[191] An Sie

Was birgst du dich vor mir? Ich habe
In meinen Träumen schon als Knabe,
Als Jüngling schon dich oft geschaut,
Sanft deiner Nähe Hauch empfunden
Und morgens, wenn du mir entschwunden,
Mit Thränen meinen Pfühl betaut.
Wenn nächtlich unterm Sternendache
Das Rufen mir, das tausendfache,
Von Wald und Flur zum Ohre drang,
Oft fernher durch der Stürme Brausen,
Der Ströme Rauschen, in den Pausen
Vernahm ich deiner Stimme Klang.
In allem Hohen, allem Schönen
Der alten Dichtung, in den Tönen,
Mozarts und Webers hört' ich sie;
Beim Orgelklang durch die Choräle
Erscholl sie mir, und meine Seele
Trank brünstig ihre Melodie.
Doch, die du immer mich umschwebtest,
Oft fragt' ich zweifelnd, ob du lebtest,
Weil keine dir auf Erden glich.
Und, wie die wechselnden Gestalten
Des Lebens mir vorüberwallten,
In jeder, jeder sucht' ich dich.
Ich sah sie kommen, sah sie schwinden,
Und konnte nie die eine finden,
Nach der das Herz mir einzig rang –
Mein Haupt verhüllt' ich da voll Trauer
Und fühlte, wie des Todes Schauer
Durch meine Glieder eisig drang.
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Schon schwand vom Leben mir das Beste,
Verdorrend sinken seine Aeste,
Welk seine Blätter nach und nach;
Doch wieder naht, im Sturm sich wiegend,
Der Frühling, Grab und Tod besiegend,
Und neu wird alte Hoffnung wach.
Komm denn, du, die mir immer fehlte,
Braut, der ich mich im Geist vermählte!
Birg meinem Blick dich länger nicht!
Mit hohen, sehnsuchtschweren Schlägen
Klopft zitternd dir mein Herz entgegen!
Komm, daß es nicht in Jammer bricht!

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TextGrid Repository (2012). Schack, Adolf Friedrich von. An Sie. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B616-6