[50] Lebensregel

O nie in eitlem Hochmuth sprich es aus,
Daß Dieser oder Jener nichts bedeute;
Mit deinem letzten Urtheil halte Haus:
Denn nicht so leicht ergründest du die Leute.
In Jedem schlummert eine sond're Kraft,
Vielleicht noch von ihm selber unbeachtet,
Die plötzlich sich emporhebt, geisterhaft,
Und nimmer duldet, daß man sie verachtet.
Und so geschieht es, daß oft Weisheit spricht
Aus Solchen, die wie Thoren stets erschienen,
Daß heil'ger Muth aus schwachen Seelen bricht –
Du aber stehst sodann beschämt vor ihnen.
Das heißt, wenn du nicht ganz verhärtet bist
Und fähig noch, in Reue zu entbrennen;
Wer vor der Wahrheit gerne sich verschließt,
Wird sie zuletzt auch gar nicht mehr erkennen.

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Gedichte. Gedichte. Erstes Buch. Vermischte Gedichte. Lebensregel. Lebensregel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AFB5-6