vorgeschriebenen [51] Prüfungen bestand, so hatte ich dies den geringen Anforderungen zu danken, die man damals stellte. Es mußte mir daher bei reisender Einsicht immer deutlicher werden, wie unwissend ich in mancher Hinsicht geblieben war, und schon seit einigen Jahren hatte ich mit leidenschaftlichem Eifer fast jede freie Stunde benützt, Versäumtes nachzuholen und Neues in mich aufzunehmen. Das Werk meiner Bildung, soweit es überhaupt anging, zu Ende zu führen, war mir nun Muße und Gelegenheit die Fülle geboten; denn auch sonstige äußere Umstände fügten sich günstig. Meine Eltern, deren einziger Sohn ich war, hatten mir einiges Vermögen hinterlassen; dazu kam noch, daß mir, gerade in jener Zeit, von einer Verwandten mütterlicher Seite ein kleines Landhaus vererbt wurde – und zwar ein Landhaus in demselben Orte, in welchem wir beide jetzt leben. Es ist später in den Besitz eines reichen Börsenmannes übergegangen, der es sofort niederreißen und an der Stelle jene prächtige Villa hinbauen ließ, die man heute am äußersten Ende der nächsten Straße aufragen sieht. Das Haus war, wie gesagt, klein; es bestand nur aus einem Erdgeschosse mit vier bis fünf Zimmern und nahm sich auch sonst sehr unscheinbar aus. Aber dahinter erstreckte sich ein großer, echt ländlicher Garten mit zahllosen Obstbäumen und einem altmodischen, aber höchst bequemen und wetterfesten Pavillon. Ein grauköpfiger Gärtner und sein Weib, wahre Philemon-und Baucisgestalten, betreuten das Ganze, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wohltuend es mich anheimelte, als ich die schlichten, im Geschmack des Empire möblierten Räume bezog, welche mich lebhaft an meine Knabenjahre erinnerten. Denn ich hatte damals sehr oft mit meiner Mutter die gute Tante Susanne besucht, die hier mit ihrem Gatten in glücklicher, aber kinderloser Ehe lebte und mir stets die schönsten, frisch vom Baume gepflückten Kirschen und Aprikosen vorsetzte. Ich umgab mich nun mit einem Wall von Büchern, ging äußerst selten nach der Stadt und verbrachte so, vom herrlichsten Wetter begünstigt, [52] in köstlicher Einsamkeit den Frühling und einen Teil des Sommers. Es waren Tage voll hoher, geistiger Freude, vielleicht die glücklichsten meines Lebens – und doch auch nicht ganz glückliche. Das aber hing mit der eigentümlichen Stellung zusammen, die ich der Welt – vor allem jedoch dem anderen Geschlechte gegenüber einnahm. Um mich in dieser Hinsicht verständlich zu machen, muß ich jetzt hier abbrechen und wieder um Jahre zurückgreifen.«


»Ich war seit jeher äußerst empfänglich für den Reiz weiblicher Schönheit und entsinne mich, gewissermaßen schon als Knabe in ein hübsches, aufgewecktes kleines Mädchen verliebt gewesen zu sein, das mit seiner Mutter zuweilen in unser Haus kam. Später, als ich in einer höheren Klasse des Gymnasiums saß, faßte ich eine ausgesprochene Neigung zu der Schwester eines Mitschülers, den ich damals fast jeden Abend besuchte. Das Mädchen, ein Jahr jünger als ich und eben in leise knospender Entwickelung begriffen, kam dieser Neigung entgegen – und es entspann sich eines jener unaussprechlich zarten, reinen und duftigen Verhältnisse, wie sie eigentlich nur Dichter zu schildern vermögen, und wie auch wirklich Friedrich Hebbel ein solches in seinem Liederzyklus ›Ein frühes Liebeleben‹ so einzig geschildert hat. Aber man kam im Hause dahinter; die Eltern überschütteten das Kind mit heftigen, grausamen Vorwürfen und schickten es zu Verwandten aufs Land, wohin sie später selbst und zwar für immer nachfolgten. Ich empfand bei dieser gewaltsamen Trennung ein herzzerreißendes Weh; aber es verklärte sich bald zu einem schönen, elegischen Schmerz, den ich nach Art schwärmerischer Jünglinge hegte und pflegte, und der das Gute hatte, daß er meine Natur vor frühzeitigen Ausschreitungen bewahrte. Aber der Dämon, der in mir schlummerte, wurde dennoch früh genug geweckt. Und zwar geschah dies durch höchst leidenschaftliche Beziehungen, in welche ich [53] während meines Aufenthalts in der erwähnten Provinzstadt verwickelt wurde. Ich hatte nämlich auf einem Balle die Tochter eines dortigen Finanzbeamten kennen gelernt; ein außerordentlich schönes, aber leichtsinniges und früh verderbtes Mädchen, in welches ich mich jedoch derart verliebte, daß ich nahe daran war, es zu heiraten. Nur dem Umstande, daß man mir plötzlich einen Abenteuerer vorzog, der die Rolle eines russischen Fürsten spielte und später den Gerichten übergeben wurde, hatte ich es zu danken, daß ich diese Tollheit nicht beging. Was ich aber damals litt, können Sie sich vorstellen. Es war eben eine erste wirkliche Leidenschaft, die ich durchzukämpfen hatte, und wer weiß, ob und wie ich es vermocht hätte, wenn nicht gerade in jener Zeit ein trauriges Ereignis eingetreten wäre, das mir gewissermaßen zu Hilfe kam: ich wurde nämlich an das Sterbelager meines Vaters nach Wien berufen. Diese Erschütterung wirkte derart, daß alles andere wie ein wüster Traum zerfloß, und ich weit früher Herr meiner selbst wurde, als dies wohl sonst der Fall gewesen wäre. Dennoch blieb ein Stachel in mir zurück. Ich hatte im Verkehr mit Theodora – dies war der Name meiner treulosen Schönen – Freuden der Liebe kennen gelernt, die ich nicht mehr zu entbehren vermochte, und so geriet ich auf Abwege, die zu seelenlosem Genusse führten, wie ihn große Städte uns Männern nur allzu leicht und willig darbieten.

Daß mir dabei nicht wohl zumute war, werden Sie mir glauben. Ich empfand vielmehr die Vereinsamung meines Herzens immer schmerzlicher und sehnte mich inmitten frivoler Beziehungen, die mich innerlich oft aufs tiefste beschämten, nach reinen und edlen Lebensverhältnissen. Dabei schwebte mir als Ideal ein stilles eheliches Glück an der Seite eines schlichten, treuherzigen Geschöpfes vor, wie es meine frühe Jugendgeliebte gewesen, und dessen Eigenschaften in geradem Gegensatze zu jenen einer Weltdame hätten stehen müssen. Vor solchen hatte ich seit jeher eine geheime Scheu empfunden, wie ich [54] mich denn überhaupt in der ehrgeizigen und anspruchsvollen Vornehmheit höherer Kreise niemals habe zurechtfinden können. Stammte ich doch selbst aus einer bürgerlichen Familie. Mein Vater hatte sich zwar im Staatsdienste den Adel erworben; aber aller Schein, alles prunkende Wesen war ihm zeitlebens verhaßt geblieben, eine Eigenschaft, die sich in mir fortgeerbt hatte und mich gewissermaßen in Widerspruch mit meiner äußeren Stellung brachte. Dies alles erfüllte mich mit einer quälenden Unzufriedenheit, mit einem drückenden Gefühl des Entbehrens, das auch dann noch leise sein Recht geltend machte, wenn ich mich, wie in jenen glücklichen Tagen, von denen ich Ihnen gesprochen, ganz und gar in Studien und Arbeiten versenkt hatte.«


»Kehren wir also in mein Landhaus zurück, woselbst ich eines Morgens ziemlich abgespannt erwachte. Ich hatte mich während der letzten Wochen müde gearbeitet, war dabei über meinen Garten nicht hinausgekommen – und dachte daran, mich wieder einmal in der Welt umzusehen, daher ich denn auch im Laufe des Vormittags das Haus verließ.

Es war Sonntag. Die hellste Junisonne funkelte vom blauen Himmel nieder, die Gassen waren leer und still, leise Orgelklänge zitterten in der Luft. Unwillkürlich ging ich diesen Klängen nach und stand bald auf dem nahen Kirchenplatze. Dort war keine Seele zu erblicken; aber von drinnen heraus brauste nun die Orgel mächtig und erscholl der vielstimmige Gesang des Hochamtes. Ich hatte diese Kirche noch niemals betreten und fühlte mich angezogen, hineinzugehen. Der Raum war überfüllt, so zwar, daß ich nur mit einiger Anstrengung nach vorne gelangen konnte. Die Andächtigen bestanden zum größten Teile aus der halbbäuerlichen Ortsbevölkerung; die vornehmere Einwohnerschaft war eigentlich bloß durch das weibliche Geschlecht vertreten, das in mehr oder minder stattlichem Putz die vorderen Kirchenbänke einnahm. Ich [55] konnte bemerken, daß mein Erscheinen dort nach und nach Aufmerksamkeit erregte. Manches schüchterne Auge sah mich verstohlen von der Seite an, während dreistere einen raschen Vollblick wagten. Plötzlich aber wurde meine eigene Aufmerksamkeit gefesselt. Ganz in meiner Nähe, am äußersten Ende eines Betstuhles, saß nämlich ein junges Mädchen, das ich nicht sogleich bemerkt hatte. Schlicht, aber höchst anmutig gekleidet, das feine Gesichtchen von glänzenden braunen Haaren umrahmt, war sie das lieblichste Geschöpf, das man sehen konnte. Alles an ihr erschien wie gemeißelt: von der sanft gewölbten Stirn und dem zierlichen Näschen bis zu den zarten Schultern hinab, die weiß unter weißem Tüll hervorschimmerten. Sie mußte jedenfalls meiner bereits ansichtig geworden sein, und aus einer gewissen Unruhe, die sie kundgab, konnte ich erkennen, daß sie, ohne mich anzusehen, meinen Blick fühlte. Ihre Wangen, die wie der Untergrund der schön gezeichneten Brauen rosig gefärbt waren, nahmen allmählich eine brennende Korallenröte an, und das kleine Gebetbuch, das sie in den schmalen Händen hielt, begann leise zu beben. Ich wandte mich nun von ihr ab und den kirchlichen Funktionen am Altare zu. Mein innerer Sinn jedoch hielt die holde Erscheinung fest, während sich vor mir die Priester in pomphaften Meßgewändern hin und her bewegten, Weihrauch die funkelnde Monstranz umqualmte und oben auf dem Chor ein leidenschaftliches Hosianna erklang. Ein sanfter Schauer durchrieselte mich, und ich hatte nur den einen Wunsch, daß dieses Hochamt kein Ende nehmen möchte. Aber schon war das ›ite, missa est!‹ erklungen – und alles drängte dem Ausgang zu. Auch die junge Schöne verließ ihren Platz, wobei sich zum erstenmal unsere Blicke begegneten. In Begleitung zweier anderer Mädchen, welche ihr zur Seite gesessen hatten, überschritt sie den Platz vor der Kirche; dann schlugen die drei schlanken Gestalten, indes ich in einiger Entfernung folgte, lebhaften Gespräches den Weg nach jener Gasse ein, welche heute nebst der Hauptstraße als die vornehmste [56] gilt. Damals aber war sie erst im Entstehen begriffen und wurde eigentlich nur von weitläufigen Einplankungen wüster Baugründe gebildet, die sich zwischen einigen vereinzelten Neubauten hinzogen. Vor einem dieser stattlichen Häuser verabschiedeten sich die zwei anderen Mädchen und traten in das Tor; die Alleingebliebene jedoch überschritt, den Saum ihres Kleides anmutig emporhebend, die hochbestäubte Straße, ging jenseits rasch noch eine Strecke fort und bog dann in eine Art Seitenweg ein, der ins Freie zu führen schien. Ich bewegte mich nun auch schneller und konnte noch gewahren, wie sie einem mäßig großen Landhause, das ganz einsam im Grünen lag, zueilte, die Torklinke ergriff und, mit einer Wendung des Kopfes nach mir zurückblickend, verschwand.

Ich war unschlüssig stehen geblieben, schlug aber jetzt, ohne es eigentlich zu wollen, dieselbe Richtung ein. Tiefe, sommerliche Stille empfing mich. Versengend brütete die Mittagshitze über ausgedehnten Gemüsepflanzungen, die mit einigen hohen Ziehbrunnen nach links hin zum Vorschein kamen; auf der anderen Seite erglänzten regungslos die Baumwipfel eines großen, wohlgepflegten Gartens, der sich dem Hause entgegenzog. Dieses selbst erschien mit geschlossenen Jalousien wie ausgestorben; nur einen Augenblick war es mir gewesen, als hätte sich oben am äußersten Fenster eine Sprosse bewegt. Als ich jetzt an den weißen Mauern vorüberging, schrak ich plötzlich zusammen. Denn aus einem offenen Fenster des Erdgeschosses sah ein weibliches Antlitz, das mich wie das Haupt der Meduse anstarrte. In der Tat ringelten sich die dunklen Haare über die blassen Schläfen hinweg nach rückwärts wie Schlangen zusammen, und in den finsteren Augen lag trotz der eisigen Gleichgültigkeit, mit der sie blickten, etwas so tief Feindseliges, daß ich unwillkürlich meine Schritte beschleunigte.

Auf einem Umwege nach Hause zurückkehrend, traf ich die alte Gärtnerfrau am Tore stehen und fragte sie, indem [57] ich ihr Lage und Aussehen der einsamen Villa beschrieb, ob sie wisse, wem dieselbe gehöre.

›Ach ja,‹ sagte sie nach kurzem Nachsinnen, ›Sie meinen das Haus des Herrn Ott.‹

›Und wer ist dieser Herr Ott?‹

›Vorsteher einer großen Fabriksniederlage in der Stadt. Er lebt jedoch mit seiner Familie Sommer und Winter hier. Denn er ist ein mürrischer und leutescheuer Mann, der nur ein Vergnügen kennt: die Obst- und Blumenzucht, mit der er uns ins Handwerk pfuscht.‹

›Und besitzt er eine zahlreiche Familie?‹

›Freilich. Er ist zum zweiten Male verheiratet. Aus erster Ehe hat er nur eine Tochter. Von der jetzigen aber gibt's Kinder der Reihe nach, wie die Orgelpfeifen.‹

›Wie alt mag die Tochter aus erster Ehe sein?‹

›Wie alt? Nun so über die Zwanzig. Die ist dem Vater nach geraten; man bekommt kein freundliches Gesicht von ihr zu sehen. Aber die Älteste der zweiten Frau, die Hermine – das ist ein wahrer Schatz!‹

›Hermine heißt sie –?‹

›Ja. Haben Sie das Fräulein vielleicht schon gesehen? Wie Milch und Blut, frisch und heiter – die gute Stunde selbst. Und auch brav und tüchtig ist sie. Ihre Mutter war in der letzten Zeit recht schwer krank; da hatte sie das Hauswesen ganz allein geführt, trotz ihrer siebzehn Jahre. Denn die andere dünkt sich zu gut für derlei. Die sitzt den ganzen Tag in ihrem Zimmer und studiert, gerade wie Sie, gnädiger Herr. Man sagt sogar, daß sie Bücher schreibt.‹

Ich wußte genug und ging, um die Alte nicht merken zu lassen, welche Freude ihre Mitteilungen in mir hervorgerufen. Als ich mich aber allein befand, jubelte ich auf. Da hatte ich ja plötzlich gefunden, wonach ich jahrelang gesucht! Und je reiflicher ich alle Umstände erwog, desto überzeugender empfand ich es. Stand ich doch noch in der Blüte meiner männlichen[58] Jahre: der innerste Kern meiner Natur war frisch und unversehrt; ich konnte also recht wohl der Gatte eines jungen Mädchens werden, das gewissermaßen in ländlicher Abgeschiedenheit herangewachsen war und nebst einem heiteren, unbefangenen Gemüte regen häuslichen Sinn bekundete. Ich konnte ja – woran ich in letzter Zeit ohnehin mehrmals gedacht hatte – den Staatsdienst ganz und gar aufgeben, konnte ein Landgut erwerben und, sozusagen, meinen Kohl selbst bauen. Dabei auch eine gesunde volkswirtschaftliche Tätigkeit entfalten, mich späterhin in den Reichsrat wählen lassen, um meine Kenntnisse und geistigen Fähigkeiten auf diese Art zum allgemeinen Besten zu verwerten. So spann ich bereits goldene Träume. Daß zuletzt alles von der Zustimmung meiner rasch Erwählten abhing, daran dachte ich gar nicht; so sicher, so frei von jedem Zweifel fühlte ich mich in dieser Hinsicht. Eine andere Frage war freilich, wie und wo ich einen Anknüpfungspunkt finden sollte. Mich nur geradezu als Freiwerber in das Haus des Herrn Ott zu begeben, ging doch nicht an; zudem widersprach ein solches Vorgehen ganz und gar meinem Wesen, in welchem damals noch ein gutes Stück jugendlicher Romantik stak. Es mußte also eine Gelegenheit abgewartet oder herbeigeführt werden, um mich dem Mädchen selbst nähern zu können.

Über solchen Erwägungen verstrichen die nächsten zwei Tage, wobei ich jedoch wiederholte Gänge durch den Ort unternahm, in der Hoffnung auf eine zufällige Begegnung. Da sich aber diese Hoffnung nicht erfüllte, näherte ich mich immer mehr dem weißen Hause und ging endlich vorüber, wobei ich einen ängstlichen Blick nach dem Fenster der Meduse tat, welche ich diesmal zum Glück nicht gewahrte. Aber auch im oberen Stockwerke war niemand zu sehen; als ich jedoch vorsichtig über die Gartenplanke spähte, saß Hermine, von mir abgewendet, an der Seite einer älteren Frau im Schatten einer Platane. Da dicht vor mir üppig wucherndes Hollundergebüsch aufragte, glaubte ich mich gedeckt und blieb stehen; allein zwei muntere [59] Knaben, die sich auf einem Rasenplatze tummelten, bemerkten mich bald, und so setzte ich rasch meinen Weg fort, überzeugt, daß ich hier, ohne sofort jedermann aufzufallen, nicht mehr vorübergehen könne.

Ich vertröstete mich also auf den nächsten Sonntag, an welchem ich mich schon ziemlich früh vor der Kirche einfand; denn ich wollte Hermine herankommen sehen. Immer zahlreicher gingen die Kirchenbesucher an mir vorüber; die Turmglocke hatte bereits ihre letzten Schwingungen getan; einzelne Nachzügler überschritten den Platz – aber die Erwartete war noch immer nicht erschienen. Schon begann ich zu verzweifeln – als ich sie endlich in der Ferne erblickte. Eiligen Schrittes kam sie mit den zwei Freundinnen näher; diesmal ganz weiß gekleidet; selbst das leichte Strohhütchen hatte nur ein weißes Band zum Schmuck. Sie sah entzückend aus, wie sie jetzt, überrascht und doch sichtlich befriedigt, mit gesenkten Wimpern an mir vorüberging, während mich eines der beiden anderen Mädchen schalkhaft von der Seite ansah. In der Kirche selbst hatte ich die Genugtuung, wahrzunehmen, wie sie sich zur Andacht zwang und doch nicht verhindern konnte, daß ihre Augen stets den meinen begegneten. Daß ich ihr später wieder folgte, ist selbstverständlich, und es spielte sich alles so ab, wie am verflossenen Sonntage, nur mit dem Unterschiede, daß sie, bevor sie in das Haus trat, ein wenig länger nach mir zurückblickte.

Nun fühlte ich aber, daß es zu handeln galt. In meine Wohnung zurückgekehrt, setzte ich mich sofort an den Schreibtisch. Fest überzeugt, daß man meine Empfindungen bereits erkannt habe und auch bis zu einem gewissen Grade teile, brachte ich rasch einige Zeilen zu Papier, worin ich mit warmen, ungeschminkten Worten um eine Zusammenkunft ohne Zeugen bat, beifügend, daß ich eine bestimmende Antwort durch die Post erwarte. Nachdem ich den Brief geschlossen und die Adresse geschrieben hatte, ließ ich die Gärtnerfrau zu mir bescheiden.

›Wäre es möglich,‹ fragte ich, als die Alte eingetreten war [60] und wie gewöhnlich in demütig wohlwollender Haltung vor mir stand, ›wäre es möglich, diesen Brief dem Fräulein Hermine Ott zukommen zu lassen, ohne daß es jemand bemerkt?‹

Die Alte sah mich zuerst überrascht, dann höchst einfältig an. Endlich lächelte sie, aber gleich darauf verfinsterte sich ihr von zahlreichen Fältchen durchfurchtes Gesicht. ›Es könnte wohl gehen,‹ erwiderte sie zögernd; ›man müßte Mittel und Wege finden – aber ....‹

›Ich weiß, was Sie sagen wollen, meine Liebe. Sie können jedoch ganz ruhig sein. Der Brief enthält durchaus nichts Verfängliches, wenn ich auch Gründe habe, zu wünschen, daß er in solcher Weise bestellt werde.‹

Ich hatte dies unwillkürlich in sehr ernstem und strengem Tone gesprochen, so daß das gute Weib ganz bestürzt und ängstlich wurde.

›Mein Gott!‹ rief sie und faltete die Hände. ›Ich habe ja an nichts Böses gedacht; ich weiß ja, daß Euer Gnaden – – Ich meinte nur – und wenn Sie wirklich eine ernste Absicht hätten –‹

›Das ist meine Sache, beste Frau.‹

›Gewiß, gewiß, gnädiger Herr. Und damit Sie nicht glauben, daß ich etwa – – so geben Sie mir den Brief. Fräulein Hermine soll ihn von mir selbst bekommen – gleich morgen soll sie ihn haben. Ich weiß schon, wie ich es anstelle. Verlassen Sie sich darauf!‹

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als mich auch schon Reue erfaßte. Was hatte ich da getan? Töricht und unbesonnen das Geheimnis meines Herzens fremden Wissen, fremden Händen anvertraut! Und nicht nur mich selbst hatte ich bloßgestellt, nein, noch weit mehr das holde Geschöpf, das ja vielleicht noch keine Ahnung hatte von dem, was ihm bevorstand! Dennoch nahm ich den Brief nicht zurück. Denn schon sagte ich mir, daß man nicht jederzeit und unter allen Umständen ganz korrekt vorgehen könne. Und was war [61] es denn auch weiter? Ich hatte mich einer treuen, redlichen Seele eröffnet, der jeder Mißbrauch, jeder Verrat gänzlich ferne lag. Nahm Hermine den Brief – und es fiel mir jetzt wieder nicht ein, daran zu zweifeln – so hatte sie ihr Schicksal in der Hand. Wies sie ihn ab, dann fiel alles Unangenehme, alles Peinliche auf mich allein zurück, und ich mußte es eben zu tragen wissen. So ließ ich denn die Sache ihren Lauf nehmen.

Schon am nächsten Vormittag kam die Alte mit strahlendem Gesicht und brachte mir die Nachricht, daß es ihr gelungen sei, den Brief zu übergeben, und zwar bei Gelegenheit einiger Einkäufe, die das Fräulein, wie ihr bekannt war, jeden Morgen in der Hauptstraße zu besorgen pflegte. Man sei anfangs erschrocken gewesen, habe sich geweigert – endlich aber doch den Brief rasch an sich genommen. Geradeso hatt' ich es erwartet, dankte der Botin und sah getrost einer Antwort entgegen.

Diese Antwort aber ließ auf sich warten. Es verging ein Tag, ein zweiter, ein dritter – und der Briefträger brachte nur Gleichgültiges. Als ich am Donnerstage nichts erhielt, sank mir die Zuversicht. Ich begann zu zweifeln und dabei noch mit einer Art Aberglauben zu wünschen, daß der Brief nur nicht morgen, daß heißt an einem Freitag, eintreffen möge. Er blieb in der Tat aus, auch am Samstage – und, worauf ich meine letzte Hoffnung gesetzt hatte: auch am Sonntagsmorgen. Nun gab ich alles verloren; aber ich fand mich doch wieder vor der Kirche ein, denn ich wollte Klarheit um jeden Preis. Meine Herzensangst wurde jedoch vernichtende Gewißheit, als ich die Mädchen herankommen sah. Alle drei zeigten heute ein sehr ernstes, zurückhaltendes Wesen, und in der Kirche blieben die Augen Herminens hartnäckig auf das kleine Gebetbuch gerichtet. Ja, es konnte kein Zweifel mehr sein: sie fühlte sich beleidigt, verletzt, der Traum war zerronnen. So würde ich es diesmal auch nicht mehr gewagt haben, ihr zu folgen, wenn nicht ein rascher Blick, den sie plötzlich, wie auffordernd, [62] nach mir zurückwarf, meinen erloschenen Mut hätte aufflackern lassen. Wer aber beschreibt meine Überraschung, mein Entzücken, als sie, nachdem sie sich von ihren Freundinnen getrennt hatte, ein zusammengebogenes Papier fallen ließ, das ich, vorsichtig umherspähend, vom Boden aufnahm, und welches in sorgfältiger, noch sehr kindlicher Handschrift die Worte enthielt: ›Morgen um zwei Uhr im Liechtensteinschen Garten.‹

Dieser Garten wird Ihnen nicht unbekannt sein; sei es auch nur mit Hinblick auf die herrliche Gemäldesammlung, die sich in dem alten fürstlichen Palais befindet. Für mich aber war bereits damals so manche Erinnerung an ihn geknüpft. Denn da ich als Knabe mit meinen Eltern in dem nächstgelegenen Stadtteile wohnte, so hatte ich manchen schulfreien Sommertag, und zwar meistens allein, dort zugebracht. Am liebsten hielt ich mich im rückwärtigen Teil auf, wo nach englischem Geschmack Felsenpartien, Grotten und Wasserfälle angebracht waren. Für den heutigen Blick freilich alles kleinlich und unbedeutend genug; aber mein kindliches Gemüt empfand alle geheimnisvollen Schauer der Einsamkeit, wenn ich in dieser Schattenkühle saß und mich in die ›deutschen Volksbücher‹ oder in die Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹ versenkte.

Schon damals war es mir nicht entgangen, daß der Garten um die Mittagszeit, wo er am wenigsten besucht war, als Zusammenkunftsort für Personen verschiedenen Geschlechts diente, und mehr als einmal hatte ich lauschige Grottensitze instinktiv geräumt, wenn ich ein einsames Pärchen langsam heranwandeln sah. Wie viele Menschenschicksale mochten sich von Generation zu Generation in diesem Garten schon verknüpft haben, seit er, als eine der ältesten Oasen in dem Häuserqualm und Straßenstaub der Großstadt, mit jedem Frühling aufs neue grünt und blüht! Und nun sollte auch mir dort die Stunde des Glückes schlagen! So dachte ich, während ich selig in meiner Zimmerflucht auf und nieder schritt. Das unsägliche, reine Entzücken [63] der Liebe, der ganze schwärmerische Seelenjubel eines Jünglings war in mich eingezogen, so daß ich endlich über mich selbst lächeln mußte und, um diesem Taumel Einhalt zu tun, meinen Gedanken eine andere Richtung aufnötigte. Ich fuhr nach der Stadt, stattete einige schon längst beabsichtigte Visiten ab, speiste mit gleichgültigen Bekannten in einem Hotel und ging dann in die Oper, wo man die Zauberflöte gab. Die Saison näherte sich bereits dem Schlusse; das Haus war sommerlich leer, die Darstellung ungenügend, und ich fuhr nach dem ersten Akt wieder nach Hause, wo ich die Nacht in einer Art Halbschlummer zubrachte.

Der nächste Vormittag wurde mir unerträglich lang; ich machte mich daher schon vor zwölf Uhr auf den Weg, um durch Besichtigung der Galerie, die ich schon lange nicht mehr in Augenschein genommen hatte, meine Ungeduld zu übertäuben. Aber was konnten mir heute Tizian, Rembrandt und Rubens sein? Ich sah nur schattenhafte Umrisse, die farbig vor meinen Blicken tanzten. Der Galeriediener war sehr verwundert und nahm es sichtlich übel, daß ich so rasch und teilnahmslos durch die Säle schritt; ein ansehnliches Trinkgeld aber, das ich ihm später ausfolgte, stellte mich in seiner Achtung wieder her.

Da es noch immer kaum ein Uhr war, so durchwandelte ich den Garten, wobei ich diesen zu meiner Freude fast gänzlich unbesucht fand. In der Nähe des Teiches saß eine ärmlich gekleidete alte Frau und verzehrte, während sie den Schwänen Krume zuwarf, ihr Mittagsessen, das, wie ich bemerken konnte, aus einer Semmel und etwas Käse bestand. Die Ärmste erschrak, als sie meiner ansichtig ward, und suchte verschämt das dürftige Mahl hinter einem Tuche zu verbergen. Weiter nach rückwärts, im Schatten eines Gebüsches und mit einem fragwürdigen Hütlein auf wirrem Haargelock, war eine jüngere Dame in Lektüre versunken; im Dunkel der Felsenpartien verschlief eine männliche Jammergestalt aus der ungezählten Schar der Beschäftigungslosen mit überhangendem Haupte die Mittagszeit.

[64] So war ich bald wieder beim Eingang angelangt und ließ mich auf eine halbwegs vor der Sonne geschützte Bank des Parterres nieder, wo ich jeden Eintretenden sofort gewahr werden mußte.

Der Tag war glühend heiß. Weiße, leuchtende Wolkenmassen standen dicht geballt am Himmel; aus einer nahe gelegenen Schmiede tönte hastiges Gehämmer in die Stille des Gartens, von Zeit zu Zeit auch das Rollen eines Wagens und der Schlag zweier Turmuhren, die den trägen Gang der Stunden anzeigten. Ich blickte vor mich hin und konnte keinen anderen Gedanken fassen als den, daß sie nun kommen sollte. Alles andere verschwamm in goldenem Duft wie die Wipfel um mich her .....

Endlich schlug es in langsamer Wiederholung zwei Uhr. Ich fühlte, wie mein Herz still stand, um gleich darauf desto heftiger zu pochen. So verharrte ich in atemloser Spannung.

Jetzt zuckte ich zusammen. Ein Sonnenschirm! Sie ist es! Doch halt – noch ein Sonnenschirm. Wie ärgerlich, daß gerade jetzt noch andere Leute erscheinen müssen! So dachte ich, während zwei weibliche Gestalten durch das Gittertor traten, und sank enttäuscht in die Bank zurück, von der ich mich schon halb erhoben hatte.

Aber ist das nicht ihr Gang? Ihr zierlicher Wuchs? Beim Himmel, sie ist es – doch nicht allein! Und nun fühlte ich mich wie vom Blitz getroffen: ich hatte in der Begleiterin die Meduse erkannt.

Endlich stand ich doch auf; denn ich bemerkte, daß diese sich von ihrer Schwester trennte und einen Seitenpfad einschlug, während Hermine mit raschen Schritten geraden Weges auf mich zukam. Über ihrem Antlitz lag eine emailartige Blässe, von der die großen, dunklen Augen auffallend ernst und finster abstachen.

›Ich habe Sie, da ich mit meiner Schwester einiges in der Stadt besorgen muß, hieher gebeten,‹ begann sie, ohne [65] eine Anrede von meiner Seite abzuwarten, ›um Sie zu fragen, was Sie eigentlich mit Ihrem Briefe beabsichtigten?‹

Diese Worte, welche trotz eines leichten Zitterns der Stimme, in einem scharfen und schneidenden Tone gesprochen wurden, standen in solchem Widerspruche mit meinen Erwartungen und überraschten mich derart, daß ich eine Zeitlang gar nichts entgegnen konnte. ›Was ich beabsichtigte?‹ brachte ich endlich mühsam hervor. ›Nun, wenn Sie das nicht selbst fühlen –‹

›Ich fühle gar nichts, mein Herr, und kann Ihnen nur sagen, daß Sie sich in mir geirrt haben.‹

Der verächtliche Blick, den sie dabei auf mich warf, brachte mich zur Besinnung. Meine ganze männliche Überlegenheit war plötzlich in mir erwacht, während sich eine kalte Ruhe meines Inneren bemächtigte. ›Ich glaube jetzt selbst, daß ich mich in Ihnen geirrt habe, mein Fräulein‹, sagte ich nach einer Pause.

›Gewiß!‹ bekräftigte sie und warf das Haupt empor. ›Ich bin nicht gewohnt, leichtfertige Beziehungen anzuknüpfen.‹

Ich war nahe daran, aufzulachen. Diese Äußerung erschien mir in ihrer Banalität weit eher eine Behauptung des Gegenteils; ich hielt sie daher gar keiner Auseinandersetzung wert und sagte bloß ironisch: ›Es fällt mir durchaus nicht bei, Ihre löblichen Grundsätze erschüttern zu wollen.‹

Sie hatte offenbar eine andere Sprache erwartet, denn sie schrak leicht zusammen und preßte ihr Taschentuch an die Lippen. Aber sie fuhr auch sogleich in sehr bestimmtem Tone fort: ›Ich muß Sie daher bitten, mich fernerhin in keiner Weise zu belästigen.‹

›Sie können sich dessen versichert halten.‹

›Und vor allem nicht mehr in die Kirche zu kommen, die ich in letzter Zeit nur deswegen ohne meine Mutter besucht habe, weil sie krank war.‹

Sie schien bei diesen Worten allmählich ihre Haltung zu verlieren. Ihr Blick, ihr Gang wurden unsicher, während sie merklich nach Atem rang. Aber mein Herz hatte sich bereits [66] derart verhärtet, daß ich das alles mit einer Art grausamer Schadenfreude wahrnahm und in gemessenem Tone erwiderte: ›Sie werden mich nicht mehr sehen, es wäre denn infolge eines Zufalls, für welchen ich keine Verantwortung übernehme.‹ Hierbei machte ich, den Hut lüftend, eine übertrieben höfliche Verbeugung, um mich zu verabschieden.

Sie stand unschlüssig da. Es war, als wollte sie noch etwas sagen, und ihr zarter Busen hob und senkte sich rasch. Dann aber zog sie zu einem stolzen, flüchtigen Gruß das Kinn an und eilte fort.

Mit hoffärtiger Genugtuung blickte ich ihr nach, bis sie mit der Meduse, die ihr auf halbem Wege entgegenkam, draußen verschwunden war. Dann schalt ich mich ob meiner Torheit, die mir einen solchen Streich gespielt und schritt, während sich jetzt der Garten allmählich mit Menschen zu beleben begann, eine Zeitlang auf und nieder, wobei ich in meinem Ärger eine heitere Melodie vor mich hinsummte. Dann verließ ich den Ort meiner Enttäuschung. In der nächsten Straße kam eben ein leerer Fiaker vorüber, ich warf mich hinein und fuhr nach Hause.«


»Dieses unerquickliche, peinliche Erlebnis,« fuhr der Präsident nach einer Pause fort, »verleidete mir meine Studien und war die Veranlassung, daß ich mich, um jede quälende Erinnerung zu übertäuben, kopfüber in Zerstreuungen stürzte, wozu Wien auch noch im Sommer Gelegenheit genug bietet. Ich fuhr nun fast jeden Tag nach der Stadt, nahm vernachlässigte Bekanntschaften auf, knüpfte neue an, griff dabei nach allem, was sich an Vergnügungen und Genüssen eben darbot, und kehrte erst bei später Nacht in meine ländliche Behausung zurück. So vergingen die nächsten Wochen, und schon war ich im Begriffe, eine Sommerfrische in Tirol oder im Salzkammergut aufzusuchen, als ich plötzlich wieder zum Dienst einberufen wurde. Man war an leitender Stelle, ich weiß nicht wie, auf mich aufmerksam geworden und versetzte mich in ein Ministerium, [67] wo mir ein nicht unwichtiges Referat anvertraut wurde. Ich begrüßte diese neue Tätigkeit mit großer Freude. Denn obgleich ich, wie schon gesagt, niemals zu den Vielgeschäftigen gehört habe, so war mir doch eigentlicher Müßiggang seit jeher gründlich verhaßt. Aber diese Rückkehr zu meinem alten Berufe zog manche Veränderung nach sich. Vor allem konnte ich nicht länger hier außen wohnen bleiben und mietete mich daher in der Stadt ein. Bald darauf drang ein reicher Mann, dem die Lage meines Landhauses gefiel, sehr hartnäckig in mich, es ihm zu verkaufen. Da es mir nun einmal samt seiner Umgebung doch schon verleidet war, so widerstand ich schließlich dem äußerst glänzenden Angebote um so weniger, als sich mir gerade in jener Zeit ein ziemlich dringendes Bedürfnis nach erhöhten Einnahmen im allgemeinen sowohl, wie auch im besonderen fühlbar gemacht hatte. Ich war nämlich, wie denn der Zufall solche unbewachte Augenblicke stets wahrzunehmen pflegt, inzwischen in die Netze eines außerordentlich schönen Weibes geraten, das mir sehr viele Auslagen verursachte, und welchem ich später, um ganz und gar unmöglich gewordene Beziehungen endgültig zu lösen, fast mein ganzes Vermögen zum Opfer bringen mußte. Aber nicht des Geldverlustes wegen – nebenbei bemerkt, ist der Rest des Kaufschillings, der aus Papieren bestand, in den Abgrund des späteren großen Börsensturzes gesunken – bereue ich es jetzt, mein kleines Besitztum dahingegeben zu haben, sondern nur, weil es mir in der Erinnerung wieder lieb und teuer geworden und ich gern meine Tage in diesen nun für immer verschwundenen Räumen beschlossen hätte. –

Zu jener Zeit, wo mein Verkehr mit dem erwähnten schönen Weibe noch in seiner ersten reizenden Blüte stand, hatten wir, ich und sie, an einem wundervollen Herbsttage – ich glaube, es war schon im Oktober – einen kleinen Ausflug unternommen. Wir waren nach Dornbach gefahren, dort ausgestiegen und gingen dann der sogenannten Sophienalpe zu, um später ein kleines [68] Diner einzunehmen, das wir im Gasthause zur ›Rohrhütte‹ bestellt hatten. Unser Gang durch die gelb und rot gefärbten Buchenwälder war herrlich. Eine sanfte, tiefe Ruhe war rings umher ausgegossen, und keine Menschenseele begegnete uns. Ebenso lautlos war es bei unserer Rückkehr im Gasthause, wo wir uns einen der im Freien angebrachten Tische decken ließen. Aber wir saßen noch nicht lange, als sich von einem nahen Waldwege her lauter Gesang, Männer- und Frauenstimmen gemischt, vernehmen ließ, und auch bald darauf ein bunter Schwarm fröhlicher Menschen in Sicht kam. Es war eine echte Landpartiegesellschaft. Die Männer, ihre Hüte im Nacken und mit Reisern geschmückt, trugen Überröcke und Plaids über die Schultern geworfen, die Frauen und Mädchen, Taschen und Körbchen am Arm, schritten in hochgeschürzten Kleidern fröhlich einher, während erhitzte und bestäubte Kinder lärmend voraus und auf das Gasthaus zusprangen.

Obgleich uns die zahlreichen Ankömmlinge nicht eben erwünscht waren, so blickten wir doch mit einem gewissen Vergnügen nach den Leuten, die nun, indem sie rasch einige Tische aneinander rücken ließen, mit lauten Rufen und verworrenen Befehlen Trank und Speise verlangten. Ich hatte aber kaum etwas näher hingesehen, als ich auch schon unter den weiblichen Gästen Hermine erkannte, welche mir, eben im Begriff, sich an der Seite eines jungen Mannes niederzulassen, in demselben Moment gleichfalls den Blick zuwandte. Ich konnte deutlich bemerken, wie sie, gleichsam erstarrt, in ihrer Bewegung innehielt und sich, ganz blaß, an den Rand des Tisches lehnte, so zwar, daß die ihr zunächst Befindlichen sie überrascht und besorgt ansahen. Sie schien einige beruhigende Worte zu sagen und setzte sich dann, leicht mit der Hand über Stirn und Wange streichend, worauf sie sich sogleich mit sichtlich erzwungener Lebhaftigkeit in die Unterhaltung mischte.

Meine Begleiterin gewahrte von dem allen nichts, oder wenn auch, so legte sie doch kein Gewicht darauf. Selbst der [69] Umstand, daß Hermine sie später, zu uns herüberblickend, gleichsam mit den Augen verschlang, befremdete sie nicht; denn sie war es gewohnt, sich von jedermann und nicht zum mindesten von ihrem eigenen Geschlechte bestaunt zu sehen. Ich aber befand mich sehr begreiflicherweise in einem eigentümlichen Gemütszustande. Beim Anblick Herminens hatte es mich durchzuckt; nun tauchten die niedergehaltenen Erinnerungen in mir auf. Einerseits empfand ich eine Art von Beschämung, daß sich meine Gedanken mit diesem Mädchen, welches ich jetzt inmitten der lauten, sich in platter Behäbigkeit und in nicht allzufeinen Scherzen gefallenden Gesellschaft sitzen sah, jemals ernsthaft hatten beschäftigen können – und doch durchzitterte mich leise Wehmut, und doch war es ein vorwurfsvoller Schmerz, was sich in meiner Brust zu regen begann. Ich wurde immer ernster und stiller, so daß es endlich meiner Dame auffiel, die mich fragte, warum ich so schweigsam sei. Ich wies, gleichsam ungehalten, auf die Tafelrunde vor uns, die sich bei frisch gefüllten Gläsern immer ungezwungener benahm, und schlug vor, nach Hause zu fahren, da es ohnehin schon anfange, kühl zu werden.

Die erste Zeit der Fahrt blieb ich in mich gekehrt; als wir uns aber der Stadt näherten und endlich die Räder auf dem Pflaster der abendlich durchwogten Straßen dahinrollten, hatt' ich es überwunden. Ich küßte die weiße Hand, die in der meinen ruhte – und das Bild Herminens versank wieder.


Jahre gingen dahin. Schwere Schicksale waren inzwischen über unser Vaterland hereingebrochen – und man rang, wie schon so oft, nach einem Halt. Ich war dabei in meiner amtlichen Stellung sehr rasch befördert worden, und als jetzt die Zeit ratloser Versuche begann, stellte mich ein Ministerium, das man über Nacht gebildet hatte, an die Spitze einer Provinz, die infolge nationaler Sonderbestrebungen in sich gespalten war. Ich spreche nicht gern von meinem dortigen, nicht allzu langen [70] Wirken. Es hat in der öffentlichen Meinung eine harte Beurteilung erfahren; ich selbst kann nur sagen, daß ich meine Pflicht getan. Verhältnismäßig war meine Stellung eine viel zu bedeutungslose, als daß ich eine historische Rechtfertigung erwarten dürfte; aber spätere Geschlechter werden jedenfalls erkennen, wie schwer, wie unmöglich es uns überhaupt gemacht war, ersprießliche und dauernde Zustände zu schaffen. Wer Kraft entwickeln will, muß festen Boden unter den Füßen haben; auf schwankender Grundlage hat man die äußersten Anstrengungen nötig, um sich nur aufrecht zu halten. Und in dieser Lage waren und sind unsere Staatsmänner – war und ist Österreich seit langem. Das muß man erkennen, um nicht an sich selbst und anderen irre zu werden. Damals jedoch nahm ich mir die Sache zu Herzen. Ich war nicht verbittert, aber von jener Mutlosigkeit befallen, die der Vernichtung mit einer Art elegischer Freude entgegenblickt. Das dauerte jedoch nicht lange. Ich fühlte den Drang, mich aufzuraffen, und wollte fürs erste fremde, allgemein gepriesene Zustände in der Nähe besehen, wollte Vergleiche anstellen und Zusammenhänge ergründen. Ich beschloß daher eine Reise durch das eben gewordene Deutsche Reich anzutreten, um mich später nach England zu wenden, welche Absicht ich jedoch in weiterem Verlauf aufgab, indem ich es vorzog, einen stillen Winter inmitten der Kunstschätze Italiens zuzubringen.

In den Tagen, wo ich die Vorbereitungen zu dieser längeren Reise traf, hatte ich in Wien noch allerlei Geschäfte zu besorgen und zahlreiche Abschiedsbesuche zu machen; Gott weiß, wie viele Treppen ich damals hinangestiegen bin.

So hatte ich mich denn auch – es war an einem linden Februartage, die Dächer funkelten in der Sonne, und an allen Straßenecken standen Veilchenverkäuferinnen – zu kurzem Besuche in eines jener Häuser begeben, die mit einem Durchgang von der Kärntnerstraße in die Seilergasse münden, und in welchen viele kaufmännische Etablissements untergebracht sind. Als ich vom dritten Stockwerke wieder hinabstieg, kam mir von [71] unten eine schlanke Frauengestalt entgegen, die trotz des milden Wetters noch sehr winterlich umhüllt war. Auf dem nächsten Treppenabsatze trafen wir zusammen und wollten rasch aneinander vorüber – als wir auch schon beide, wie plötzlich festgewurzelt, stehen blieben. Es war Hermine, die jetzt nach Fassung rang und sich dabei mit der Hand an das Geländer hielt.

So befanden wir uns eine Zeitlang sprachlos gegenüber.

Endlich nahm ich unwillkürlich das Wort: ›Sie kennen mich also noch?‹ fragte ich.

›Wie sollte ich nicht?‹ erwiderte sie mit gepreßter Stimme. ›Es ist freilich schon lange her, daß wir – – Aber Sie haben sich nicht verändert – fast gar nicht,‹ fuhr sie fort, indem sie mich mit scheuer Aufmerksamkeit betrachtete. ›Ich jedoch –‹ sie hielt inne und wandte das Haupt ab.

Sie sah in der Tat verändert, sehr verändert aus. Sie war größer, aber auch hagerer geworden, und ein herber, scharfer Zug war in ihr Antlitz gekommen. Die Stirn trat kantig hervor, und auf den leicht eingesunkenen Wangen brannte eine hektische Röte. Und doch war aus diesen verfallenen Zügen der frühere Zauber nicht ganz entschwunden, so daß ich keine Unwahrheit sprach, als ich jetzt bewegt und leise sagte: ›O, Sie sind noch immer schön‹

Ein bitteres Lächeln zuckte um ihren Mund. ›Nein, nein,‹ sagte sie abwehrend; ›ich weiß es. Ich bin sehr krank gewesen und kann mich nicht wieder erholen.‹

›Und leben Sie jetzt in der Stadt?‹ fragte ich beklommen.

›Ja; aber nicht in diesem Hause. Ich suche hier nur meinen Bruder auf, der oben in einem Comptoir beschäftigt ist. Es ist manches über uns gekommen – und nach des Vaters Tode wurde das Haus draußen verkauft. Jetzt lebt die Mutter mit den jüngeren Geschwistern bei mir.‹

›Bei Ihnen? Sie sind also –‹ ich sprach das Wort nicht aus.

›Ja, ich bin verheiratet,‹ sagte sie, aber so schmerzlich tonlos, daß ich unwillkürlich fortfuhr: ›Und Sie sind nicht glücklich?‹ [72] Sie erwiderte nichts, brach jedoch, trotz aller Anstrengung, sich zu beherrschen, in ein heftiges Weinen aus.

Im Hause war es ganz still; nur die Tritte der Menschen, die unten den Durchgang durchschritten, klangen herauf.

Ich faßte ihre Hand: ›O warum hat alles so kommen müssen, Hermine!‹

›Warum?‹ entgegnete sie mit Heftigkeit, während sie hastig Augen und Wangen trocknete. ›Weil ich unwahr gewesen bin – unwahr zum erstenmal im Leben. Sehen Sie,‹ fuhr sie mit leiserer Stimme fort, ›schon als Kind habe ich mich niemals verstellen können, und noch heute – obgleich ich es leider jetzt selbst tun muß – vermag ich es eigentlich nicht zu fassen, daß es Menschen geben kann, die anders reden, als sie denken, und anders handeln, als sie empfinden. Ihr Brief hatte mich in Verwirrung gebracht. Ich wußte nicht, was ich beginnen sollte und wagte nicht, mich irgend jemand anzuvertrauen. Nach langem Kampfe mit mir selbst entschloß ich mich endlich, Sie in den Garten zu bescheiden. Sie sollten erfahren, daß auch ich – – Aber bis zur Stunde des Zusammentreffens lag noch ein Tag dazwischen. Meine Unruhe steigerte sich, und nach einer schlaflosen Nacht konnte ich nicht umhin, mich meiner Stiefschwester zu eröffnen, die jetzt Lehrerin an einer Mädchenschule geworden ist. Sie erschrak aufs heftigste über meine Mitteilung und beschwor mich, von einem Schritte abzustehen, der das Unglück meines Lebens zur Folge haben könne. War sie doch selbst, wie ich recht wohl wußte, von dem Manne, den sie in ihrer Jugend geliebt, getäuscht und verlassen worden. Und da ich dennoch meinen Entschluß ausführen wollte, so bestand sie darauf, mich wenigstens zu begleiten. Denn wenn ich allein erschiene, so würden Sie eine noch üblere Meinung von mir fassen, als Sie vielleicht ohnehin schon von mir hätten. Daher band sie mir auf die Seele, mich so zurückhaltend, so abwehrend wie möglich zu benehmen, wenn ich die Aufrichtigkeit Ihrer Gesinnungen und Gefühle erproben wolle. [73] Das tat ich denn auch ungeschickt genug – und alles war vorüber.‹

Ich blickte schweigend zu Boden. Diese Auseinandersetzung traf mich wie eine Anklage, die mein Gewissen aufs tiefste empfand. Dennoch sagte ich: ›Hätte ich das ahnen können –‹

›Sie haben es geahnt‹, erwiderte sie ernst. ›Aber Sie waren zu stolz, um es sich einzugestehen. Und Sie hatten ja nur recht. Weiß ich doch, wer Sie waren – wer Sie sind. Wie hätten Sie und ich jemals – – Und so ist es gut, daß alles kam, wie es gekommen – und daß mich mein eigener Stolz abhielt, Ihnen – wozu es mich drängte – eine schriftliche Erklärung zugehen zu lassen. Ich hoffte auf die Zeit – auf den Zufall, der uns wieder zusammenführen würde, hoffte so lange, bis ich Sie mit –‹ sie unterbrach sich – ›bis ich Sie in Dornbach sah. Damals, noch an demselben Abend, habe ich meinem Gatten das Jawort gegeben.‹

Ich schwieg.

›Es war mir bestimmt‹, fuhr sie düster fort. ›Aber ich werde mein Los nicht mehr lange zu tragen haben.‹

›Sprechen Sie nicht so –‹

›Ich weiß es – ich fühl' es und bin froh, Sie noch einmal gesehen und Ihnen alles gesagt zu haben. Leben Sie wohl!‹ Sie reichte mir die Hand.

›Was soll ich Ihnen erwidern, Hermine? Nur dies eine: auch ich bin nicht glücklich.‹ Dabei zog ich sie sanft an mich und küßte ihre blasse Stirn. Sie schauderte zusammen und umschlang mich dann plötzlich in leidenschaftlicher Selbstvergessenheit.

In demselben Augenblicke hörten wir, wie jemand die Treppe emporstieg. Sie riß sich los. ›Leben Sie wohl!‹ hauchte sie – und eilte hinauf .....«


* * *


»Und Sie haben sie nicht wieder gesehen?« fragte ich, da der Präsident schwieg.

[74] »Nein; ich habe sie nicht wieder gesehen. Nachdem ich aber aus Italien zurückgekehrt war, habe ich Nachforschungen angestellt und erfahren, daß sie in der Tat nicht mehr lange gelebt hat. Sie starb an einem Brustübel. Ihr Gatte, ein lebensfroher junger Mann, hat sie sehr bald vergessen.«

Eine nachdenkliche Stille trat ein.

»Es ist im Grunde eine ganz müßige Frage,« fuhr der Präsident nach einer Weile fort, »wie sich unser beider Leben würde gestaltet haben, wenn sich meine Absichten von damals erfüllt hätten. Wenn ich aber – und ich kann mich dessen nicht erwehren – zuweilen darüber nachsinne, so ist es mir, als hätte ich mich wirklich einer Schuld anzuklagen, und oft habe ich die Empfindung, daß zwischen der Toten und mir noch ein gewisser Zusammenhang bestehe. In dieser Hinsicht erschien es mir fast wie ein memento mori, als ich heute so plötzlich und unerwartet den Zettel fand.«

Dies mochte dahingestellt bleiben. Gewiß aber ist, daß auch der Präsident nicht lange mehr lebte. Er starb in einer stürmischen Märznacht, nachdem die Krankheit plötzlich zu ihren heftigsten Erscheinungen sich gesteigert und ihm das Bewußtsein geraubt hatte.

Das Leichenbegängnis des »Exzellenzherrn« war ein sehr einfaches; er selbst hatte sich letztwillig jeden Pomp verbeten. Die Wagenreihe, welche dem Sarg folgte, war kurz und die Kirche fast leer; nur in den vordersten Bänken sah man ein paar Reihen dunkel gekleideter Gestalten, die mit gleichmütigem Ernst vor sich hinblickten. Da es ein sehr unfreundlicher Tag war und von Zeit zu Zeit heftige Regengüsse niedergingen, so fuhren die meisten Anwesenden gleich von der Kirche weg nach der Stadt zurück. Nur einige wenige gaben das Geleite bis zum Friedhof und umstanden das offene Grab. Von diesen wenigen war ich einer der letzten, die weihende Schollen in die Tiefe warfen.

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 2. Teil. Der »Exzellenzherr«. Der »Exzellenzherr«. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AF91-5