Der Steuermann

»Gen Süden gesteuert! Auf, zu den Rah'n,
Matrosen, auf, zu den Reffen!
Die Brigg treibt der Teufel uns auf die Bahn,
Wir konnten's nicht besser treffen!
Geschwind sie gekapert! Und ist es gethan,
[328]
So sei, ich schwör' es heilig und teuer,
Die Hälfte von dem Erbeuteten euer!«
Der Schiffsherr ruft's; mit Jubelgeschrei
Begrüßen sein Wort die Matrosen.
»Wohlauf zur lustigen Kaperei!
Weh auf der Brigg den Franzosen!«
Nur der Steuermann Tom trotzt kühn und frei:
»Was? plündern will die verworfene Rotte?
Nie soll das geschehn, beim lebendigen Gotte!«
Die Mannschaft, die es vernahm, erhub
Ein Lachen: »Ha über den Pfaffen!
Geh, Tom, und pred'ge dem Belzebub,
Nicht kümmert dich, was wir schaffen!«
»Auf!« – donnert der Schiffsherr – »kein Verschub!
Werft über Bord mir den Rebellen!«
Und flugs ihn packen die wüt'gen Gesellen.
Tom stürzt, versinkt in das schäumende Meer,
Von den Wirbeln hinabgezogen;
Ein anderer tritt an den Platz, der leer,
Und steuert den Kiel durch die Wogen;
Das Schiff fliegt hinter der Beute her;
Doch schon hat die Nacht zu dunkeln begonnen;
Nicht sieht man die Brigg; fast scheint sie entronnen.
Und es düstert tief, als ob Todesgraun
Rings über dem Meere laste;
Die Matrosen stehn bei den Segeln und Taun;
Der Schiffsherr gebietet vom Maste –
Da hören sie unten ein Rauschen und schaun,
Wie Tom, der lange versunken Geglaubte,
Aus der Flut auftaucht mit dem bleichen Haupte.
Sieh, wie empor zu des Schiffes Rand
Langsam der Schreckliche klettert!
[329]
Wie neu er tritt an den alten Stand
Und den Steurer zu Boden schmettert!
Er wendet das Ruder mit fester Hand,
Und, bange gekauert an den Borden,
Flüstern die Schiffer: »Er steuert nach Norden.«
Die Stunden schwinden; dem Grausen zu nahn
Mag keiner vor Schrecken wagen;
Und als es über dem Ocean
Aufdämmernd begann zu tagen,
Da lähmte sie alle das Graun; sie sahn
Gebirge von Eise vor sich liegen,
Die empor gleich den Mauern des Weltalls stiegen.
Doch unverwandt nach Norden blickt Tom,
Wie die Nadel an der Bussole;
Schnell treibt und schneller der Meeresstrom
Den Kiel entgegen dem Pole,
Und bald, wie von einem krystallenen Dom,
Ist oben das Schiff und rings im Kreise
Umschlossen von flutendem, berstendem Eise.
Die Schollen türmen sich riesengroß
Gleich Alpen zum Himmelsdache
Und stürzen wieder zum Meeresschoß
Hinab mit Donnergekrache;
Und bei der Blöcke Fall und Stoß,
Die wie Hagelschlossen wirbeln und stieben,
Wo sind das Schiff und die Schiffer geblieben?

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Schack, Adolf Friedrich von. Gedichte. Gedichte. 3. Romanzen und Balladen. Der Steuermann. Der Steuermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B71C-1